Schröder 21.03.2004 Rede auf dem SPD Sonderparteitag Berlin - im Wortlaut Liebe Freundinnen! Liebe Freude! Es ist keine Frage: Die Übergabe des Amts des Parteivorsitzenden ist immer ein neuer Anfang. Aber dieser Wechsel im Amt ändert nichts daran, dass unsere Politik notwendig ist und richtig ist. Deswegen sind Franz und ich uns einig: Wir halten Kurs. Was beschlossen ist, wird nicht verändert. Wir werden den Weg, den wir mit der Agenda 2010 eingeschlagen haben, gemeinsam konsequent weitergehen. Denn wir wissen: Diese Reformen sind notwendig. Wir haben dafür gesorgt - und werden das weiter tun -, dass sie unserer sozialdemokratischen Leitlinie folgen. Sie heißt: Innovation und Gerechtigkeit. Unter diesem Motto sind wir zweimal gewählt worden; nicht nur das: Wir sind zweimal stärkste Partei im Bundestag geworden. Wir werden dafür sorgen, dass dies so bleibt und dass das Motto, unter dem wir angetreten sind, noch klarer wird. Innovation sichert Gerechtigkeit. Nicht zuletzt das ist der Sinn der Agenda 2010. Zwei Parteitage haben diesen Reformkurs bestätigt. Kontinuität unserer Politik heißt für uns Sozialdemokraten weit mehr als ein Regierungsprogramm. Es heißt auch Kontinuität in unseren Werten von Freiheit, von Solidarität und Gerechtigkeit. Aber diese Werte nicht nur zu beschwören, sondern sie unter radikal veränderten Bedingungen mit neuem Leben zu erfüllen, das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Immer wieder einzutreten für Demokratie, für Chancengleichheit, aber eben auch - Heidi hat darauf hingewiesen - für Frieden und Völkerverständigung, für Wohlstand und für Sicherheit - das ist unsere Verpflichtung aus unserer mehr als 140-jährigen Geschichte. Immer, wenn diese Werte in Gefahr waren, ob unter Bismarck, ob in der Weimarer Republik oder im Kampf gegen Nationalsozialismus und Diktatur, waren es Sozialdemokraten, die widerstanden und neu für Fortschritt gesorgt haben. Darauf, liebe Freundinnen und Freunde, sind wir stolz und - das sagen wir sehr selbstbewusst - darauf kann Deutschland stolz sein. Immer, wenn es in Zeiten schwieriger Zäsuren galt, Veränderungen vorzunehmen und dafür die Verantwortung zu tragen, dann waren wir es, die stets bereit waren, das Wichtige und das Richtige zu tun. Häufig war es so, dass die Entscheidungen, die dann zu treffen waren, am Anfang sehr umstritten gewesen sind. Aber wir sind niemals davongelaufen und werden das auch in Zukunft nicht tun. Am Ende haben sich unsere Entscheidungen als richtig, als für Deutschland verantwortbar erwiesen. Diese große historische Tradition meinen wir, wenn wir heute die Kontinuität unserer Politik betonen. Denkt daran: Es waren die Sozialdemokraten, allen voran Willy Brandt, aber auch Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die den Mut zur Entspannungspolitik hatten. Sie hatten ihn, weil sie wussten, dass der Versöhnung im Westen die Nachbarschaft im Osten zu folgen hat. Auch damals ging das nur gegen den erbitterten Widerstand der Rechten in unserer Gesellschaft und unter schlimmen Diffamierungen. Am Ende haben wir, hat unser Volk die Früchte ernten können, zunächst die deutsche Einheit und dann, ab 1. Mai dieses Jahres, auch die europäische Einigung im Osten und im Westen unseres Kontinents. Noch eines: Am 6. Juni dieses Jahres wird erstmals ein deutscher Bundeskanzler an den Feiern zum Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie teilnehmen. Ihr werdet verstehen, dass ich dem französischen Präsidenten für seine Einladung, die wir als eine historische begreifen sollten, sehr, sehr dankbar bin. Im Übrigen können wir nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sagen: Die Nachkriegszeit ist endgültig vorüber. Aber, liebe Freunde, auch das ist nur möglich geworden, weil wir den Mut zu schwierigen, aber richtigen Entscheidungen in den letzten fünf Jahren hatten. Wir hatten zu entscheiden, ob es gerechtfertigt ist, zum Schutz von Menschenwürde und Menschenrechten auf dem Balkan auch militärisch zu intervenieren. Ich weiß wohl, dass das niemandem von euch, auch niemandem von uns leicht gefallen ist. Aber wir hatten zu begreifen, dass unsere Arbeit in der Völkergemeinschaft nicht nur Rechte begründet, sondern auch die Erfüllung von Pflichten erfordert. Vor diesem Hintergrund waren wir es, die Deutschlands gewachsene internationale Verantwortung formuliert und auch wahrgenommen haben, nicht zuletzt im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir alle erinnern uns an die manchmal schmerzlichen Diskussionen, die wir darüber zu führen hatten, und ich erinnere mich besonders daran. Wir haben sie bewusst, auch stolz, ernsthaft und selbstbewusst geführt. Ich denke, unser Volk hat verstanden, warum das, was wir zu entscheiden hatten, wichtig und richtig war. Wir haben das getan, weil wir wirklich eine patriotische Partei sind. Wir sind aber keine Partei des Hurra-Patriotismus. Wir haben die Neupositionierung unseres Landes - Heidi, du hast Recht: das wird so bleiben - in der Erkenntnis vorgenommen, dass wir international nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben. Wir müssen diese Pflichten für mehr Sicherheit in Deutschland, in Europa und in der Welt übernehmen. Aber: Mit der Übernahme dieser Pflichten haben wir uns als ein souveränes Land auch das Recht erworben, Nein zu sagen, wenn wir vom Sinn einer militärischen Intervention nicht überzeugt sind. Ich füge hinzu: Wir sollten den Menschen immer wieder vor Augen führen, was wohl gewesen wäre, wenn in dieser Zeit die anderen regiert hätten. Dann hätte Deutschland nicht gewagt, Nein zu sagen. Deutsche Soldaten stünden heute im Irak. Dass das nicht so ist und dass das auch nicht so kommen wird, war unsere Entscheidung und liegt in unserer Verantwortung, liebe Freundinnen und Freunde. In diesem Zusammenhang ein weiterer Hinweis: Der eine oder andere mag sich erinnern, was alles vor nicht einmal einem Jahr diskutiert und den deutschen Sozialdemokraten vorgeworfen worden ist. Gelegentlich wünschte ich mir, dass man die Artikel ein Jahr später noch einmal zur Hand nähme und dass die Opposition ihre Reden noch einmal nachläse und sich fragen würde: Was war alles auf der Tagesordnung? Der Vorwurf lautete: Mit eurem Nein zerstört ihr die NATO, das transatlantische Bündnis und das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika endgültig. Liebe Freundinnen und Freunde, heute können wir kein bisschen rechthaberisch, aber ein wenig mehr selbstbewusst sagen: Die Politik, die wir damals gemacht haben, hat uns nicht geschwächt, sie hat uns gestärkt. Sie hat die deutsche Stimme in der Welt wahrnehmbarer gemacht, ohne dass bewährte Freundschaften und Bündnisse zerstört wurden. Liebe Freundinnen und Freunde, ich sage das in großer Deutlichkeit: Wer glaubt, eine solche Politik ließe sich anders als mit Regierungsgewalt ausgestattet gestalten, der irrt gründlich und wird diesen Irrtum bitter einsehen müssen. Uns als Sozialdemokraten hat es immer ausgezeichnet, nicht nur etwas zu fordern, sondern auch durchzusetzen. Das ist der Sinn von Regierungsmacht und Regierungshandeln. Es ist auch unser Verdienst, dass der deutsche Sozialstaat kein bloßer Fürsorgestaat mehr ist, sondern dass er in gutem Sinne ein Teilhabestaat ist. Er ist ein