Fischer 01.07.2005 Bundestagsrede zur Vertrauensfrage des Bundeskanzlers - im Wortlaut Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, hätte sich gewünscht, dass die Koalition das Mandat der Wählerinnen und Wähler, das wir mit der erfolgreichen Bundestagswahl 2002 bekommen haben, im Interesse und zur Erneuerung unseres Landes voll erfüllen hätte können. Gleichwohl ist es die Entscheidung des Bundeskanzlers als Institution und als Person - so ist es in Artikel 68 des Grundgesetzes vorgesehen; ich füge hinzu, dass dies auch die politische Entscheidung unseres Koalitionspartners ist -, die Vertrauensfrage zu stellen, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass seine Mehrheit in diesen schwierigen Zeiten nicht mehr voll belastbar ist. Die Deutschen wollen jetzt wählen. Deswegen müssen sich jetzt alle Entscheidungen darauf konzentrieren, dass es nicht zu einer Hängepartie, sondern zu der von beiden Seiten des Hauses gewollten neuen Legitimierung - wie immer sie auch ausfallen mag - einer Politik der Erneuerung unseres Landes kommt. Darüber müssen wir dann im Wahlkampf politisch streiten. Große Worte waren heute zu hören. Von der "Schmalspuragenda" sprach ein Schmalspurpolitiker. - Das gefällt Ihnen nicht. Peinlich ist es, die Agenda 2010 angesichts der Widerstände, mit denen wir es bei der Erneuerung unseres Landes zu tun haben, als Schmalspuragenda zu bezeichnen. Peinlich war Ihre Rede. Sie wollen Vizekanzler und Frau Merkel möchte Kanzlerin werden, ohne auch nur ein Wort zu den zentralen Punkten der Alternativen - um die geht es ab heute, wenn Sie Ihr Misstrauen ernst nehmen - gesagt zu haben. Das begrenzt sich dann auf die Aussage, eine Politik aus einem Guss machen zu wollen. Das ist ein alter Hut; das alles haben wir schon einmal gehört. Wo, bitte, bewegt sich diese Politik aus einem Guss? Zwischen Bierdeckelsteuerreform, Kopfpauschale und Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung. Es wäre für die Deutschen interessant gewesen, das heute einmal zu hören. Das sind die Alternativen, die Sie ihnen vorschlagen. Es ist doch völlig klar: Sie wollten Rot-Grün nicht - und dies nicht nur aus politischen Gründen. Es hat Ihnen auch nicht gepasst, dass eine demokratische linke Mehrheit, die sich auch auf die 68er-Bewegung bezieht, von den Deutschen gewählt wurde. Das ist doch der entscheidende Punkt. Dieser Unterschied besteht nach wie vor. Darüber werden Sie nicht hinwegdiskutieren können. Diese Koalition hat allen Grund, stolz auf das zu sein, was wir erreicht haben. Liebe Freundinnen und Freunde, ich sage das bewusst an die Koalition. Diese Koalition war noch nicht gebildet worden, da wurden wir in das Kanzleramt gerufen - ich werde das nie vergessen; Gerhard Schröder war gewählt; wir hatten vereinbart, dass wir eine rot-grüne Koalition bilden wollten - und hatten zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland über Krieg und Frieden zu entscheiden. Das waren Entscheidungen, die uns alles andere als einfach gefallen sind. Aber wenn ich zehn Jahre nach den Vorfällen in Srebrenica zurückschaue und die Erfahrungen, die wir im Hinblick auf Mazedonien gemacht haben, betrachte, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben die Verantwortung, vor die unser Land nach dem Ende des Kalten Krieges gestellt wurde, nicht nur wahrgenommen, sondern im Interesse von Frieden, Freiheit und Menschenrechten auch entsprechend umgesetzt. Das waren schwere Auseinandersetzungen; ich weiß, wovon ich rede. Frau Merkel, Sie machen es sich zu einfach. Sie werden sich täuschen, wenn Sie meinen: Das interessiert die Leute nicht. Gegenwärtig kommen Sie mir mit Ihren Umfragen wie ein wunderbar anzuschauendes Soufflee im Ofen vor. Wir werden sehen, was von der Größe in den letzten drei Wochen tatsächlich übrig bleibt, wenn der Souverän da hineinpikst. Da bin ich sehr gespannt. Wir waren der Meinung, ein Eingreifen in Serbien musste sein. Wir konnten Milosevic nicht länger zuschauen; wir mussten ihm in den Arm fallen. Wir waren der Meinung: Wir mussten Soldaten nach Afghanistan schicken. In einem bestimmten Punkt trennten sich aber die Wege. Für