Giscard d'Estaing 05.05.2002 Rede "Aufbau des Europas unserer Träume" Stuttgart - im Wortlaut Meine Damen und Herren, als Erstes möchte ich mich bei Herrn Ministerpräsident Teufel für die Einladung nach Stuttgart bedanken. Ich bin Ihrer Einladung gerne gefolgt. Ich kenne Ihr Land gut. Bei Kriegsende bin ich im Schwarzwald und am Bodensee gewesen. Und in meiner Zeit als Europaabgeordneter habe ich jeden Sommer eine dreitägige Privatreise in Ihr Land unternommen. Baden-Württemberg ist ein Land im Herzen Europas. Sie in Baden-Württemberg sind immer von den Vorteilen der europäischen Integration überzeugt gewesen. Sie haben auch immer eine bedeutende Rolle für die deutsch-französische Freundschaft der zurückliegenden Jahrzehnte gespielt. Hiervon zeugt ganz besonders Ihr entschiedenes Engagement für den Französischunterricht in Ihren Schulen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit wird auch, und gerade, in einer erweiterten Union von zentraler Bedeutung bleiben. Bundeskanzler Schröder hat dies vor wenigen Wochen, in Freiburg betont. All dies sind Gründe dafür, warum Ihrem Beitrag, Herr Ministerpräsident, an unserer Arbeit im Konvent so große Bedeutung zukommt. Die Europäische Union sieht sich gegenwärtig mit zwei Problemen konfrontiert: Ihre Entscheidungsverfahren, die einmal für sechs Staaten konzipiert wurden, sind nunmehr an ihre Grenzen gestoßen und funktionieren nicht mehr zufrieden stellend, d.h. sie sind nicht mehr effizient, für die Öffentlichkeit verständlich und demokratisch. Zugleich steht die Union vor der größten Erweiterung in ihrer Geschichte, denn obwohl sie noch nie mehr als drei neue Mitgliedstaaten gleichzeitig aufgenommen hat, wird sie bis zum Jahr 2004 sicherlich zehn Mitgliedstaaten mehr zählen. Diese große Erweiterung bedeutet eine geopolitische Umwälzung Europas. Es wird ihr zu verdanken sein, dass es zur politischen Einigung des europäischen Kontinents kommt, was – anders als in der Politik zuweilen verkürzend und vereinfachend behauptet wird – bislang einmalig in der Geschichte ist. Dies wird unsere Union verändern. Der europäische Konvent übernimmt in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle. Wir arbeiten nämlich bereits im Rahmen eines erweiterten Europas, denn die Bewerberländer nehmen an allen unseren Beratungen teil! Ohne eine grundlegende Überprüfung wird die erweiterte Union nicht mehr zufrieden stellend funktionieren können. Damit diese Überprüfung erfolgt, haben die Verantwortlichen der Union auf ihrer Tagung in Laeken diesen Konvent einberufen, mit dem sich nach der Konferenz von Messina im Jahre 1955 erstmals wieder die Gelegenheit für eine grundlegende Debatte über die Zukunft der Europäischen Union bietet – eine Debatte, an der sich die Öffentlichkeit übrigens beteiligen kann. Darüber werde ich persönlich wachen. Wir laden die Bürgergesellschaft, die Öffentlichkeit, Sie alle ein, aktiv daran teilzunehmen. Der deutsche Beitrag ist in diesem Zusammenhang für das Gelingen des Konvents äußerst wichtig. Warum? Die europaweite öffentliche Debatte über die Zukunft der Union wurde in Deutschland angestoßen. Die Rede von Joschka Fischer vor zwei Jahren in Berlin sowie ein Jahr später die Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau vor dem Europäischen Parlament haben hierzu wesentlich beigetragen. Wichtig ist auch die deutsche Erfahrung. Deutschland hat als föderaler Staat 50 Jahre politische Erfahrung mit der Verteilung von Zuständigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Diese Erfahrung kann für uns sehr nützlich sein. Und schließlich fällt Deutschland natürlich in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht eine gewichtige Rolle in der Union zu. Es zählt zu den grundlegenden Aufgaben des Europäischen Konvents, eine deutlichere Antwort zu finden auf die Frage: "Wer tut was in Europa?". Wie werden die Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten aufgeteilt? Für das Gelingen unseres Vorhabens ist es daher äußerst wichtig, dass Herr Ministerpräsident Teufel persönlich daran mitwirkt, und ich habe seine bisherigen Äußerungen vor dem Konvent mit besonderem Interesse vernommen. Aus den ersten Beratungen des Konvents lassen