Staat, der die Schwachen schützt und dem Einzelnen hilft, wenn er sich nicht selber helfen kann, ein Staat, der Solidarität so organisiert, dass mehr Mitsprache, mehr Freiheit und mehr Chancen für alle gewonnen werden, vor allem für diejenigen, die Wohlstand nicht von zu Hause mitbringen, sondern den Wohlstand unseres Landes erst mit ihrer Leistung erwirtschaften. Deshalb haben wir immer beides im Blick gehabt und werden es auch weiterhin im Blick haben: sozialen Ausgleich und Teilhabe durch eigene Leistung und Leistungsbereitschaft. Liebe Genossinnen und Genossen, es ist keine Frage: Wir sind heute in einer Situation, in der wir schwierige Entscheidungen hinter uns und gewiss auch noch vor uns haben. Die demografische Entwicklung zwingt uns dazu, unsere sozialen Sicherungssysteme auf radikal veränderte Realitäten einzustellen. Ich möchte nur ein Beispiel nennen und bitten, mitzuhelfen, dass das in unserer Gesellschaft noch klarer wird: 1960 haben die Beiträge von zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgereicht, um einen Rentner zu versorgen. Heute stehen dafür nur noch drei Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zur Verfügung. Wenn wir nicht handeln, dann werden es in zwanzig Jahren nur noch zwei Beiträge sein, mit denen für eine Rentnerin bzw. einen Rentner gesorgt wird. Liebe Genossinnen und Genossen, was das bedeutet, liegt doch auf der Hand: Die soziale Gerechtigkeit, für die wir streiten, ist kein Begriff, den man allein auf die gegenwärtige Generation beziehen darf. Soziale Gerechtigkeit in der Form, wie wir sie verstehen und verstehen müssen, muss mit den Chancen unserer Kinder und deren Kinder zu tun haben. Ich sage das vor dem Hintergrund einer Veranstaltung, die gerade hinter mir liegt, nämlich der Feier zum 60. Geburtstag von Jürgen Peters. Berthold Huber, sein Stellvertreter, hat in einer bemerkenswerten Rede darauf hingewiesen - Jürgen, du wirst das bei all den notwendigen und richtigen Feierlichkeiten mitbekommen haben -, dass die deutschen Gewerkschaften zuallererst ihren Mitgliedern verpflichtet sind. Jeder von uns kann das nachvollziehen. Ich füge aber hinzu: Auch diese Mitglieder haben Kinder, die eine Perspektive brauchen und haben wollen. Bei allen notwendigen und, so hoffe ich, freundschaftlich geführten Auseinandersetzungen über die richtigen Inhalte von Politik lautet deshalb meine Bitte: Lasst uns nicht vergessen, dass gerecht zu sein immer auch heißt, an die zu denken, die morgen in Wohlstand leben wollen. Sie haben eine faire Chance verdient. Diese müssen wir ihnen heute verschaffen, liebe Freundinnen und Freunde. Wir müssen unsere Verantwortung gewiss auch den älteren Menschen gegenüber, die heute Rente beziehen, wahrnehmen. Dies gilt aber auch gegenüber denjenigen, die im Berufsleben stehen und ein Recht darauf haben, dass die Beiträge, die sie aufwenden müssen, nicht uferlos wachsen. Dass ihnen vom Brutto, das sie bekommen, netto zum Leben genügend übrig bleibt, liebe Freundinnen und Freunde, ist auch eine Verantwortung, der wir uns stellen müssen. Ich sage es noch einmal, natürlich erst Recht gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern: Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden sie morgen aushalten müssen, viel mehr als wir miteinander. Liebe Freundinnen und Freunde, ich möchte nicht - ich denke, ihr auch nicht -, dass unsere Kinder uns einmal vorwerfen: Ihr habt nur im Augenblick gelebt. Ihr habt nur an euch und an die Gegenwart gedacht. Ihr habt es euch an der großen Festtafel des Lebens gemütlich gemacht und habt aufgezehrt, wovon auch wir leben wollten. Ihr habt zu