uns geht Bündnisloyalität nicht vor Vernunft. Im Hinblick auf den Krieg im Irak waren wir nicht überzeugt; Sie waren da völlig anderer Meinung. Es ist peinlich, Frau Kanzlerkandidatin, dass Sie sich nicht trauen, jetzt in die USA zu fahren; sonst war das nicht so. Sie haben Ihre Reise doch abgesagt. Bei uns wurde von amerikanischer Seite nachgefragt, warum Sie diesmal nicht kommen. Fürchten Sie etwa die Bilder angesichts der Probleme, die die USA im Irak haben? Um solche Fragen geht es. Darauf wollen die Deutschen Antworten von Ihnen. Schmierstoff - was man bei diesem Wort doch für Assoziationen hat! Zuerst fällt mir Pfahls ein. Er war Staatssekretär, allerdings nicht unter Gerhard Schröder, sondern in der Regierung, in der auch Sie waren. Dann fallen mir Herr Kanther und Frau Agnes Hürland-Büning ein. Ich hatte die Ehre, auch sie noch kennen zu lernen. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie mögen zwar für sich beanspruchen, die bessere Alternative zu sein. Aber Sie sollten nicht auf dem hohen moralischen Ross dahergetrabt kommen; denn angesichts der Schmiergeldaffären, die Sie zu verantworten haben, wäre es ein schändlicher Esel! Die Demographie kommt nicht über Nacht. Vielmehr ist uns die Bevölkerungsentwicklung Jahrzehnte im Voraus sehr genau bekannt. Ich erinnere mich noch, dass ich, als ich noch in der Opposition war, jahrelang von Norbert Blüm und Helmut Kohl gehört habe: "Die Rente ist sicher." Es war doch Walter Riester, auf den Sie eingedroschen haben bis zum Gehtnichtmehr, der angesichts der Herausforderungen der Demographie - dass wir, Gott sei Dank, immer älter werden - eine historische Reform durchgeführt hat. Es war Walter Riester, der eine zweite Rentensäule eingeführt hat. Gott bewahre, aber Sie werden noch froh sein, dass wir das getan haben! Was haben Sie getan? Fehlanzeige. Es hieß immer nur: "Die Rente ist sicher." Das gilt auch für die notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben die Bundesanstalt für Arbeit doch nicht erfunden, sondern wir haben sie vorgefunden, und wir haben auch keine Pläne in der Schublade entdeckt, als wir unsere Arbeit aufgenommen haben. In Richtung beider Koalitionsparteien sage ich: Ich weiß, wie schwer es ist, das zur Kenntnis zu nehmen; aber es war nicht unsere Absicht, unsere eigenen Wählerinnen und Wähler zu vertreiben. Der eine, der 1999 stiften gegangen ist, ist aber nicht wegen des Kosovo-Krieges stiften gegangen, sondern deshalb, weil der Haushalt - bei einem Spitzensteuersatz von damals 53 Prozent - nicht mehr aufzustellen war. Deswegen ist er damals stiften gegangen. Diesen Kritikpunkt kann ich nachvollziehen; denn ich gehöre nicht zu denjenigen, die, wie es Herr Westerwelle in engster Schmalspur getan hat, sagen: Wir haben keine Fehler gemacht. Wo Menschen agieren, auch in der Bundesregierung, werden Fehler gemacht. - Nur Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, machen keine Fehler, Sie sind der Fehler. In unserem ersten Regierungsjahr - das gebe ich zu - wurden Fehler gemacht. Aber eines war völlig klar: Wenn wir die Menschen wieder in Lohn und Brot bringen wollen, müssen wir einen aktivierenden Arbeitsmarkt schaffen. Ich bekenne ganz offen: In diesem Wahlkampf haben wir das Problem, dass die aktivierenden Teile unserer Reformen erst langsam zu wirken beginnen. Gleichzeitig aber - das steht derzeit im Vordergrund; darauf komme ich später noch zu sprechen - fühlen sich die Menschen bedrängt und bedrückt und sehen, dass ihre Einkommen gekürzt werden. Dazu sage ich Ihnen: Die fünf Millionen Arbeitslosen, die Sie ständig anführen, hätte es schon unter der Verantwortung von Helmut Kohl gegeben, wenn die Sozialhilfeempfänger bereits damals einen Vermittlungsanspruch gehabt hätten; das wissen Sie ganz genau. Zu den jungen Alleinerziehenden sage ich: Ich selbst kenne Fälle wie den, dass eine Alleinerziehende mit zwei Kindern tatsächlich ihren Job als Rechtsanwaltsgehilfin aufgeben musste, weil sie Probleme mit der Betreuung ihrer Kinder hatte. Selbstverständlich hat sie einen Berechtigungsschein für den Bezug von Sozialhilfe bekommen. Damit muss in diesem Land