Steinmeier 25.01.2009 Rede "Die Welt im Umbruch – wo steht Europa" im Rahmen der Diskussionsreihe "Reden über Europa" Berlin - im Wortlaut "Der Sturm ist in die Zeit gefahren!" - so schrieb Ludwig Uhland, als in der Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionäre Bewegungen in weiten Teilen Europas die alte Ordnung herausforderten – in Berlin nicht weniger als in Paris oder Prag. Und stürmisch waren auch die letzten Monate! Unsere Zeit erlebt Umwälzungen historischen und globalen Ausmaßes, deren Ende und Auswirkungen wir noch gar nicht übersehen können. Sie alle kennen die Chiffren, die Überschriften, die für den Umbruch und die Herausforderungen der Welt von heute stehen: die Krise auf den Finanzmärkten ist nur eine davon. Klimawandel, Ressourcenverknappung und Umweltbelastungen, Migration und Terrorismus, der atemberaubende Aufstieg neuer Mächte in manchen Regionen der Welt und Staatszerfall in anderen. Alles das fordert uns heraus! Man kann sich kaum vorstellen, dass einige uns vor gerade einmal 15 Jahren ernsthaft das Ende der Geschichte prophezeit haben. Nach der Implosion der Sowjetunion und dem Ende der Blockkonfrontation sahen sie einen Zustand voraus, in dem nur noch eine Weltmacht gestaltet. Vom Ende der Geschichte kann wahrlich keine Rede sein; eher schon von einem Ende der – vermeintlichen – Gewissheiten. Eine Gewissheit aber haben wir doch: Die großen Zukunftsaufgaben kann kein Land der Welt alleine lösen – und schon gar nicht lösen sie sich von alleine. Die Selbstheilungskräfte der Natur haben wir schon lange überfordert. Und auf die Selbstheilungskräfte von Märkten sollten wir uns nach den Erfahrungen der letzten Monate besser nicht mehr verlassen. Im Gegenteil: Es ist an der Zeit, den Trend umzukehren: einen Trend, in dem Wirtschaft und Märkte den politischen Gestaltungsmöglichkeiten davonlaufen, wie es Jürgen Habermas einmal formuliert hat. Es geht in den kommenden Monaten und Jahren darum, politische Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Globalisierung lässt sich nicht rückabwickeln. Aber der Globalisierung der Märkte müssen wir die politische Globalisierung folgen lassen. Es geht darum, verschobene Gewichte auf der internationalen Bühne neu auszutarieren, neue Akteure in eine globale Verantwortungsgemeinschaft zu führen. Ohne China, Indien, Russland, Brasilien und andere aufstrebende Staaten wird die Welt nicht mehr gestaltet werden können. Darin liegt die große Gestaltungsaufgabe unserer Zeit. Für Europa ist sie Bewährungsprobe und Chance zugleich. Und es ist richtig, wenn gesagt wird: Nur ein Europa, das mit einer Stimme und einer gemeinsamen Überzeugung auftritt, kann beanspruchen, als ernsthafter Akteur wahrgenommen zu werden. Wenn es Europa gelingt, die richtigen Antworten auf die großen Zukunftsfragen zu geben, kann es daraus aber auch neue Legitimation und Kraft schöpfen. Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen: Aber gerade das vergangene Jahr, trotz der vielfältigen Herausforderungen – dem negativen Ausgang des Referendums in Irland, dem Krieg in Georgien, dem Ausbruch der Finanzkrise – stimmt mich vorsichtig zuversichtlich, dass Europa den Erwartungen gerecht werden kann. Denn als es darauf ankam, haben wir im letzten Jahr als Europäer sehr wohl verantwortungsvoll und wirksam gehandelt! Ich gebe ja gerne zu: Auch im vergangenen Jahr war nicht jede neue Initiative der Kommission dazu angetan, das Herz der Bürger höher schlagen zu lassen. Und häufig genug wurden unterschiedliche Interessen der 27 deutlich und öffentlich! Das ist dann Anlass für inszenierte oder manchmal vielleicht ehrliche Entrüstung. Liegt nicht hier eines der vielen Missverständnisse Europas? Niemand war bei Gründung der Europäischen Gemeinschaften so naiv, dass er glaubte, alle Unterschiede in Tradition, Sichtweisen und Interessen seien aufgehoben. Der zivilisatorische Fortschritt Europas liegt doch darin, dass Unterschiede – nach Jahrhunderten des Krieges – friedlich zum Ausgleich gebracht werden. Einigkeit steht deshalb häufig erst am Ende, nicht am Anfang eines Prozesses! Schaut man durch diese Brille, so hat sich bei den großen Herausforderungen des vergangenen Jahres der europäische "common sense" behauptet. Erstens: bei der Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese hat, wie wir wissen, ihren Ursprung nicht in Europa. Aber als die Krise im Herbst 2008 eine neue Dimension erreichte, gingen die entscheidenden Impulse zur Rettung des Finanzsystems von Europa aus. Und es waren europäische Beiträge, die maßgeblich die Ergebnisse des ersten Weltfinanzgipfels in Washington prägten. Zweitens: bei der Bewältigung des Klimawandels. Unter deutscher Präsidentschaft haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt, mit der Reduktion von Treibhausgasen und dem Ausbau erneuerbarer Energien die EU zum weltweiten Vorreiter beim Klimaschutz zu machen. Und Europa hat Wort gehalten. Im Dezember letzten Jahres haben wir – inmitten der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise und entgegen mancher Erwartung – die