wenig übrig gelassen und jetzt müssen wir auch noch die Zeche für das bezahlen, was wir gar nicht bestellt hatten. Das, liebe Freundinnen und Freunde, mag eine Politik sein, die Konservativen gut ansteht. Sie hat mit dem Fortschrittsbegriff der deutschen Sozialdemokraten nichts, aber auch gar nichts zu tun. Hier liegt doch der Grund dafür, warum wir uns an den Umbau des Sozialstaates machen müssen. Wir müssen dies tun, um ihn für künftige Generationen erhalten zu können. Klar ist aber, liebe Freundinnen und Freunde: Wer den Sozialstaat umbauen will, der muss schon den richtigen Bauplan kennen. Ich denke, das ist es, was uns von den anderen unterscheidet: Das Interesse der deutschen Konservativen am Gemeinwohl erschöpft sich darin, notwendige Reformen wie etwa beim Zuwanderungsrecht zu blockieren. Schaut euch genau an - das sage ich auch denen, die kritisch mit der Politik der Regierung umgehen -, was sie vorschlagen. Die Kopfprämie im Gesundheitswesen und die so genannte Steuererklärung auf dem Bierdeckel - im Klartext heißt das: Bei den Beziehern großer Einkommen werden die Steuern und Sozialbeiträge gesenkt. Die anderen, die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, müssen Kopfprämien zahlen. Weil das Milliarden kostet, was sie vorschlagen, werden sie kürzen, und ihr könnt euch denken, wo. Das hat mit dem Umbau des Sozialstaats nichts, aber auch gar nichts zu tun. Übrigens: Von der Steuererklärung auf dem Bierdeckel ist schon lange nicht mehr die Rede. Es war wohl mehr eine Schnapsidee. Liebe Genossinnen und Genossen, ich will einen anderen Bereich nennen, der dazugehört, wenn es um Umbau, statt Abbau des Sozialstaates geht. Das wird eine Frage sein, die die Freunde in den deutschen Gewerkschaften in besonderer Weise interessiert. Wir haben mit der Agenda 2010 Erwartungen formuliert, auch die Erwartung an die deutschen Gewerkschaften, eine neue Balance zu finden zwischen dem, was an Arbeitsbedingungen zentral ausgehandelt wird, und dem, was man betrieblichen Einigungen überlassen kann. Die deutschen Gewerkschaften, in dieser Tarifrunde vorweg die IG Metall, haben sich auf einen guten Weg gemacht und begonnen, diese Balance zu finden. Weil das so ist, haben wir guten Grund, der Tarifautonomie zu trauen und sie nicht infrage zu stellen, liebe Freundinnen und Freunde. Weil uns gezeigt worden ist, dass die Tarifautonomie auch bei der Herstellung dieser neuen Balance funktioniert, bedarf es keiner Gesetzgebung, die die richtigen Wege aufzeigt. Die Tarifparteien haben bewiesen, dass sie es selber können. Das versetzt uns in den Stand, darauf zu vertrauen, dass das auch in Zukunft so sein wird und hier eine Gesetzgebung nicht notwendig ist. Liebe Freundinnen und Freunde, ein anderes Beispiel: Wir haben in unserem Land eine große Debatte über den Wert der Mitbestimmung auf Unternehmensebene, eine Debatte, die auch an die Substanz unserer gesellschaftlichen Ordnung geht. Wir haben aus guten Gründen die Teilhabe am Haben, aber auch am Sagen der Beschäftigten immer wieder vertreten. Ich sage all denen, die die Mitbestimmung infrage stellen: Lasst das nach! Deutschland ist nicht durch konsensorientiertes Handeln in den Betrieben und Unternehmen schwächer geworden, sondern stärker. Wir wollen, dass das so bleibt. Wir werden auch dafür sorgen, dass das so bleibt. Aber auch hier gilt: Wer sich einmal in Europa umschaut und sich die Aktivitäten näher anschaut, die von Europa in dieser Frage ausgehen, zum Beispiel mit der Richtlinie, die man Fusionsrichtlinie nennt und die die deutsche Mitbestimmung, wie wir sie haben und behalten wollen, infrage stellt, der