Verhofstadt 25.07.2001 Rede "Welche Zukunft für welches Europa?" auf dem 7. europäischen Forum Wachau in Göttweig - im Wortlaut Herr Bundeskanzler, Herr Landeshauptmann, Ihre Exzellenzen, meine Damen und Herren, ich bin den Veranstaltern des Europäischen Forums Wachau besonders dankbar für ihre Einladung. Zunächst bietet das Forum mir Gelegenheit, die Bande zwischen Belgien und Österreich zu bekräftigen. Daher sehe ich dem Gespräch, das ich im späteren Verlauf des Tages mit Kanzler Schüssler über die wichtigsten europäischen Fragen führen werde, erwartungsvoll entgegen. Wie Sie wissen, übernimmt Belgien in genau sieben Tagen den Vorsitz der Europäischen Union. Ab diesem Augenblick muss ich mir in meiner Eigenschaft als Präsident des Europäischen Rats bei meinen Äußerungen und Interventionen eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Das haben mir zumindest die Diplomaten ans Herz gelegt. Offenbar ist dies also meine letzte Chance, unbefangen über die wichtigsten europäischen Fragen und insbesondere die Zukunft Europas zu sprechen. Ich tue dies in einem entscheidenden Augenblick, kurz vor der anstehenden - nunmehr fünften – Erweiterung der Europäischen Union. Aber diesmal handelt es sich um viel mehr als bloß eine neuerliche Erweiterung. Schon in wenigen Jahren wird es 25, 27 oder sogar noch mehr Mitgliedstaaten geben. Die erweiterte Union wird kaum noch Ähnlichkeit haben mit der Union, in der wir heute leben. Daher ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, wie die erweiterte Union aussehen wird. Welches Projekt wird sie unterstützen? Auf welchen Werten wird sie beruhen? Welche Ziele wird sie haben, und welche Kompetenzen? Wie wird sie ihre Beschlüsse fassen? Wie wird sie finanziert werden? Welche Einrichtungen wird sie umfassen? Diese Fragen sind von höchster Bedeutung. Mehr noch, von den Antworten darauf hängt es ab, ob die europäische Integration die Erweiterung überleben wird. Ich übertreibe keinesfalls. Wenn es uns nämlich nicht gelingt, die richtigen Antworten zu finden, läuft die Europäische Union Gefahr zu versanden, sich in widersprüchlichen nationalen Interessen, in einem institutionellen Durcheinander zu verzetteln. Wir stehen vor einer gewaltigen Herausforderung. Zu ihrer Bewältigung brauchen wir unbedingt neuen Schwung. Nachdem wir die Union jahrzehntelang Schritt für Schritt aufgebaut haben, ist nun der Zeitpunkt für einen echten Quantensprung gekommen. Meine Damen und Herren, tatsächlich war schon vor Nizza deutlich geworden, dass ein solcher Sprung unumgänglich ist. Die Erweiterung wirft zwangsläufig die Frage auf: "Wie lässt sich das politische Leben in einer Union mit 25, 27 oder noch mehr Mitgliedstaaten strukturieren?" Mehrere politische Führer Europas haben sich in den letzten Jahren auf bemerkenswerte Weise zu diesem Thema geäußert. Zur Vorbereitung dieser Rede habe ich all diese Ausführung noch einmal durchgelesen. Und ich muss sagen, in Europa kommen die Dinge in Bewegung. Ideen, die noch vor wenigen Jahren tabu waren und kurzerhand als Hirngespinste von Eurofanatikern abgetan wurden, etwa die Idee einer europäischen Verfassung, einer europäischen Asylpolitik oder eines europäischen Staatsanwalts, werden ohne Wenn und Aber befürwortet. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die Denkweisen in die richtige Richtung entwickeln. Es ist jedoch nicht alles eitel Freude und Sonnenschein. Vor zwei Wochen fand in Irland das Referendum zur Ratifizierung des Vertrags von Nizza statt. Eine Mehrheit stimmte gegen den Vertrag. Aber es war die Mehrheit einer Minderheit. Auch wenn es zutrifft, dass 54 % der Teilnehmer des Referendums den Vertrag ablehnten, hielten es lediglich 33 % aller Stimmberechtigten der Mühe wert, ihre Stimme abzugeben. Über die Ursachen dieses Ergebnisses ist schon viel gesagt worden: das irische Misstrauen gegenüber der europäischen Verteidigungspolitik, die Sorge, nach der Erweiterung von den Strukturfonds weniger Mittel zu erhalten als bisher, die Tatsache, dass die Befürworter des Vertrags unzureichend mobilisiert