sich bereits gewisse Schlussfolgerungen ziehen: Von niemandem wurde der Wunsch geäußert, dass die Union neue Zuständigkeiten für die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten übernehmen soll. Viele Konventmitglieder halten jedoch eine Stärkung der Gemeinsamen Außenpolitik, d.h. des Einflusses und der Autorität der Europäischen Union in der Welt, für notwendig. Hierauf werde ich im Folgenden noch ausführlicher zurückkommen. Viele Konventmitglieder haben auch mit Nachdruck die Auffassung vertreten, dass Europa in den heiklen Bereichen der Sicherheits- und Rechtspolitik verstärkt auf grenzüberschreitende Maßnahmen setzen sollte. Aus ihrer Sicht muss die Union vor allem wirksamer gegen Terrorismus, schwere organisierte Kriminalität, illegale Einwanderung, Drogenhandel sowie gegen Menschenhandel, also den Handel mit Frauen und Kindern, vorgehen können. Auch Sie, Herr Ministerpräsident, haben dies nachdrücklich gefordert. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht – als Ergänzung zur Währungsunion – eine bessere Abstimmung im Bereich der Wirtschaftspolitik (und, wie einige meinen, auch der Sozialpolitik) erreicht werden kann. Auf der anderen Seite hat sich deutlich gezeigt, dass die Zuständigkeit für bestimmte Bereiche weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegen sollte, insbesondere für die interne Organisation der Mitgliedstaaten, das Bildungswesen, die berufliche Bildung und das Hochschulwesen, die Aufgaben der öffentlichen Dienste, den Gesundheitsschutz, den sozialen Schutz sowie die Altersversorgung, die Kultur, örtliche Umweltschutzmaßnahmen und regionale Raumplanung und schließlich für das militärische Engagement. Natürlich müssen Entscheidungen über Auslandseinsätze unserer nationalen Armeen, auch wenn sie in Zukunft im Rahmen einer gemeinsamen Politik getroffen werden, weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Wir haben ferner festgestellt, dass die Erwartungen an die Europäische Union genauer formuliert werden müssen. Nur weil sich ein Problem – wie beispielsweise die Arbeitslosigkeit – in allen oder in den meisten Ländern der Europäischen Union stellt, muss es nicht gleich wünschenswert sein, dass die Union spezielle Zuständigkeiten in dieser Frage für Maßnahmen auf europäischer Ebene erhält, während die entsprechenden Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben und die Sozialpartner sich weigern, sie aus der Hand zu geben. Vielmehr sollten wir danach trachten, in diesen Bereichen die Abstimmung – bisweilen auch die Zusammenarbeit – zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Hingegen wäre es unklug und kontraproduktiv, dass in Bereichen, in denen kein Einvernehmen über die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Europäische Union besteht, politische Erwartungen geweckt werden. Nach den bisherigen Diskussionen komme ich zu den folgenden – wohlgemerkt vorläufigen – Überlegungen: Die Europäische Union muss sich auf ihre Hauptzuständigkeiten konzentrieren. Es bedarf einer besseren und deutlicheren Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten im Rahmen der Verträge. Es muss unmissverständlich festgelegt werden, dass alle Zuständigkeiten,die nicht ausdrücklich der Union übertragen wurden, bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Bei der Wahrnehmung der Zuständigkeiten muss das Subsidiaritätsprinzip strikt, aber auch objektiv beachtet werden. Der Gedanke der Subsidiarität hat sich durchgesetzt. Dieses Konzept, das die deutschen Bundesländer so schätzen, ist für das Europäische Parlament und den Konvent zum allgemeinen Maßstab geworden. Die überwiegende Mehrheit der Konventmitglieder befürwortet im Hinblick auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten und im Hinblick auf die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips die Einführung effizienter Kontrollinstrumente und wünscht in der Regel auch eine Beteiligung der nationalen Parlamente. Der Konvent wird diese Frage, mit der sich eine Arbeitsgruppe befassen wird, eingehender prüfen und diesbezüglich substanzielle Vorschläge vorlegen müssen. Auf der nächsten Tagung des Konvents werden wir uns mit der folgenden Frage beschäftigen: "Wer entscheidet was in der Europäischen Union?" Anders ausgedrückt, wie werden die Befugnisse in der Europäischen Union ausgeübt?" Die Untersuchungen, die hierzu durchgeführt wurden, zeugen von einer grenzenlosen Verwirrung, ja von einem großen Durcheinander. Seit den 80er Jahren haben wir uns von den relativ einfachen Bestimmungen des Vertrags von Rom entfernt. Sie in Deutschland haben Bestimmungen, mit denen die Beziehungen zwischen dem Bundestag, dem Bundesrat und der Regierung geregelt werden. Diese Bestimmungen sind vielleicht kompliziert, aber die Bürger vertrauen ihnen. Wissen Sie, dass es in der Europäischen Union für einen gemeinsamen Beschluss des Rates und des Europäischen Parlaments je nach Sachverhalt neun verschiedene Verfahren gibt? Dies ist in der Tat für die Politiker ebenso unverständlich wie für die Bürger. Hier steht unser Konvent vor einer riesigen Aufgabe! Wir werden diese Aufgabe energisch angehen. Und wir zählen dabei auf Sie, Herr Teufel! Aus meiner Sicht muss der Konvent daher unbedingt zu einem konkreten Vorschlag für eine gemeinsame, für die internationale Öffentlichkeit deutlich erkennbare Außenpolitik gelangen. Darin müssen wir drei Fragen beantworten: Mit welchem Mechanismus lässt sich gewährleisten, dass Europa künftig mit einer Stimme spricht? Welches – schnelle und effiziente - Verfahren sollte für die Erarbeitung eines gemeinsamen europäischen Standpunkts eingeführt werden? Welche Einfluss- und Aktionsmittel sind die Mitgliedstaaten bereit, der Europäischen Union für diese gemeinsame Politik zur Verfügung zu stellen? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollten die Fortschritte, die wir im Verlauf der letzten Jahre erzielt haben, nicht unerwähnt bleiben. Die Union hat wichtige Beschlüsse für den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe gefasst. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind bei allen internationalen Aktionen, auch bei den Militäreinsätzen auf dem Balkan, präsent. Dabei übt die Union einen großen Einfluss aus. Dies hat sich im Verlauf der letzten Jahre in Mazedonien gezeigt, aber auch bei der Frage der Beziehungen zwischen Serbien und Montenegro. In beiden Fällen hat der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Herr Javier Solana, eine positive Rolle gespielt. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten verfügen gemeinsam und jeder für sich über beträchtliche Mittel. Allerdings sind sie selten in der Lage, alle diese Mittel, ob diplomatische, wirtschaftliche oder militärische, in den Dienst einer abgestimmten und gemeinsam umgesetzten Politik zu stellen. Dies braucht eine gewisse Zeit, denn wäre es denkbar, dass beispielsweise die diplomatischen Dienste der Mitgliedstaaten durch einen einzigen diplomatischen Dienst der Europäischen Union ersetzt werden? Bei dieser wie bei allen anderen Fragen gilt es, eine phantasievolle Lösung zu finden, so dass alle bestehenden Mittel der Mitgliedstaaten in den Dienst einer europäischen Politik gestellt werden können. So ist der Beschluss, gemeinsam ein Militärtransportflugzeug zu bauen, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Kräfte zu bündeln, werden wir unsere Ressourcen verzetteln und den aktuellen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sein. Meine Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich einen Appell an Sie richten! Das europäische Aufbauwerk kann nicht ohne eine aktive, entschlossene und geduldige Beteiligung des deutschen Volkes gelingen. Ich glaube, dass ich die Deutschen, deren Kultur und Sprache mir von Kindheit an vertraut sind, gut kenne. Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie auf Ihre deutsche Identität verzichten sollen, ebenso wenig wie wir dies von den Franzosen, den Italienern oder den Schweden verlangen. Ich bitte Sie nur, sich gleichermaßen als Europäer und als Deutsche zu verstehen – als Deutsche aufgrund der Geschichte und der Kultur, als Europäer mit Blick auf unseren gemeinsamen Kontinent und auf die Zukunft. Ich bin nach Stuttgart gekommen, um Sie, Herr Ministerpräsident, und alle Bürger Baden-Württembergs um Unterstützung zu bitten: Helfen Sie uns alle beim Aufbau des Europas unserer Träume!