Steinbrück 29.09.2008 Regierungserklärung zur Lage der Finanzmärkte - im Wortlaut Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, ja Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in unserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich: Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgt aus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirt­schaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das für mich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meiner Regierungserklärung zwei wichtige Feststellungen treffen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenmanagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps des Weltfinanzsystems gekommen - und das, obwohl wir in den letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitere Zuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehn­ten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben. Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbeben in der internationalen Finanzarchitektur mit unvorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihe von Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher Wertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimension von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind. Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Milliarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind da­rüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrunds geraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufge­deckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle ha­ben. Ich habe in einer Regierungserklärung zur Lage auf den Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt, was ich gerne wiederholen möchte: Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Welt und zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernsthaften Finanzmarktkrise zu tun haben. Sie wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist kein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch nicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für die weltweite Konjunktur und die weltweite Wachs­tumsentwicklung sind nicht zu übersehen. Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risi­ken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrise wird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanz­system tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täu­schen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor dieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweit auf niedrigere Wachstumsraten und - zeitlich verscho­ben - auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Ar­beitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krise sind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mir höchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht ab­rupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanz­system wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktwelt werden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, ins­besondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil haben wie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmo­dell - übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüber dem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr über­legen erwiesen hat. Seit dem Platzen der Immobilienblase - Sie erinnern sich an den Sommer letzten Jahres - sind vier Erschütte­rungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystem gerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von der US-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei Bear Stearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleich­zeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für die IKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert wer­den, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanzplatz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen. Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschrei­bungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätseng­pässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgeber einspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sich die Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds inner­halb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat. Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondere Schweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisieren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zu tun, sondern wir wären tief drin. Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank, die Fed, Bear Stearns - nach den größten Marktpreisver­lusten, die es je in einem Monat gab -, und in diesem - ich nenne es so - schwarzen September 2008 geht schließlich die viertgrößte amerikanische Investment­bank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, in die Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößte Versicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit 85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wie zuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Mae und Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als das alles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem un­glaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar das größte Rettungsprogramm in der Geschichte der interna­tionalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt in die USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser des Kongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischen Regierung umgehen. Die steht unter einem erheblichen Zeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislatur­periode werden beide Häuser morgen tagen. Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 Billion US-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen. Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenn die amerikanische Regierung Hypotheken von Fannie-Mae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ich will darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaß ist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefähr zwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die in­zwischen entweder pleite gegangen sind, aufgekauft wor­den sind, verheiratet worden sind oder schlicht und ein­fach verschwunden sind - 24 Finanzdienstleister. Bis vor einem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, viel­leicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es da keine mehr. Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeld bereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mit dem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben. Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler in den USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den 1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetat für die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, die wir in den letzten Monaten geführt haben, in eine grö­ßere Balance. Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regie­rung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Be­lastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliar­den Pfund zu tun haben wird. Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht rasch vorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Not­übernahmen und Quasiverstaatlichungen - und das in den USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer laut­stark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung - oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA - darauf lege ich gesteigerten Wert - sind der Ursprung der Krise, und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht Europa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutsch­land. Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwür­dige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben. Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließend durch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort nahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dort aus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Öltep­pich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in Richtung Europa, wenngleich das Volumen der bislang bekannten Verluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen ver­gleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeu­tungsweise schon genannt habe. Dennoch: Auch namhafte europäische Banken mussten milliardenschwere Wertberichtigungen vorneh­men, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel Credit Agricole in Frankreich, Societe Generale in Frankreich und - sehr stark getroffen - UBS in der Schweiz mit Ver­lusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar. Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größten Verluste. Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganz Europa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ich jetzt gar nicht benennen will. Was heißt das alles für Deutschland? Der deutsche Bankensektor wird von den krisenhaften Entwicklun­gen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nicht nur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesban­ken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass aus­schließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Ban­ken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alle drei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Un­terschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Ge­schäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unter den Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihre Ertragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklung sehr viel besser verkraften können als die von mir zuvor genannten Institute. Zum Glück halten sich die Engagements deutscher Banken bei Lehman Brothers in einem überschaubaren Rahmen und sind nach Aussage der BaFin und auch nach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge al­lerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in den USA, den ich schon genannt habe, die AIG, von der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Zentralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wir sehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutsche und europäische Institute dort versichert haben. Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulen­system im internationalen Vergleich relativ robust ist. Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich si­cher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risiko­tragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verluste auszugleichen und die Sicherheit der privaten Erspar­nisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesem Bereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panik auslösen. Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutsch­land in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unter­nehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen an­gewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sich verschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kre­ditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus. Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, die meine Abteilung für Agitation und Propaganda aufge­schrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzung des Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Einschätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beiden Koalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen im Originalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber, hören. Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemme gekommen ist, haben wir - das will ich unterstreichen - wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken. Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008 mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegeben als im ersten Halbjahr 2007. In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich, dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossen­schaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das anglo­amerikanische Trennbankensystem mit seiner überzoge­nen Renditefixierung war und ist. Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstel­lung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt es sich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfris­tige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der aus­schließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen und auf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weiten Teilen unseres Bankensystems entzogen. Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen und Herren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kom­mission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigen sollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstel­lungen gibt. Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tages im Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigen ordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffent­lich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffent­lich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohl­fahrtsverbände stehen könnten. Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann lautet die Standardantwort, die US-Hypothekenmarkt­krise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klare Ursprung der gesamten Entwicklung. Einige weisen auch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen An­schlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgung mit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in den USA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig. Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursa­chen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverant­wortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips ge­rade im angloamerikanischen Bereich. Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hin­blick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Re­gulierungen möglichst vollständig befreites Spiel der Marktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Ver­treter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst den Markt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sich der Staat heraushält und auf Regulierungen vollständig verzichtet. - Der kurzfristige - vielleicht sollte ich bes­ser sagen: kurzsichtige - Erfolg in Form zweistelliger Renditen und milliardenschwerer Boni für Investment­banker und -manager schien ihnen recht zu geben. Da­rauf wollte man weder in New York noch in London ver­zichten. Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lö­sungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeb­lich unter ihrer G7-Präsidentschaft angestellt hat, wur­den während dieser Präsidentschaft, aber auch während unserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt, wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deut­sche Regulierungswut abgetan. Von angloamerikanischer Seite wurde das dortige System mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten. Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf die möglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt. Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Imple­mentierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregeln sehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlich das Copyright darauf hatten. Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt, während die europäischen Banken es zum 1. Januar die­ses Jahres taten. Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrer langen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung der Financial-Stability-Assessment-Programme beim IWF eine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten. Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders als zum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbanken nicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Dies ändert sich jetzt gerade. Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meis­ten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanz­aufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzauf­sicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischen Kollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehr ambitionierten Reformanstrengungen ist. Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte Sys­tem bricht gerade zusammen - nicht nur mit weitrei­chenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auch mit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrige Welt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zu sein, meine Damen und Herren, dass sich ein System, das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet hat, letztlich seine eigene Antithese schafft. Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislauf­problemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarkt­krise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zual­lererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazu müssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabi­lisiert werden, die in Stresssituationen nur noch einge­schränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der in den letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hat die US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaß­nahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße - jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Ver­gangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, da sie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmark­tes und damit Schlimmeres auch für andere Länder und Regionen zu verhindern. An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte 700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungspro­gramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbe­zogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen, ist das eine riesige nationale "Bad Bank", die dort in den USA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings der amerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Finanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Inno­vationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehr froh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlich niedriger belastet worden ist und auch belastet wird. Die Kosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwie­rigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weit­aus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaft entstanden wären, wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hät­ten. Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigt ein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der sei­nerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise. Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das damalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regie­rung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikani­schen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt machen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes. Ich habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird nie wieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gab es noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die In­vestmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley. Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wir als Universalbank bezeichnen würden. Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei den US-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers, bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versiche­rungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwä­gungsproblem wider, das auch wir in Deutschland ken­nen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor der schwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funk­tionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite und der Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstüt­zung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite. Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist es selbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beide Richtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjeni­gen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pionierge­winne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu ermöglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben, auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenn diejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismus bestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dass andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Staatliche Autoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Un­gewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis. Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr später schlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teil­weise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es er­lebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen für den gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Markt­teilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss - von solchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dass der Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mit frischem Geld schon bereitstehen und intervenieren - will sagen: das Schlimmste verhindern - und somit das riskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasi im Nachhinein noch belohnen. Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA für ihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertes Vorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA haben nicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann einge­griffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendig war, sondern auch um die Wahrnehmung von Verant­wortung für das weltweite Finanzsystem ging. Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktio­nen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer ge­wissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheilig­keit. Da werden im Fall der USA die milliarden- und billio­nenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Be­leg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement und Handlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutsch­land werden dagegen die eingesetzten Steuergelder und die Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundes­regierung als Versagen des Staates beklagt. Das ist eine gewisse Beliebigkeit. Da wird mein amerikanischer Kollege "Hank" Paulson als "King Henry" - ich gönne ihm das von Herzen - auf dem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Da­mit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleiches widerfahren. Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausflu­ges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbil­der. Was ich aber einfordere oder - das ist etwas beschei­dener - erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit und etwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskus­sion. Das, was die Amerikaner im Großen machen, haben wir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Ver­legenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Lan­desregierungen in ihren Verantwortungen, was die Lan­desbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seine indirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfW bei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei uns anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, das die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in Europa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das ist der Grund dafür gewesen, warum wir im Namen der Bundesregierung über dieses Wochenende - bis hin zu einer großen Telefonkonferenz der G7-Finanzminister und Notenbankgouverneure - für Deutschland die Über­nahme eines solchen Programms und die Beteiligung ab­gelehnt haben. Das bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätig ist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, die Aufsichtsbehörde BaFin und die Deutsche Bundesbank stehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligen internationalen Partnerbehörden und den Spitzen der deutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement in Deutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das, was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagt habe: Ich bedanke mich namentlich bei der Deutschen Bundesbank und der BaFin - an ihrer jeweiligen Spitze bei Herrn Weber und Herrn Sanio - für das bisher ent­wickelte Krisenmanagement. Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigsten Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Mei­nungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dies zu einem Krisengipfel hochstilisiert - mein Sohn würde "hochsterilisiert" sagen - wird. Vielmehr ist es ein ganz normales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lage ist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben. Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertretern von Banken und Versicherungen insbesondere auf mei­nen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Wa­shington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmen des G7-Finanzministertreffens und des IMFs all diese Themen auf der Tagesordnung stehen. Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement ge­hört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zahlungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegen­über der Lehman Brothers Bankhaus AG hier in Deutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenma­nagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mit anderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schritt vollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortiges Verbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unter­nehmen der Finanzbranche erlassen. In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie das zukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ich meine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht ge­nerell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabreden sollten. Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in den und gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteuren massiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzu­gewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur ein Krisenmanagement zu entwickeln. Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen - das wird nicht reichen. Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einen müssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum an­deren geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähn­lich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden - ohne genau zu wissen, wie diese aussieht. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Fi­nanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf die­sem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zu verhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu be­grenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nicht allein durch moralische Appelle gegen exzessive Über­treibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Eine wirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krise kann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflich­tungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanz­marktindustrie liegen. Das reicht nicht. Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierung auf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend der nationalstaatlichen Reichweite entzieht. Dabei müssen wir - das ist eine weitere häufig in Ver­gessenheit geratene Nachricht - keineswegs bei Null an­fangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fort­schritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt - das sei mit einem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Über­zeugung gesagt - das Verdienst dieser Bundesregierung. Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanz­ler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel in Gleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung gesetzt hat. Aber wir waren es, unter unserer G7- und EU-Präsi­dentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die interna­tionale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg, dass in einem mühsamen Lernprozess internationale Gremien jetzt - natürlich in dem Entsetzen über die Fi­nanzmarktkrise - weitreichenden Maßnahmen zur Kri­senprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebig auch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, um Krisen dieser Art zukünftig zu vermeiden. Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wenn Experten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täg­lich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüber anstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnah­men an, die wir beschlossen haben. Das ist die Herausforderung. Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigung der derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigen­kapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kon­traproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institute in den Orkus werfen würde. Sauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wir sie mit dem regulatorischen Besen von oben nach unten kehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnah­men notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächsten Ebene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Europa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatli­cher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationaler Ebene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungs­schritten vollziehen müssen. Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulen­zen hat Deutschland im September 2007 das Forum für Finanzmarktstabilität - das ist das Financial Stability Forum - gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen, sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnli­che Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mir war wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapitalanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditäts- und Risikomanagements, einer Erhöhung der Transpa­renz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturen kommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlich eine wenig rühmliche Rolle gespielt haben. In meinem Schreiben an meinen japanischen Amts­kollegen, der den Vorsitz der G7-Finanzminister An­fang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Be­reiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiter ausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenka­pitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystem vorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht, dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischen Notenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Stability Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nur vorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlos­sen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerika­nischen Freunde. Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungen gute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dies während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm weiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Ter­minen gewesen. Die vom Financial Stability Forum aus­gearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend um­gesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zum Beispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken, die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liqui­ditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschuss sowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ra­tingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt. Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird von Externen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber. Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungen geht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Ba­seler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Be­rechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch der Banken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekün­digt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkung der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte struktu­rierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckge­sellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäische Bankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beraten werden müssen bei der Übertragung in nationalstaatli­ches Recht. Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt ha­ben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierte Produkte außerhalb der Bilanzen geführt haben. Die Hauptanstrengung geht dahin - ganz banal ausgedrückt -, ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern dieses Engagement in die Bilanzen zurückzuholen mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterle­gungen notwendig sind. Das ist die disziplinierende Klammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtiger umzugehen. Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Washington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichen Bericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlung des Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitig werden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergrif­fen werden müssen, unter anderem durch eine verbes­serte Zusammenarbeit des Internationalen Währungs­fonds und des Financial Stability Forums im Sinne einer Art Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagen haben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht bei dem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr rich­tig erkannt und beschlossen haben. Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutsch­land schon seit einigen Monaten energisch und erfolg­reich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. Nach Ausbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hat der ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitspro­gramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität be­schlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap ent­hält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen der internationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesen Maßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanz­märkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagement zu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu erhöhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und das Risikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über den Finanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vor­lage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind, diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollzie­hen. Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt es Fortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen der Aufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memo­randum of Understanding zwischen den europäischen Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministe­rien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaft beschlossen worden. In Deutschland - um jetzt auf die nationale Ebene zu kommen - hat das dreisäulige Universalbankensystem wichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich sagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den interna­tionalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wir dankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschen Bankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie es Mark Twain einmal formuliert hat, bei schönem Wetter Regenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regen­tropfen wieder zurückhaben wollen. Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichti­gen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen und auch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zu­sammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsanker und angesichts der extremen Nervosität auf den Märkten kann ich der EU-Kommission nur dringend raten, das laufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwor­tung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten auf den Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt. Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken alles beim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Wer es bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spä­testens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt, dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesban­ken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit entspricht. Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsoli­dierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zu definieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hohe Risiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften ver­meiden - ich habe nie verstanden, warum das ihr eigent­liches Geschäft sein sollte -, nachhaltig angemessene Erträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leis­tungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützen können. Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesban­ken in Deutschland. Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefor­dert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwin­den und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssen öffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppe und damit das deutsche Bankensystem insgesamt nach­haltig zu stärken.Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alle Beteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen. Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Lan­desbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu er­warten. Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die Anteilseigner oder - als Großväter - immer noch die Gewährträger dieser Institute sind. Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringen und um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanzinvestitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschaft einhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundes­regierung vor einigen Monaten das sogenannte Risiko­begrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Dies ist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letz­ten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen aus­führen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehr dankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlichen inhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgeset­zes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumenten­schutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzes sowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigten und ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten und Informationen weitergegeben werden, die ihnen mehr Sicherheit für ihren Arbeitsplatz geben. Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschöni­gen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanz­krise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den Super-GAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhin­dern konnten. Niemand - kein Ökonom, kein Finanzmi­nister, kein Zentralbankchef dieser Welt - wird Ihnen mit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mit dieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müs­sen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende des Tunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichter des entgegenkommenden Zuges sind. Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgrei­chen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen in der Politik und in den drei Säulen des deutschen Banken­systems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Dis­kussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen man versucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerbers kurzfristige Geländegewinne zu erzielen. Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung des deutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert. Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräf­ten durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig das globale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur im Interesse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr noch im Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Men­schen in unserem Land. Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen: Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nicht mehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war. Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrott­erklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in den letzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapita­lismus neue "Verkehrsregeln" brauchen, wie Helmut Schmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf auf­merksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr Verkehrsregeln haben, aber für die internationalen Fi­nanzmärkte nicht. Diese neuen "Verkehrsregeln", an denen wir im G7 wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten, können nur handlungsfähige staatliche Institutionen schaffen und durchsetzen, die sich international koordi­nieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Fi­nanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sich zu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Fi­nanzmärkten sehnen. Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von Herrn Röttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialen Marktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärken könnte. Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärk­ten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung, aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit und Aktualität von staatlichem Handeln, das den Märkten Spielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss. In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsver­sagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ich weiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln kei­neswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu we­nig über Marktversagen geredet. Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Aus­wirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade. Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simple Glaube an den wettbewerblichen Markt wird der Aufgabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft so zu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst kri­senfreien Wachstum teilhaben können. Staatliche Institutionen müssen im internationalen Verbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihre Einhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesen Rahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier und Kurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Ge­sellschaft. Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialer Marktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neolibe­ralismus und jedem Neoetatismus. Neue "Verkehrsregeln" für den Finanzmarkt sind notwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich mit einigen Punkten zum Schluss kommen. Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risi­ken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanz platziert werden können; davon sprach ich schon. Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können - das ist prägend für das Bankengeschäft -, aber nur sol­che, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt und in der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenz schützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutet nicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aber es bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auch den Prozess ihrer Entstehung. Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorge bei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Mangel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität ha­ben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, die keine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weil ihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gege­ben wird. Drittens. Es muss internationale Standards für eine stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Fi­nanzmarktakteure geben. Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zu­sammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen. Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit dem wahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen - ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten muss klar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzie­len lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risiken eingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlich beschädigt werden. Ein solches Renditerennen führt früher oder später zum Zusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten an­derer geht. Es ist schizophren, wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern, ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichti­gen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabe der Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmend variable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volu­men der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, so lange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sie weiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu ak­quirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergü­tungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sie den Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sich damit gleichzeitig an den Hals ziehen. Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusam­menarbeit zwischen dem Financial Stability Forum und dem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augen sollte der IWF - er ist neben der Weltbank die letzte In­stitution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblie­ben ist - die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltwei­ter Finanzmarktstandards werden. Wir haben diese Institution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrer traditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein biss­chen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle welt­weiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabe für diese bestehende, geachtete Institution. Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabi­lität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam auf internationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativer Leerverkäufe kommen. Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusst­sein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich bei dem bevorstehenden G7-Treffen in Washington dafür einsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen, von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und da­mit weitergereicht werden können. Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, die aber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte das veräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig im­mer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisiken in den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigt sein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzu­reichen. Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Part­nern für eine weitere europäische Harmonisierung der Aufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glau­ben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einem Urknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffen könnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben, gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolu­tionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, was wir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges of Supervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht in zehn Jahren eine gemeinsame europäische Institution ähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Ei­nige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis: Es ist die EZB. Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situation nicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die er­kennbar übers Knie gebrochen wurden. Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähnten Punkte, die im Wesentlichen "Verkehrsregeln" enthalten, dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nicht die Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist. Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungen bezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichen Haushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bun­desbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aber ich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, die sich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirken werden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspar­tes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaft gezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sind nicht zu ignorieren. In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte da­von betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Faktoren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate und sehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegt vornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmark­tes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuerein­nahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher - jeden­falls im laufenden Jahr - sind diese Steuereinnahmen von diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht berührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitäten sind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachs­tumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Ar­beitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in den letzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wie flexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sich die Rahmendaten wieder etwas verbessern. Wir sind immer noch, aber immer weniger von der Entwicklung in den USA abhängig. Andere dynamische Weltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass die deutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter in der Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Ein­schlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängiger sind. Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierung erfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt Anfang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehe jemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilen zu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibe­halten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eck­punkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letzten drei Jahren gut gefahren. Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatun­gen haben und auch manche Wunschzettel oder eilfertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundes­regierung, die Konsolidierung fortzusetzen, die automatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, ge­genfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu täti­gen, bleibt richtig. Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren für einen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je: Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augen­maß. Vielen Dank für Ihr Zuhören.