wurden. Meiner Meinung nach gibt es jedoch einen vierten und weitaus wichtigeren Grund für das irische Ergebnis. Das "Nein" der Iren ist, ebenso wie das dänische "Nein" im letzten Jahr, die Folge einer Identitätskrise, von der die Europäische Union derzeit erfasst ist. Zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern besteht eine Kluft, die sich seit Maastricht nicht verringert hat. Wie es übrigens auch häufig eine Kluft zwischen den Bürgern und ihren nationalen Regierungen gibt. Wie dem auch sei, die Bürger stellen sich immer mehr Fragen angesichts eines Europas, dem sie mangelnde Transparenz, einen übertriebenen Hang zur Regulierung, die unklare Abgrenzung seiner Befugnisse und unzureichende demokratische Legitimität vorwerfen. Besonders fraglich erscheint dem Bürger ein Europa, das sich nicht darauf beschränkt, den allgemeinen Rahmen und die großen Linien vorzugeben, sondern auch noch die kleinsten Details der praktischen Umsetzung jeder einzelnen Richtlinie und jedes einzelnen Aktionsprogramms regeln will. Wie ich eben sagte, ist diese Kluft zwischen dem Bürger und der Regierung nichts Neues. Sie besteht auch in den Mitgliedstaaten. In praktisch allen parlamentarischen Demokratien ist dieses Phänomen zu beobachten. Auf jeden Fall geht aus Meinungsumfragen hervor, dass der Bürger zur Europäischen Kommission nicht weniger Vertrauen hat als zu seiner bzw. ihrer eigenen Regierung, zum Europäischen Parlament nicht weniger als zu den nationalen Parlamenten. Dies ändert allerdings nichts daran, dass es sich um ein ernsthaftes Problem handelt. Die beste Grundlage für die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union besteht meines Erachtens darin, das Vorhandensein einer Identitätskrise zuzugeben und nicht die Augen zu verschließen vor der zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber dem europäischen Vorhaben. Man muss bereit sein, die Schwachpunkte des europäischen Aufbaus wahrzunehmen, um eine neue Zukunft für Europa entwerfen zu können. Was also läuft falsch? Welche Fehler werden gemacht? Das Hauptübel der Union ist eindeutig ihr Mangel an Transparenz. Die Union hat sich zu einem Wirrwarr von Einrichtungen und Instrumenten entwickelt. Als ich an der Universität studierte, Herr Bundeskanzler, war alles noch ganz einfach. Die politischen Instrumente Europas waren klar und präzise. Es gab Rechtsvorschriften, Richtlinien und Beschlüsse, und daneben die rechtlich unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen. Aber in dem Maße, wie sich die Politikbereiche der Union systematisch ausgedehnt haben, sind immer mehr politische Instrumente entstanden. Dies hat zu einem wahren Wildwuchs der Maßnahmen geführt, die der Union zur Verfügung stehen. Auf diesen Punkt möchte ich etwas näher eingehen. Wie wir alle wissen, beruht die Europäische Union auf drei Grundpfeilern. Der erste betrifft die Politikbereiche der Gemeinschaft, der zweite die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und der dritte die polizeiliche und gerichtliche Zusammenarbeit. Nun kommen jedoch in jedem dieser Grundpfeiler verschiedene politische Instrumente zur Anwendung. Im zweiten Grundpfeiler gibt es fünf verschiedene Arten von Maßnahmen: die Prinzipien und allgemeinen Leitlinien, Beschlüsse über gemeinsame Strategien, Beschlüsse "tout court", gemeinsame Aktionen und gemeinsame Standpunkte. Im dritten Grundpfeiler wiederum stehen dem Rat vier verschiedene Instrumente zur Verfügung: gemeinsame Standpunkte – die sich allerdings grundlegend von den gemeinsamen Standpunkten im zweiten Grundpfeiler unterscheiden –, Rahmenbeschlüsse, Beschlüsse und Übereinkommen. Wenn es dabei bliebe, könnte man sich ja noch einigermaßen zurechtfinden. Aber auch im ersten Grundpfeiler ist es zu einer wahren Inflation politischer Instrumente gekommen. In jedem politischen Bereich wurden spezifische politische Instrumente entwickelt: grobe Richtlinien, Leitlinien "tout court", Fördermaßnahmen, Koordinationsinitiativen, Rahmenprogramme, Aktionsprogramme, Aktionspläne, Mehrjahresprogramme, Vorschriften