sollte sich bei aller Kritik an dem einen oder anderen Punkt der Regierungspolitik genau überlegen, ob er uns nicht doch braucht, wenn es um die Verteidigung der Mitbestimmung auf europäischer Ebene geht. Liebe Freundinnen und Freunde, wir müssen gelegentlich auch deutlich machen, was wir geleistet haben, keineswegs nur in der Außen- und Sicherheitspolitik, nein, auch in der Gesellschaftspolitik und bei den ganz handfesten Fragen der Steuerpolitik. Da muss niemand als deutscher Sozialdemokrat in Sack und Asche gehen. Er muss sich nur ein paar Zahlen ins Gedächtnis rufen: Wir haben den Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer, der 1998, als wir ins Amt gekommen sind, bei 25,9 Prozent lag, auf jetzt 16 Prozent gesenkt. Im nächsten Jahr werden es 15 Prozent sein. Er ist dann also um rund 11 Prozentpunkte gesunken. Wer mir erzählen will, das beträfe nur die da oben, der hat nicht Recht, liebe Genossinnen und Genossen; denn das betrifft auch die unten und die in der Mitte. Wir haben das steuerfreie Existenzminimum deutlich angehoben. Das betrifft niemanden oben, das Großkapital schon gar nicht. Das betrifft die Menschen unten. Sie haben etwas davon und sollten auch etwas davon haben. Wir haben das gemacht; die anderen haben es nicht getan. Sie hätten es auch nicht getan, liebe Freundinnen und Freunde. Wir haben auch in der Familienpolitik Leistungen vorzuweisen, die sich sehen lassen können. Als wir 1998 ins Amt kamen, wurden 40 Milliarden Euro für die Familien ausgegeben. Jetzt sind es 60 Milliarden Euro. Auch das ist weitgehend konsumiert, wie man so sagt; man kann es auch "vergessen" nennen. Aber ist es eigentlich unsere Aufgabe, das vergessen zu machen oder machen zu lassen? Ich glaube nicht, dass das unsere Aufgabe ist. Es mag im Übrigen sein, dass die Instrumente, die wir geschaffen haben, um dieses Geld für die Familien zu mobilisieren, überprüft werden müssen. Es wird so sein, dass wir in Zukunft sehr viel mehr Geld für die Betreuung von Kindern ausgeben müssen, damit es den Kindern auch zugute kommt, als jemals zuvor in der Vergangenheit, liebe Freundinnen und Freunde. Ich erwähne das, weil damit deutlich wird, dass wir uns keineswegs nur um Generationengerechtigkeit kümmern, sondern dass wir uns auch um Verteilungsgerechtigkeit in dieser Generation gekümmert haben, dass wir uns also bei allen notwendigen Umbauprogrammen um den Erhalt des sozialen Ausgleichs gekümmert haben. Ich füge hinzu, liebe Freundinnen und Freunde: Soziale Gerechtigkeit entscheidet sich nicht an der Frage, ob man im Quartal 10 Euro für einen Arztbesuch zahlen muss oder nicht. Die Praxisgebühr ist keine Frage von sozialer Gerechtigkeit, sie ist ein Instrument der Sozialpolitik. Es geht darum, auch das Gesundheitswesen zu verändern: weg von einer Mitnahmementalität, hin zu mehr Vorbeugung und auch mehr Verantwortung, liebe Freundinnen und Freunde. Auch dafür lohnt es zu streiten. Zu Recht, denke ich, steht Freiheit an erster Stelle der sozialdemokratischen Grundwerte,und zwar nicht nur die Freiheit von Not und Ausbeutung, nein, auch die Freiheit, Lebenschancen und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Deshalb ist es so entscheidend, durch bessere Betreuungsangebote zu ermöglichen, dass Frauen die Freiheit haben, Kinder groß zu ziehen und einen Beruf auszuüben. Das ist es, was wir in dieser Dekade wirklich durchsetzen müssen, liebe Freundinnen und Freunde. Weil Lebensentwürfe etwas mit Startchancen in das Leben hinein zu tun haben, ist es so eminent wichtig, dass Jugendliche eine Berufsausbildung bekommen - eben auch, um die Freiheit zu haben, ihr Leben