Willsch 29.06.2012 Bundestagsrede gegen die Schaffung einer Stabilitätsunion - im Wortlaut Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich spreche nicht für die Mehrheit meiner Fraktion, sondern für eine Minderheit. Vor allen Dingen aber spreche ich für die vielen Menschen, die uns zuschauen und die sich in zahllosen E-Mails, Anrufen und Schreiben an uns gewandt haben, weil sie Angst haben und in Sorge sind. Es sind Menschen aus der bürgerlichen Mitte unserer Gesellschaft, die uns fragen: Was tut ihr da? Sie haben Angst um ihre Ersparnisse. Sie haben Angst und sind in Sorge, dass es keine Gestaltungsmöglichkeiten in der Zukunft mehr gibt: angesichts schwindelerregender Schuldentürme, angesichts nicht mehr überschaubarer Summen an Haftungsrisiken und Bürgschaften, die abgerufen werden. Diese Sorgen sind mehr als verständlich. Ich will versuchen, so zu reden, dass die Menschen auch verstehen, worüber wir hier sprechen. Ich komme aus Hessen; das wissen Sie. Das ist die Heimat der Gebrüder Grimm. Aber auch wir in Hessen wissen, dass man aus Stroh kein Gold spinnen kann. Und wenn ein Staat langfristig über seine Verhältnisse lebt, dann gibt es am Schluss nur drei Auswege: Erstens. Die Ausgaben müssen herunter, man muss konsolidieren. "Herunter mit den Ausgaben" heißt aber eben auch, von liebgewonnenen Gewohnheiten vielleicht Abschied zu nehmen. Zweitens. Die Einnahmen müssen erhöht werden. Das kann der Staat leicht, indem er die Steuern erhöht. Drittens – davor fürchten sich die meisten –: Der Staat kann es ein bisschen lockerer angehen lassen bei der Geldwertstabilität und kann die Inflation laufen lassen. Es wird oft so getan, als ob man das steuern könnte. Das ist hochgefährlich. Ist die Zahnpasta erst einmal aus der Tube heraus, geht sie nicht mehr so leicht wieder hinein. Das ist ein furchtbar schwerer Prozess. Das sind die Ängste, die viele Deutsche in der Mitte unserer bürgerlichen Gesellschaft haben, weil sie in dieser Hinsicht schlimme Erfahrungen in unserem Land gemacht haben. Das Kernproblem an dieser falschen Schutzschirmpolitik ist, dass sie das einzig wirksame Signal gegen übermäßige Verschuldung, nämlich den Zins, ausschaltet. Wir tun so, als ob wir von politischer Seite wüssten, was der richtige Zins für Italien, für Griechenland oder für Spanien wäre. Das wissen die Anleger im Zweifelsfall besser. Wieso ist in Italien bei 7 Prozent Zins für die zehnjährigen Staatsanleihen Schluss bei der Tragfähigkeit? Bevor der Euro eingeführt wurde, haben sie das Doppelte bezahlt: 13, 14 Prozent. Die Lastquote an Zinsen, die Italien heute zahlt, ist niedriger als damals. Gleichwohl schalten wir diesen Zins aus und geraten damit in eine Zwangslage. In dieser Situation kommt das geradezu einer Erpressungssituation gleich. Im Grunde ist es eine dreifache Erpressungssituation. Am vergangenen Sonntag haben die Bundesländer ihre "Lösegeldliste" präsentiert, die sie abgearbeitet haben wollten, damit sie für die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat sorgen. Seitens der Opposition – das sage ich zu den Kollegen der Koalition – wurde uns dieser Wachstumspakt abgepresst. Dann ist noch über Bande gespielt worden, und zwar mit den potenziellen Empfängerländern. Diese haben gesagt: Den Wachstumspakt machen wir aber nur mit, wenn wir zusätzliche Zinsvergünstigungen für unsere Staatsanleihen bekommen. Sie alle haben die Erklärung von Monti gehört. Wir haben uns durch falsche Politik in diese Erpressungssituation hineinbegeben. Nach meiner festen Überzeugung gibt es nur einen Weg heraus: Wir müssen diese falsche Bail-out-Politik beenden. Zurück auf Los! Kinder, die sich im Spiel verheddert haben, sagen: Komm, wir fangen noch einmal neu an! Wir haben bereits ein gutes Regelwerk. Wir haben den Vertrag von Maastricht, der in den Mitgliedsländern der Europäischen Union durch Volksabstimmung, Zweidrittelmehrheit, was auch immer, Verfassungsrang hat. Daraus erwachsen Verpflichtungen. Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Alles, was wir im Rahmen des Fiskalpakts neu dazubekommen, ist vom Rang her weniger wert als das Recht, das bereits vorhanden ist und das wir nur anwenden müssen. Aber dazu müsste man zu den Prinzipien zurückkehren, die den bereits abgeschlossenen Verträgen innewohnen. Sie heißen: Entscheidungsfreiheit geht nur zusammen mit Eigenverantwortung. Sie heißen: Es darf kein Herauspauken von Ländern geben, die rücksichtslos und unverantwortlich wirtschaften. Sie heißen: Bei Verstößen muss es Konsequenzen geben. Wenn man die Debatte tabuisiert und sagt: "Der Euro-Raum muss so bleiben, wie er ist, keiner darf ausscheiden", dann hat man keine Möglichkeit, etwas durchzusetzen. Der Euro-Raum muss für Veränderungen zugänglich sein. Es ist falsch, die Gleichung aufzumachen, dass der Euro gleich Europa ist. Wie wird das denn unserer gegenwärtigen Ratspräsidentschaft vorkommen? Die haben momentan die Dänen inne, und die sind ebenso wie die Briten und die Schweden nicht im Euro-Raum. Sind das denn schlechtere Europäer als wir, die wir mit dem Euro bezahlen? Nein, sind sie nicht! Es wird immer wieder nach Alternativen gefragt. Unsere "Allianz gegen den ESM" hat einen europäischen Umschuldungsmechanismus als Weg vorgeschlagen. Natürlich gibt es noch andere Wege. Wir müssen uns Land für Land anschauen und dann die Probleme abarbeiten. Die EFSF wird erst 2013 auslaufen. Wir brauchen daher kein neues Schuldenvergemeinschaftungsinstrument. Gestatten Sie mir eine Bemerkung nebenbei. Wir haben uns genauer angeschaut, was es mit dem Wachstumspaket auf sich hat. Es heißt: Dafür werden Mittel verwendet, die sowieso vorhanden sind; das kostet nichts zusätzlich. Es liegen also 55 Milliarden Euro einfach so herum, die sonst für Unfug ausgegeben worden wären, oder was? Jetzt werden sie verwendet, um Wachstum zu mobilisieren. Das ist doch abenteuerlich. An dieser Stelle die finanzpolitische Verantwortung übergeben zu wollen, das ist so, als ob man den Hund zum Hüter der Wurstvorräte macht. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich sehe, dass meine Zeit abläuft. In Deutschland gibt es eine alte Redensart. Sie lautet: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Wenn es eines Belegs für die Richtigkeit dieser Redensart bedurft hätte, dann hat ihn die europäische Geschichte der letzten 28 Monate erbracht. In meiner gesamten Lebenszeit habe ich in Europa noch nie so schlecht übereinander reden hören wie in der Zeit der vermeintlichen Euro-Rettung. Deshalb appelliere ich an Sie: Wer für ein friedliches und respektvolles Miteinander in Europa ist, wer für die Zukunft unserer Kinder und Enkel und deren Spielräume ist, wer für die Herrschaft des Rechts und den Gleichklang von Freiheit und Verantwortung ist und wer uns und den uns nachfolgenden Bundestagen das Haushaltsrecht als vornehmstes Recht erhalten will, der muss bitte gegen den ESM stimmen. Ich bitte Sie darum. Danke für die Aufmerksamkeit.