und geeignete Vorschriften (was offenbar nicht das Gleiche ist), Regelungen, Maßnahmen, geeignete Maßnahmen und spezifische Maßnahmen, Angleichungsmaßnahmen, einheitliche Prinzipien und so weiter und so fort. All dies ist in den Verträgen enthalten, auf denen die Union aufbaut. Ich habe nicht übertrieben. Ich bin nicht einmal ins Detail gegangen. Ist es also verwunderlich, dass ein Gefühl der Rechtsunsicherheit auftritt? Ist es nicht höchste Zeit, den rechtlichen Geltungsbereich wie auch die mögliche gerichtliche Durchsetzbarkeit der verschiedenen Maßnahmen, die der Union zur Verfügung stehen, im Vertrag genau festzulegen? Und überhaupt – ist solch ein Arsenal an politischen Instrumenten wirklich notwendig? Aber nicht nur politische Instrumente sind im Überfluss vorhanden. Die Europäische Union fußt darüber hinaus auf zu vielen Verträgen: der Vertrag über die Europäische Union, der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Gemeinschaft, der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Atomgemeinschaft und – bis zu seinem Auslaufen im Juli 2002 – der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Es ist wirklich an der Zeit, die europäischen Verträge zu überarbeiten und in einem kompakten, eindeutigen und verständlichen Text zusammenzufassen. Ebenso dringend muss die Unterscheidung – vielleicht wäre der Begriff Verwirrung treffender! – zwischen der Union und der Gemeinschaft beseitigt werden. Wir brauchen eine Union, die mit einer Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist. In der Praxis läuft es darauf hinaus, die Unterscheidung zwischen den Grundpfeilern aufzuheben, die den Bürgern sowieso völlig unverständlich ist. Außerdem müssen wir beginnen, die Rechte und Freiheiten der europäischen Bürger genau zu bestimmen. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist ein erster Schritt in diese Richtung. Letztlich muss all dies in die Konstitutionalisierung der Union münden. Ehrlich gesagt verstehe ich die Gegner einer europäischen Verfassung nicht. Jedes Land hat eine, und jeder findet das völlig normal. Die Europäische Union muss auch eine Verfassung bekommen. Meine Damen und Herren, diese Betrachtungen über die politischen Instrumente und die Verträge führen mich natürlich zu den Politikbereichen, zu den Kompetenzen der Europäischen Union. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union erklärt fünf allgemeine Ziele zur Aufgabe der Union. Artikel 2 des Vertrags zur Errichtung der Europäischen Gemeinschaft sieht darüber hinaus acht Ziele vor, die in politischen Bereichen mit ihren jeweiligen spezifischen Zielen zu verwirklichen sind. All dies zeichnet ein ziemlich verschwommenes Bild unseres europäischen Vorhabens. Und das ganz abgesehen von der Tatsache, dass es an einer deutlichen Unterscheidung zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen fehlt und die Verträge hinsichtlich der Restkompetenzen keine Klarheit schaffen. Wenn man dann noch die eingangs beschriebene Komplexität der politischen Instrumente bedenkt, ergibt sich eine ungeheuer verwickelte Struktur, die sich den europäischen Bürgern einfach nicht klarmachen lässt. Im Gegensatz zur Inflation der politischen Instrumente stellt sich die Frage der Befugnisse nicht nur in rein quantitativer Hinsicht. Es geht nicht darum, die Kompetenzen oder Ziele der Union in Frage zu stellen. Vielmehr müssen diese gerade wegen der Komplexität des aktuellen Systems der Zuweisung von Befugnissen neu geordnet, festgelegt und genau beschrieben werden. Wir müssen die Antwort auf die Frage parat haben, welches Gleichgewicht zwischen den Befugnissen der Union, der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen angestrebt wird, mit anderen Worten die Kompetenzordnung. Auf jeden Fall ist ganz offensichtlich klar, nach welchen Grundsätzen wir vorzugehen haben. Jede Kompetenz muss auf der jeweils am besten geeigneten Regierungsebene ausgeübt werden, das heißt – im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip – so effizient und bürgernahe wie möglich. Das wahre Problem