selbst zu gestalten und zu meisten. Bildung und Ausbildung haben enorm viel mit Freiheit zu tun, denn Freiheit, wie wir sie verstehen, ist verdammt viel mehr als Gewerbefreiheit! Freiheit ist nicht nur Freiheit von Verpflichtungen, sondern schließt auch Verpflichtungen ein. Das gilt für die Auszubildenden. Aber, liebe Freundinnen und Freunde, auch das soll hier wieder klar und deutlich ausgedrückt werden: Es gibt nicht nur die Verpflichtung des Jugendlichen, etwas mit seinem Leben anzufangen; es gibt erst recht die Verpflichtung der ausbildenden Wirtschaft, ihm die Chance zu einem Leben, das selbstbestimmt ist, zu geben und zu ermöglichen. Genau an diesem Punkt setzt die Debatte an, die wir führen, auch innerhalb unserer Partei und gelegentlich auch in der Regierung. Aber es ist klar: Wenn die Verpflichtungen zur Bereitstellung von Ausbildungsplätzen nicht erfüllt werden, dann müssen wir gesetzgeberisch handeln, dann müssen wir denen helfen, die ihre Verpflichtungen zur Ausbildung als Unternehmen ernst nehmen, nicht denen, die das nicht tun. Ich sage es noch einmal als einen Appell an die Wirtschaft: Sie haben es selber in der Hand, ob Regelungen, die wir treffen müssen und treffen werden, zur Anwendung kommen oder nicht. Sie haben es selber in der Hand; sie brauchen nur die genügende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen. Denn uns geht es nicht um ein Instrument, sondern uns geht es um das Ziel, jedem jungen Menschen einen Ausbildungsplatz zu ermöglichen. Liebe Freundinnen und Freunde, wer mehr Freiheit durch bessere Verteilung der Lebenschancen realisieren will, der muss zugleich für zweierlei sorgen: für Sicherheit und für Wachstum. Ohne innere und ohne äußere Sicherheit sind die Bürgerrechte in Gefahr, die die Grundlage einer jeden freien Lebensentfaltung sind. Ohne soziale Sicherheit wird Flexibilität nicht als Freiheit, sondern als Bedrohung begriffen. Deshalb sind das keine Gegensätze, sondern beide Begriffe müssen mit Inhalt gefüllt und in eine sinnvolle Balance zueinander gebracht werden. Das ist der Sinn der Agenda 2010. Ohne Wachstum können die Chancen, die durch eine Bildungs- und Familienpolitik bereitgestellt werden, nicht ausreichend verwirklicht werden. Beides, Sicherheit und Wachstum - auch das muss Sozialdemokraten vorneweg klar sein -, können wir heute nicht mehr im nationalen Maßstab erfolgreich durchsetzen und umsetzen. Es ist der große Irrtum derer, die auch Agenden produzieren, dass sie meinen, in einer globalisierten Welt, in einem zusammenwachsenden Europa bedürfe es nur einer nationalen Anstrengung, dann seien die Probleme in diesem Maßstab zu lösen. Welch Irrtum, liebe Freundinnen und Freunde! Es ist ein Irrtum, dem wir nicht verfallen dürfen. Wir, die deutschen Sozialdemokraten, aber wissen doch, dass Kapital- und Finanzmärkte grenzenlos geworden sind. Wir erfahren - wie die Menschen in Deutschland auch - die Risiken für unsere Sicherheit, die die Grenzen des Nationalstaates sprengen. Das gilt eben nicht nur für den Terrorismus und das organisierte Verbrechen; das gilt auch für die soziale Sicherheit, etwa da, wo globalisierte Märkte national erworbene Rechte schlicht außer Kraft setzen. Was bedeutet das für unsere Politik? Das bedeutet: Wir müssen das, was wir im deutschen Sozialstaat an Freiheit, an Teilhabe, an Gerechtigkeit erreicht haben, im europäischen Maßstab, mindestens im europäischen Maßstab, umsetzen. Wir müssen also nicht nur Weltmeister im Export von Waren sein, sondern wir müssen dafür kämpfen, dass wir die Wertvorstellungen, die wir uns hier erarbeitet haben und die wir hier umgesetzt haben, auch