ehrgeizigen Ziele konkret und verbindlich umgesetzt und damit Maßstäbe gesetzt für die Kyoto Folgekonferenz Ende des Jahres in Kopenhagen. Drittens: die EU ist in den vergangenen Monaten auch in außenpolitischen Fragen und Krisen ihrer Verantwortung gerecht geworden. Und ich meine nicht nur den Gasstreit! Den aber auch: Europa hat hier erfolgreich Krisenmanagement betrieben. Aber vielleicht noch wichtiger: die Mitgliedstaaten haben unter Beweis gestellt, dass Solidarität in der EU mehr ist als nur ein Schlagwort. Indem sie sich untereinander geholfen und Gasreserven zur Verfügung gestellt haben, konnten die Folgen der Versorgungskrise für die Hauptbetroffenen gelindert werden. Und schließlich: als im vergangenen Sommer im Südkaukasus, gleich in unserer Nachbarschaft, ein veritabler Krieg ausbrach, da war es die Europäische Union, die die Waffen zum Schweigen gebracht hat. Ich denke, das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Sie wäre nicht denkbar gewesen ohne die tatkräftige französische und jetzt auch tschechische Ratspräsidentschaft. Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit können wir uns dennoch nicht leisten. Kompetentes Krisenmanagement reicht nicht. Unser Anspruch ist größer. Wir müssen Beispiel geben in der Welt. Sie werden jetzt zu Recht fragen: Was hat Europa der Welt zu bieten? Sein relatives Gewicht in der Welt schwindet. Seine Werte werden in Frage gestellt. Seine Bevölkerung schrumpft. Aber lassen sie mich als jemanden, der ein wenig herum kommt in der Welt, versichern: Die Attraktivität Europas außerhalb seiner Außengrenzen ist ungebrochen. In Asien, in Lateinamerika – überall werden Formen regionaler Kooperation angestrebt, die Europa zum Maßstab nehmen. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass eines der schönsten Bücher über unser Bemühen der letzten 50 Jahre aus amerikanischer Feder stammt. Wenn Sie "Der europäische Traum" von Jeremy Rifkin lesen, werden Sie manche Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit in diesem Europa neu bewerten. Europas politisches Kapital ist noch immer beträchtlich. Und es liegt in Bereichen, auf die es gerade in der Welt von morgen ankommt. Erstens: Die Kraft der europäischen Idee. Europa hat vorgelebt, was auch in der Ordnung der neuen, zusammengerückten Welt unerlässlich sein wird: Das friedliche Zusammenleben über einstige Grenzen hinweg. Verständigung und Zusammenarbeit auf der Basis der Gleichberechtigung. Den friedlichen Ausgleich von Interessen. Die Vorherrschaft des Rechts. Das Bemühen um soziale Gerechtigkeit – diese europäischen Grundorientierungen taugen auch als Bausteine für die Ordnung der Welt von morgen. Zweitens: Glaubwürdigkeit. Europa steht auch jenseits seiner Grenzen für seine „Markenzeichen": Kooperation, Solidarität und Ausgleich. Europa denkt nicht in den Kategorien des Hinterhofs, des "cordon sanitaire" der "Zonen erweiterter Einflussnahme" oder wie die Stichworte der gescheiterten Großmachtpolitik des vergangenen Jahrhunderts auch heißen. All das wird außerhalb Europas mehr geschätzt, als wir es innerhalb Europas wahrnehmen! Mit diesem Kapital lässt sich arbeiten. Aber Stillstand können wir uns nicht leisten. Die größer gewordene EU braucht neue Arbeitsgrundlagen, straffere Entscheidungsfindung, klarere Verantwortlichkeiten. Das wollten wir mit dem Vertrag von Lissabon erreichen. Im vergangenen Jahr ist das Referendum über den Vertrag in Irland gescheitert. Im Dezember haben wir gemeinsam mit unseren irischen Freunden die Voraussetzungen für ein neues Referendum geschaffen. Ich bin zuversichtlich, dass der Vertrag noch in diesem Jahr in Kraft treten kann. Das ist eine der Chancen, die das Jahr 2009 bietet. Eine andere Chance dieses Jahres liegt auf der Hand – am Ende einer Woche, die uns die beeindruckenden Bilder von der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Obama brachte. Die neue Außenministerin Hillary Clinton hat mich an ihrem ersten Arbeitstag im neuen Amt angerufen, und nach dem Gespräch bin ich mir sicher: Die Weichen für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Europa und Amerika, für eine "Neue Transatlantische Agenda" sind gestellt. Themen gibt es genug: Die globale Verantwortung für Energie und Klima, die Stabilisierung von Konfliktregionen, die gemeinsame Sicherheit von Ost und West – auch ein scheinbar verstaubtes Thema wie Abrüstung. Keine der großen Zukunftsfragen darf auf der Agenda fehlen. Keine ist ohne die USA zu lösen – aber jede ist besser zu lösen, wenn Europa und Nordamerika am gleichen Strang ziehen. Europa ist keine Großmacht! Aber machen wir uns nicht kleiner als wir sind! - Europa hat 500 Millionen Einwohner. - Es ist der größte Binnenmarkt der Welt. - Wir blicken auf über 50 Jahre Frieden und Ausgleich zurück. - In Europa ist nicht alles vollkommen: aber es ist auch die Weltregion mit den geringsten sozialen Verwerfungen. "Mit solchen Bausteinen muss man viel und sehr hoch bauen"" So sagte Javier Solana, das Gesicht unserer Außenpolitik, einmal. Europa hat allen Grund, das selbstbewusst zu versuchen.