liegt freilich darin, diese Prinzipien in alltägliche europäische Praxis umzusetzen. Euro-Fans wollen so viel wie möglich, wenn nicht gar alles übertragen. Sie wollen eine Union, die der Souveränität und Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten ein Ende machen würde. Im Gegensatz dazu stehen die Euro-Skeptiker, für die die Union allerhöchstens die Dachstruktur eines lockeren Bunds souveräner Staaten sein kann. Ich nutze die heutige Gelegenheit, diesen beiden Standpunkten energisch zu widersprechen. Die Befürworter der nationalen Souveränität – die Skeptiker – kommen fünfzig Jahre zu spät. Schon seit 1952 gibt es ein übernationales Europa. Und ganz offensichtlich besteht kein vernünftiger Grund, das Wachstum der Union im Einklang mit der Gemeinschaftsmethode nicht fortzusetzen. Gleichzeitig aber müssen die Verfechter eines übernationalen Europas einsehen und begreifen, dass die Mitgliedstaaten als solche nicht einfach verschwinden werden. Sie sind und bleiben die politischen Bausteine einer europäischen Identität, die durch diese Vielfalt nicht geschwächt, sondern eher gestärkt wird. Eine vernünftige Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten lässt sich nicht auf die Umsetzung einer dieser beiden erwähnten Denkrichtungen beschränken. Eine funktionsfähige Europäische Union verlangt allerdings klare Regelungen, wobei die einzige wirklich wesentliche Frage lautet, auf welcher Regierungsebene die betreffende Kompetenz optimal und im Interesse aller auszuüben ist. Damit will ich sagen, dass es Sache der Union und der Mitgliedstaaten ist, für jede Kompetenz das beste Gleichgewicht zu finden und die Kompetenzen der Union dementsprechend neu zu ordnen. Da wir seit 1952 Schritt für Schritt vorgegangen sind, wurde dieser Punkt nie in Angriff genommen. Fast fünfzig Jahre lang ist Europa sozusagen organisch gewachsen. Nur selten wurde die Frage nach seiner eigentlichen Bestimmung, dem letztlich angestrebten Ergebnis oder der optimalen Verteilung der Kompetenzen gestellt. Dies gilt jedoch nicht für den Bürger. Wie aus der letzten Eurobarometer-Erhebung klar hervorgeht, wissen die Bürger nur zu gut, was sie in Bereichen wie Verteidigung, Außenpolitik und so fort von der Europäischen Union erwarten. Gleichzeitig sind sie der Meinung, dass die Union sich zu sehr mit der praktischen Umsetzung verschiedener politischer Maßnahmen beschäftige, die besser der nationalen und, was die föderalen Staaten anbelangt, sogar der regionalen Ebene überlassen blieben. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich rede hier nicht der Übertragung ganzer Politikbereiche von der Union an die Mitgliedstaaten das Wort. Ich bin nicht dafür, dass ganze Politikbereiche wieder nationalisiert werden sollten, um so mehr, als in den meisten Fällen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union handlungsfähig sind. Indessen bin ich der Überzeugung, dass bestimmte Bereiche unter die Hauptverantwortung der Mitgliedstaaten gehören und die Union dort eine rein unterstützende Rolle spielen sollte. Dabei denke ich vor allem an Kultur, Sport oder Bildung. Sollten wir nicht schriftlich niederlegen, dass diese Bereiche zu den Kernaktivitäten der Mitgliedstaaten zählen? In diesen Bereich sollte die Union lediglich berechtigt sein, die von den Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen zu ergänzen, und auch das nur unter der Bedingung, dass die Mitgliedstaaten dies wünschen und nachweisbares Interesse an solchen Ergänzungsmaßnahmen auf Unionsebene besteht. Liegt darin nicht der eigentliche Sinn der Subsidiarität? Dies bringt uns zu den Bereichen, in denen die Union Gesetze erlässt. Sollte sich die Union nicht in erster Linie darauf konzentrieren, einen Rahmen zu schaffen, die Bedingungen für eine bestimmte Politik festzulegen und ihre Umsetzung durch die Mitgliedstaaten oder ihre Regionen zu überwachen? Kümmert sich die Union nicht viel zu ausführlich um das tägliche Management politischer Maßnahmen, was im Übrigen zur Entstehung von Hunderten von Verwaltungsausschüssen geführt hat? Nur