in Europa vertreten und, soweit es geht, durchsetzen, liebe Freundinnen und Freunde. Wenn wir es schaffen, die Wertvorstellungen und die daraus resultierenden Politiken, die wir in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt als deutsche Sozialdemokraten im nationalen Maßstab durchsetzen konnten, angesichts der Veränderungen, vor denen wir nicht weglaufen dürfen und die wir auch nicht wegdiskutieren können, im europäischen Maßstab zu realisieren, die soziale Marktwirtschaft europäisch zu verankern und europäisch zu gestalten und weiterzuentwickeln, dann und nur dann sind wir auf dem richtigen Weg, liebe Freundinnen und Freunde. Das alles erfordert von uns eine Einsicht: Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme ist ein Wert an sich und zugleich mehr: Wert an sich, weil nur auf diese Weise Sozialstaatlichkeit für künftige Generationen sicherbar ist; zugleich mehr, weil mit dem Umbau die Möglichkeit gegeben wird, Ressourcen freizubekommen, um sie in die Zukunftsinvestitionen des Landes fließen zu lassen. Das, liebe Freundinnen und Freunde, sind vor allen Dingen drei. Wir müssen mehr tun für die Betreuung von Kindern. Wir, die Bundesregierung, haben damit begonnen. 4 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren sind alles andere als ein Pappenstiel. Ich wünsche mir, dass es in den Ländern und Kommunen Sozialdemokraten sind, die auf die Bedeutung des Themas und die vorhandenen Ressourcen, die wir zur Verfügung stellen, hinweisen. Am Anfang der deutschen Sozialdemokratie, am Anfang der Arbeiterbewegung stand doch die Erkenntnis: Wissen ist Macht. In einer Welt, in der aus Wissen und nur aus Wissen Güter werden, gilt dieser Satz so aktuell wie nie zuvor in unserer Vergangenheit, liebe Freundinnen und Freunde. Angesichts der Notwendigkeit, sowohl nach außen als auch nach innen die Sicherheit der Menschen zu garantieren, und angesichts der demographischen Entwicklung müssen wir Ressourcen frei bekommen, um die wirklichen Zukunftsaufgaben anzupacken und die liegen nun einmal auf dem Gebiet der Bildung. Macht dieses zum Thema deutscher Sozialdemokraten! Die anderen können das nämlich nicht, weil die anderen immer nur die eine Seite der Gesellschaft fördern können. Wir dagegen leben nach der Erkenntnis, dass wir es uns nicht leisten können, eine einzige Begabung in unserem Volk unausgeschöpft zu lassen. Das ist sozialdemokratisch. Auch dieses Thema bedarf, das ist klar, einer europäischen Komponente. Deshalb ist es so wichtig, liebe Freundinnen und Freunde, dass wir uns stärken, um über die Wahlen - nicht nur, aber auch die Wahl zum Europäischen Parlament - mehr an Gestaltungsmacht zu bekommen. Wir müssen den Menschen klar machen, dass die Herausforderungen, denen man insgesamt nur europäisch begegnen kann, in erster Linie von uns bewältigt werden können und dass man Europa nicht denjenigen überlassen darf, die in Europa kaum mehr sehen als den Markt und die schon heute wieder daran denken, in Wahlkämpfen die Frage von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei populistisch zu nutzen. Denen muss man deutlich machen: Wir wollen nicht bestreiten, dass ihr den Willen habt, zu einem europäischen Ausgleich zu kommen; aber eure Fähigkeit dazu müsst ihr erst noch unter Beweis stellen. Denn diese Frage verträgt sich nicht mit Populismus. Hier geht es um die Perspektive von Europas Sicherheit. Stellt euch einen Moment vor - auch vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, die wir im Nahen Osten sehen -, es gelänge, in einem so wichtigen Land wie der Türkei eine Versöhnung zwischen islamischem Glauben, der nicht