Schröder 29.10.2002 Große Regierungserklärung - im Wortlaut Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen haben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Erneuerung unseres Landes erhalten. Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Sie das vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Aber nehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositionsseite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben. Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwortungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solidarität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfüllen. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um die Gefahren durch den internationalen Terrorismus; sie wissen um die Gefahren durch regionale Konflikte - alles Gefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unseren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dass uns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und der Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Veränderungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Sparsamkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtigkeit zwingen. Aber die Menschen in Deutschland haben sich ausdrücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzuschaffen, wahllos Leistungen zu kürzen oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückzudrehen. Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag erteilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über das Gemeinwohl zu stellen. Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb übernehmen wir Verantwortung für das Ganze. Die Entwicklung der internationalen Finanz- und Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhaltende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten durch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibt wenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Besserung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns darauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneuerung zu stärken. Dabei stehen die klassischen Instrumente, um den Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventionen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur Verfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeit der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keine Wirkung entfalten. Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuerreform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbaren Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit ihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 in Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für 2005 bereits beschlossen und werden die Wachstumskräfte in Deutschland stärken. Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkungen weiterverfolgt wird, ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbestände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und auf ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen. Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten für Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum und Beschäftigung zu eröffnen. Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualität von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damit die Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen. Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familien fördern und die Sozialsysteme reformieren, ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben. Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitionen bei der Wiederherstellung und der weiteren Modernisierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern. Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirtschaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren oder großen Unternehmen. Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der Forschung und bei der Anwendung neuer Technologien sowie bei der ökologischen Modernisierung zu halten und sie, wo immer es geht, auszubauen. Zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren, was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschancen eröffnen wollen. Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaffen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu können, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. Die Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu erreichen. Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine konjunkturgerechte Ausgestaltung. Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunkturell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können. Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage, die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Konjunktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssen wir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich noch nicht verstanden, worum es geht. Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür aufbringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch kürzer treten muss und dass auf das erreichte Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann. Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder 50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Berechtigung verloren. Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine gelungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Investitionen des Staates, intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuergerechtigkeit vereinbart. Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger Schaden nehmen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich kann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahl immer noch ein wenig sauer sind. Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnen an. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sich schon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist es wieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wird es auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher. Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiterzumachen. Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keine vernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative. Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden nehmen. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wie es ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die beschlossenen und notwendigen Einsparungen - etwa bei den konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen - hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz der Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aber das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen. Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunftschancen; das werden wir organisieren. Wir wollen deshalb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsunfähig wird. Es bleibt dabei - das ist unsere gemeinsame Überzeugung -: Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleine Minderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. Die Mehrheit in unserem Land kann und will das nicht. Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einen Staat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und Gerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unserer Auffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer bringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper werdender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Verteilung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere politische Generation steht vor der historischen Aufgabe, Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definieren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund, warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen, die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politik machen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen. Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellen Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legislaturperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Landes für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen und der künftigen Generationen mobilisieren. Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislaturperiode ist nach unserer festen Überzeugung die Reform der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur eine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu viele Überstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene, also nicht besetzte Stellen. Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es gelungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskussionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Gelegenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern der Kommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen, die Ergebnisse umzusetzen. Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von Arbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüber hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Dingen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch bei geringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständigkeit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibilität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose erhalten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise in Beschäftigung zu kommen. Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienstleistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so die Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nach unserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern ein Missbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauch müssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen. Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um eine falsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch bedenkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns geht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vorschläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der Bundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unverwässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weit über die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hinausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermachteten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Veränderungen möglich und politisch machbar sind, jedenfalls dann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen Verantwortung in die Waagschale werfen. Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine zentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime in den vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und - das füge ich hinzu - sein muss: Es geht nicht darum, immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr darum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht. Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innovationen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen gewiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auch wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist - wir werden nicht nachlassen. In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst bescheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist festzustellen, dass die Richtung stimmt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen. Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich im Alltag der Menschen zu bewähren. Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oder womit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vier Jahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den Sozialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfaltung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeit vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu nehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeitalter der Globalisierung und strukturellen Veränderungen des Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit hergestellt beziehungsweise gesichert werden kann. Deshalb begreifen wir es als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen, und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreut werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim Lernen das Spielen nicht vergessen müssen. Wir werden erreichen, dass Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf haben. Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kindern eben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird. Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kindererziehung als selbstverständlicher und glücklicher Abschnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann. Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alle Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen, und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung garantiert. Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren vier Milliarden Euro für die Einrichtung von 10000 neuen Ganztagsschulen zur Verfügung. Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehn Jahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt. Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bildungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt sein. Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbeiten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomie gewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverantwortlichkeit herausfordern. Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir eine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent erreichen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kommunen durch die Reformen am Arbeitsmarkt. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und Zukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn unsere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird. Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stärken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabe werden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an unserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser oder kultureller Gruppen und Minderheiten. Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwanghafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelgesellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teilhabe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichten unseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderung wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zu uns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bieten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung zur Integration. Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nachholende Integration der Ausländerinnen und Ausländer, die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflicht für die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen. Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik nicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korrigieren. Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem der Mensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen steht. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über die Lebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderne Familienpolitik fortsetzen, damit die Menschen leben können, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zu lassen, wie sie leben sollen. Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum und mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Freiheit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr als Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommensniveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Lebens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mit Freiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Das heißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönlicher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Freiheit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren. Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die Chance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben hat. Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im Umwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Technologie behauptet und weiter ausbaut. Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt, der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbarschaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicherheit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Leben der Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wir nicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allem einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wichtige und vor allem richtige Impulse gibt. Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu stärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionen anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auf fünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur für die Familien und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die ökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den konsumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhaltige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben, Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Gesundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohnnebenkosten zu senken, und Abbau unnötiger Bürokratie. Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirtschaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstumskräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export, das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Verfahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken, die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch in Zeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können. Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und einen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unternehmensgründungen. Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sich aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen will und kann, den werden wir dabei unterstützen. In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in den Inno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaßnahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen und ihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe systematisch verbessern. Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir Aufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbringen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben vereinfachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen. Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019 Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschaftsentwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantreiben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale und internationale Arbeitsteilung eingebunden werden. Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die Förderung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Ländern und Regionen. Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicherheit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit nationalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit zu gewährleisten. Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Gesellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Polizei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schon frühzeitig national und international einen erweiterten Sicherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu gehört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kriminalität, keine Frage, aber eben auch die materielle, soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisserung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheit des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und andere Lebensrisiken. Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die in dieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, ist fähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusammenarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendigen Veränderungsmaßnahmen nach innen. Die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medizinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenserwartungen der Menschen verlängert und immer mehr Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswesen und bei der Altersversorgung von einem immer größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann bedroht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaft. Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Niveau der medizinischen Versorgung, das es in unserem Land Gott sei Dank gibt, zu sichern und - das ist das Entscheidende - für jede und für jeden zugänglich zu halten. Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen dann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Menschen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern, die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effizienzreserven auch wirklich nutzen. Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns wird es sie nicht geben. Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System, eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte und verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollen mündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und der Pflege ihrer Gesundheit teilnehmen. In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Sicherungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. Den Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen, um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die Beiträge bezahlbar zu halten. Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversorgung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem wir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwarten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medizinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel und der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgen wir dem Grundsatz: "Soziale Sicherheit durch Solidarität und Verantwortung" heißt auch in diesen Bereichen: fördern, aber die Betroffenen auch fordern. Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit ein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft und eine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir haben deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwischen Sicherheit auf der einen und Bürgerrechten auf der anderen Seite geben kann und geben darf. Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht. So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusammenspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: einer effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Polizei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechtsstaat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung verpflichtet. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden wir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zusammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärken wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kindern, werden wir fortentwickeln. Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesellschaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleiche Berücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir für den Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leitprinzip durch. Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfassend und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode werden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erfordernissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Identitätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten werden wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen. Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotiv der Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheits- und in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verantwortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und geographischer Lage im Herzen Europas, aus der Partnerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertegemeinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit ergibt. Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen: Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rolle in der Welt langfristig gewandelt und der 11. September 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt dramatisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immer wieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast 10000 Soldatinnen und Soldaten nach den Vereinigten Staaten von Amerika der größte Truppensteller, was internationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der - was wir gerade in diesen Tagen wieder spüren - längst nicht gewonnen ist, wird uns auch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfordern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheits- und Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aber auch in Afghanistan. Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komplexen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in der Vergangenheit machen soll. Die Bundesregierung - mir liegt daran, das hier deutlich zu machen - dankt den Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes professionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen. Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Soldaten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in Kabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, im Kosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frieden und Sicherheit verkörpern. Welch glückhafter Wandel in der deutschen Geschichte! Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der Bundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedingungen analysieren und bereit sind, die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eine umfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuen Bedingungen an materieller Ausrüstung und an Personal wirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode werden wir überprüfen, ob über das beschlossene und ins Werk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen oder gar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind. Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staatlichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränität wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereitschaft unter Beweis gestellt haben und stellen, gegebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden und Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedoch bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militärischen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mitteln allein herzustellen. Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, der muss - das ist klar - einerseits Gewalt entschieden bekämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, in dem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Konfliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und durch das Eintreten für Menschen- und auch für Minderheitenrechte. Einer solchen präventiven und umfassend ansetzenden Außen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregierung verpflichtet. Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York, Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerzlich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Verflechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangsläufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehr Freiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsere Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur anzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten. Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber ungleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig um Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Verteilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir werden unter den Bedingungen einer enger zusammengerückten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht, Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen. Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt von Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir internationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Unfreiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolen durch starke, legitimierte internationale Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen. Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsicherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort turnusgemäß übernehmen wird, bekräftigen. Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Verantwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der sozialen Sicherheit einhergeht. In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Weltnachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Weltmärkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klimaschutz und ökologische Energienutzung engagiert. Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit umsetzen. Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller Werte unter Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmt. Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der Solidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und bei der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beruhen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipiellem Rang. Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften. Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in ökonomischen und politischen Fragen nicht aus. Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freundschaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen. Die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortgesetzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fortsetzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mittlere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte in Richtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brauchen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung intensiv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt in Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und die Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten mit sicheren Grenzen erreicht werden kann. Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg gefunden werden. Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, personellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allen Kräften, die wir haben, unterstützen. Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue Kenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak. Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massenvernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden. Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung frühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zum Ausdruck gebracht. Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internationale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsrat zeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Konfrontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftige in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf unbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu den Arsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der bedrohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf möglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu gewinnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfung aller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen. Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden müssen eine konsequente Politik der Abrüstung und internationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das ist einer der Gründe, warum wir immer gesagt haben - das gilt nach wie vor -, dass wir uns an einer militärischen Intervention im Irak nicht beteiligen werden. Unsere Politik für Frieden, Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Europa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwortung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroranschläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir auf eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien und in der gesamten Kaukasusregion. Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken und auszubauen unser Ziel ist. Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Damit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang dieses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindung der schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abgeschlossen werden. Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europa der Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen, also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanzielles Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mit dem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zusammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist ein Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Begrenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europäischen Union Rechnung trägt, das die historische Tragweite der Entscheidung, um die es geht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwortung vor der europäischen Geschichte gerecht geworden und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch in Europa zusammenwachsen kann, was zusammengehört. Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im Dezember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen. Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen Union großartige politische wie ökonomische Möglichkeiten. Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas ist eine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarkts der Welt und der Einführung einer gemeinsamen Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalismen in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden. Aber unser Europa zeichnet sich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert war, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifische Kultur und auch Lebensform. In Europa, unserem Europa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisations- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf dem Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklung setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden. Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitiative und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität, hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Beitrag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zeiten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wir es exportieren können oder wollen, auch vielen anderen Entwicklungschancen bietet. Die Europäische Union ist die Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie ist unsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf die Herausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus. Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigentliche Problem in der Konstruktion der Europäischen Union zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor allem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssen dafür Sorge tragen - das ist in dieser Legislaturperiode möglich -, dass die Europäische Union auch mit 25 oder gar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. Unser Ziel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlich organisierte und demokratisch legitimierte Europäische Union, die sich durch Transparenz und Bürgernähe auszeichnet. Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir darüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Verfassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz von Giscard d' Estaing beraten. Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Konvents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, einen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss beinhalten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffung einer starken und zugleich auch politisch verantwortlichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen Parlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlich gestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates, der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Gemeinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung werden wir in enger Abstimmung mit unseren französischen Freunden betreiben. Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein gemeinsames deutsch-französisches Vorgehen - auch wenn gelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werden müssen - ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertiefung und Erweiterung allen Europäern zugute kommen soll, nicht werden schaffen können. Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wir wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit sich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückziehen kann. Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche organisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann. Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger Obrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat. Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat, der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch ineffizient und inhuman. Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und die Kräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vor allem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Tätigen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Projekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume. Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur, wir fordern sie auch. Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes werden wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle Leistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffenden wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für Kultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, und zwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unser ganzes Land und unsere Gesellschaft. Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundesregierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Nebensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr, dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungenschaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesentliche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft und auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind. An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus - im Innern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Beziehungen. Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Gerechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken aller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstverantwortung und auch eine neue unternehmerische Verantwortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Arbeitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung und auch - wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird - in unserem Sozialsystem. Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen und Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie sind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir werden, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirtschaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen suchen. Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat der Politik nicht rütteln. Bei aller Bereitschaft zum Dialog - dies wird ja gelegentlich als Vorwurf konstruiert - und aller Bereitschaft zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die notwendigen Entscheidungen treffen - und sie wird es tun. Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mächtigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend für unsere Zukunft. Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chancen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar zusammenbrechen. Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherheiten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle. Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und gemeinsam werden wir damit für uns und unsere Kinder eine lebenswerte Zukunft schaffen.