Schluss sein. Diese Situation wollen und werden wir beenden. Das ist nicht weniger, sondern mehr soziale Gerechtigkeit. Das gilt auch für die Jugendarbeitslosigkeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wo wir im europäischen Vergleich tatsächlich stehen. Es war richtig, den Pakt für Ausbildung ins Leben zu rufen und unsere Anstrengungen in diesem Bereich zu erhöhen. Genauso richtig ist es, nicht zu akzeptieren, dass das Berufsleben in der Sozialhilfe beginnt. Diese Situation darf in Zukunft nicht mehr die Realität bestimmen. Natürlich wünsche auch ich mir, dass wir die Zusatzverdienste anheben können. Aber ob Ihre Vorstellung einer Lohnsubvention tatsächlich zu einem Abbau der Zahl von geringfügigen und prekären Beschäftigungsverhältnissen führt oder nicht zu einer gewaltigen Bürokratie und im Wesentlichen zu Mitnahmeeffekten, werden wir noch sehr konkret zu diskutieren haben. Ich bin der Meinung, dass Sie die Effekte, die Sie damit erzielen werden, im Grunde genommen vergessen können; das werden im Wesentlichen Mitnahmeeffekte sein. Dazu hätten wir heute gerne etwas von Ihnen gehört. Zu Ihrer Bierdeckel-Steuerreform - ich weiß nicht, ob Herr Merz im Raum ist -: Sie sind als Steuersenkungspartei angetreten, und zwar als ganz besondere Steuersenkungspartei. Jetzt verkünden Sie Steuererhöhungen zu Beginn der Steuersenkungen. Diese Form von Dialektik - lassen Sie sich das von einem Alt-68er sagen - kann selbst ich nicht nachvollziehen, obwohl ich von Dialektik einiges verstehe. Nun zu Ihrer Kanzlerkandidatin: Das Erste, bei dem sie konkret wurde, war das Hurra für die Atomenergie. Sie spricht sich dafür aus, dass Deutschland die Option Atomenergie wieder voll nutzt. Für diese Ansage sind wir sehr dankbar; denn das macht die Alternative klar. Wir halten diese Form der Energieerzeugung für nicht verantwortbar. Das Zweite ist, dass Sie im Bereich der erneuerbaren Energien wieder zurückwollen. Wenn Sie nicht nach Moskau fahren und auch nicht nach Washington, dann fahren Sie im Sommer einmal nach Peking. Es ist doch für den Exportweltmeister irrsinnig, zu meinen, der Feldhamster und die Mopsfledermaus seien das Wachstumshemmnis. Fahren Sie einmal nach China oder nach Indien! Da können Sie sozusagen von der Mopsfledermaus und vom Feldhamster etwas lernen, Frau Merkel. Mit dem Eintritt dieser großen Volkswirtschaften in den Weltmarkt haben alle ökonomischen Fragen ökologische Konsequenzen und sind deswegen auch ökologische Fragen. Wer etwas anderes meint, stellt die Zukunft der Arbeitsplätze in diesem Land infrage. Die deutsche Automobilindustrie kann sich nicht erlauben, zweitklassige Technologie anzubieten; sonst sind wir weg, wie in der Photoelektronik, in der Photooptik und in der Unterhaltungselektronik. Wenn die Franzosen den Dieselrußfilter anbieten und die deutsche Automobilindustrie nicht, wenn die Japaner das große Geschäft mit Hybridantriebautos in den USA machen und genauso viel verkaufen wie Audi an konventionellen Autos, dann sage ich Ihnen: Exakt das ist die andere Politik, die Politik, die Sie wollen, und das gefährdet die Arbeitsplätze in diesem Land. Nein, jetzt gilt es, die Unterschiede herauszuarbeiten. Ich nenne als Stichworte die Steuerreform, die Kopfpauschale, die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir wollen die Bürgerversicherung. Das Entscheidende ist: Wir wollen erneuerte Sozialsysteme. Aber bei einem gibt es für mich keine Diskussionen; das halte ich für unbedingt notwendig: Ich möchte, dass unsere demokratische Gesellschaft solidarisch ist, eine Gesellschaft entlang von Arm und Reich, von Jung und Alt. Das bedeutet auch eine nachhaltige Solidarität gegenüber den kommenden Generationen. Ich möchte, dass wir auch international solidarisch sind. Das ist die Alternative zu einer Politik der kalten Modernisierung, gegen die wir kämpfen. Sie haben schon einmal Möbel bestellt, die Bilder waren auch schon geordert, aber es ist nichts geworden. Also schauen wir einmal! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle Chancen haben, wenn wir kämpfen - und das werden wir -, zu gewinnen und nicht zu verlieren.