ein paar Beispiele. Ist es wirklich Sache der Union, die praktischen Einzelheiten der Agrarpolitik festzulegen? Muss die Union sich wirklich um jedes einzelne Element in Verbindung mit der Umsetzung ihres FTE-Rahmenprogramms kümmern? Gehört all dies wirklich zu ihren wesentlichen Aufgaben? Meiner Meinung nach nicht. Die Mitgliedstaaten und ihre Regionen sollten nachdrücklicher in die Ausübung derartiger Kompetenzen einbezogen werden. Diese Schlussfolgerung bringt mich natürlich wieder zum Konzept der Subsidiarität. Wir müssen uns nämlich auch vor jeder übereifrigen oder blinden Anwendung oder falschen Auslegung dieses Konzepts hüten, da sonst die Gefahr besteht, dass die Kompetenzen der Union im Ganzen untergraben werden. Bei der Subsidiarität geht es vor allem um die Beziehung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. In meinen Augen bezieht sich das Prinzip der Subsidiarität auf das Recht der Union, innerhalb ihrer 23 Politikbereiche mithilfe klar festgelegter Mittel klar festgelegte Ziele zu verfolgen. Der aktuelle Geltungsbereich dieses Prinzips ist das Ergebnis eines langen Reifeprozesses. Es wäre meines Erachtens sehr unklug, dieses Ergebnis beeinflussen zu wollen, hauptsächlich deshalb, weil offenbar jeder Mitgliedstaat seine eigene Meinung zur korrekten Anwendung dieses Prinzips hat. Lassen Sie mich mit einem Beispiel veranschaulichen, was ich meine. Nehmen wir einmal die Forschungs- und Entwicklungspolitik der Union. Ein kleinerer Mitgliedstaat, dem es auf seinem eigenen Territorium an großen Industriegruppen oder finanziell gut ausgestatteten Universitäten fehlt, hat logischerweise mehr Bedarf an den Forschungs- und Entwicklungsprogrammen der Union als ein größerer Mitgliedstaat, der selbst über solche Gruppen und Universitäten verfügt. Herr Bundeskanzler, in meinem eigenen Land, das traditionsgemäß für die weitere europäische Integration eintritt, stelle ich Tag für Tag einen gewissen Widerwillen gegen die Ideen fest, die ich gerade geäußert habe. Viele verstehen nicht, wieso ich bereit bin, die Debatte über eine neuen Kompetenzenteilung zu eröffnen. Sie befürchten, diese Debatte werde vor allem den Interessen der Europagegner dienen, denjenigen also, die jede weitere europäische Integration ablehnen. Diese Sorge halte ich jedoch für unbegründet. Ich glaube sogar, das Gegenteil trifft zu. Solange wir, die Verfechter eines stärkeren Europas, nicht bereit sind, die Debatte zu eröffnen und die Schwächen Europas zu analysieren, werden wir auch nicht in der Lage sein, die zunehmenden Kritiken zufrieden stellend zu beantworten. Ich möchte sogar noch deutlicher werden: Diejenigen, die für mehr europäische Integration eintreten, wären gut beraten, mehr Rechtssicherheit zu schaffen und Ordnung in das Chaos der politischen Instrumente zu bringen, und zwar unter echter Berücksichtigung der legitimen Erwartungen der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen. Denn nur wenn wir bereit sind, hinsichtlich der Ziele, Befugnisse und politischen Instrumente der Union mehr Rechtssicherheit zu schaffen, könnte es uns gelingen, die derzeit gegen eine weitere Integration eingestellten Länder auf unsere Seite zu bringen. Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich die weitere europäische Integration voll und ganz befürworte. Und auch wenn es paradox scheinen mag, ist es zu diesem Zweck unbedingt notwendig, dass die Union sich auf ihre Kernaktivitäten konzentriert, einschließlich jener Aufgaben, die sie derzeit gar nicht oder nur am Rande wahrnimmt. Zum Beispiel sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Unterstützung der Währungsunion, die Einführung minimaler Regeln für den Sozialschutz, eine gemeinsame Asyl- und Wanderungspolitik, eine wirklich gemeinsame Außenpolitik und eine glaubwürdige gemeinsame Verteidigungspolitik. Zwar hat die Union schon heute all diese Kompetenzen, zumindest theoretisch. Aber derzeit schöpft sie die damit verbundenen Möglichkeiten nicht voll aus, was häufig mit der Regel der Einstimmigkeit zusammenhängt. Wenn die Union