fundamentalistisch ist, und den Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung! Welch ungeheurer Gewinn auch für die deutsche Sicherheit wäre das, liebe Freundinnen und Freunde! Auch in dieser Frage werden wir die Auseinandersetzung annehmen. Denn wir sind davon überzeugt, dass in unserer Politik das Richtige für unser Land liegt. Das gilt auch dann, wenn es manchmal schwierig ist, dies kenntlich zu machen und zu vermitteln - gelegentlich auch bei uns selber. Gleichwohl: Das, was wir angepackt haben, was wir in der Außenpolitik erfolgreich realisiert haben, was wir in der Innenpolitik mitten in einem schwierigen Prozess gestaltet haben, das hat historische Bedeutung. Ich bin ganz sicher: Wenn wir klar bleiben und konsequent, dann wird das auch einsichtig zu machen sein. Wir werden vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen, weil für uns gilt und immer gegolten hat: erst das Land und dann die Partei, weil wir eine Volkspartei sind und nicht eine Ansammlung von Populisten, weil wir Patrioten sind, aber keine Nationalisten. Liebe Genossinnen und Genossen, gestattet mir ein paar persönliche Worte: Mir fällt der Abschied vom Vorsitz unserer Partei nicht leicht. In der Nachfolge von August Bebel und Willy Brandt zu stehen, das war für mich eine große Ehre. Ich habe es als eine Verpflichtung verstanden und es so gut zu machen versucht, wie ich es konnte. Ja, ich kann sagen - ich möchte, dass ihr das wisst -: Ich war stolz darauf, Vorsitzender dieser großen, ältesten demokratischen Partei Deutschlands sein zu dürfen. Aber die Aufgabe als Bundeskanzler, sozialdemokratische Politik eben nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und darüber hinaus zu gestalten, erfordert schon die ganze Kraft eines Menschen - übrigens gestützt auf die, die ich liebe und die mich lieben. Ich glaube im Übrigen auch: Die Aufgabe, als Partei sozialdemokratische Politik für Deutschland, für Europa und darüber hinaus zu formulieren und immerwährend zu vermitteln, erfordert eine ungeteilte Aufmerksamkeit und viel, viel Kraft. Wir haben also entschieden, in einem größeren Spielfeld eine neue Mannschaftsaufstellung zu formieren. Das ist der Grund, warum ich mich entschieden habe, den Parteivorsitz zurückzugeben und euch Franz Müntefering als meinen Nachfolger vorzuschlagen. Ich tue das aus voller Überzeugung, weil ich sage: Franz ist für dieses Amt der Beste, den wir für unsere Partei bekommen können. Ich bin sicher: Die Arbeitsteilung wird zu mehr Geschlossenheit und als Folge dessen zu neuer Stärke führen. Liebe Freundinnen und Freunde, ich will Olaf Scholz herzlich danken, der in verdammt schwieriger Zeit gekämpft hat und darüber hinaus programmatische Arbeit geleistet hat. Natürlich danke ich Franz, dass er sich nach langen, schwierigen, sehr freundschaftlichen Gesprächen - in denen ich, lieber Franz, für mich wichtige menschliche Erfahrungen gemacht habe - bereit erklärt hat, das Amt zu übernehmen, und in einer schwierigen Phase unserer Partei mithelfen will, dass es, was wir alle wollen, besser wird. Liebe Freundinnen und Freunde, wie wahr: Ich war für viele kein leichter Vorsitzender. Es waren aber auch verdammt schwierige Zeiten, in denen ich Vorsitzender war. Ich bin sicher, gemeinsam werden wir aus diesem Parteitag gestärkt, weil selbstbewusster hervorgehen. Wir wissen um die Größe der Aufgabe, die vor uns liegt. Aber wir wissen eben auch um die Größe der Möglichkeiten, die wir haben. Wir wissen das, wie wir es in der langen, erfolgreichen Geschichte immer gewusst haben. So wird es bleiben. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.