in absehbarer Zukunft mehr als 25 Mitgliedstaaten umfasst, fürchte ich, dass Fortschritte in diesen entscheidenden Bereichen sogar unmöglich werden. Aus diesem Grund bin ich ein überzeugter Anhänger des Mechanismus der verstärkten Zusammenarbeit, den wir in Nizza flexibler gestaltet haben. Diese verstärkte Zusammenarbeit sollte nicht als Ausschlussmechanismus betrachtet werden, sondern vielmehr als ein dynamischer, auf Einbeziehung gerichteter Prozess, der die Integration vorantreiben wird. Letztlich dreht sich die derzeitige europäische Debatte vor allem um die folgende Frage: Soll sich die Europäische Union zu einer gewöhnlichen internationalen Organisation entwickeln, die auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen funktioniert, oder gehen wir den Weg der Gemeinschaftsmethode, wenn auch in einer neuen Variante, die den Erfordernissen in puncto Transparenz, Effizienz und demokratische Legitimität gerecht wird? Ich bin davon überzeugt, dass insbesondere die bevorstehende Erweiterung der Union uns zu einigen grundlegenden Entscheidungen zwingen wird. In einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten wird die zwischenstaatliche Zusammenarbeit, wenn sie nicht in Unentschlossenheit versanden soll, zwangsläufig die Form eines "Direktoriums" annehmen oder, anders ausgedrückt, die einer de-facto-Verwaltung durch einige größere Mitgliedstaaten. Und selbst wenn sich diese Sorge als unbegründet erweisen sollte, bleibt die Tatsache bestehen, dass ein zwischenstaatlicher Ansatz – in welcher Form auch immer – niemals den Mangel an Gemeinschaftseinrichtungen wettmachen kann. Dies lässt sich mit ein paar Beispielen gut veranschaulichen. Zuallererst die jüngsten Balkankriege. Wir hatten weder die Einrichtungen noch die Mittel, um prompt und angemessen zu reagieren. Schließlich ergriffen die Vereinigten Staaten die Initiative. Ein zweites Beispiel ist der Euro. Es ist offensichtlich, dass die Märkte den Euro unterbewerten. Schließlich sind die zugrunde liegenden sozioökonomischen Daten positiv: Die Wachstumsprognosen der Wirtschaft sind immer noch gut, die Arbeitslosenquoten gehen zurück, die Inflation bleibt niedrig. Woran hapert es also? Die Antwort liegt auf der Hand: Es fehlt eine gemeinsame sozioökonomische Politik und eine echte politische Union. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Es gibt Länder ohne Währung, aber es gibt keine Währungen ohne Land. Ein drittes Beispiel, das die Notwendigkeit einer Neugestaltung des gemeinschaftlichen Vorgehens sehr krass vor Augen führt, ist die Frage der Wanderung. Trotz der Anstöße, die der Europäische Rat von Tampere gegeben hat, ist klar, dass Regierungsregelungen allein nicht ausreichen werden, um konkrete Ergebnisse herbeizuführen. Wir müssen tatsächlich einen europäischen Rechtsraum schaffen und eine gemeinsame Politik zur Verbrechensbekämpfung sowie eine gemeinsame Asyl- und Wanderungspolitik vereinbaren, und zwar mithilfe gemeinschaftlicher Verfahren und Einrichtungen. Wenn wir nicht so vorgehen, werden wir überhaupt nichts erreichen. Mein viertes und letztes Beispiel betrifft die Umwelt und die Volksgesundheit. Inzwischen muss jedem klar sein, dass wir die aufeinanderfolgenden Lebensmittelkrisen nicht mehr ausschließlich auf der nationalen Ebene managen können. Von daher auch die Notwendigkeit einer Lebensmittelbehörde, die für mehr als reine Beratung zuständig ist. Und was die Umwelt und insbesondere den Klimawandel anbelangt, ist auf internationaler Ebene – beispielsweise im Hinblick auf die Umsetzung des Protokolls von Kyoto – nur ein gemeinsames Vorgehen der Union sinnvoll. Bedeutet dies, dass der zwischenstaatliche Ansatz um jeden Preis zu vermeiden ist? Natürlich nicht. Regierungszusammenarbeit kann ein Ausgangspunkt und manchmal sogar ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Vereinheitlichung sein. Sie darf jedoch nie zu einem Ziel an sich werden. Während nämlich die Gemeinschaftsmethode mit qualifizierten Mehrheiten arbeiten kann, beruht der zwischenstaatliche Ansatz immer auf Einstimmigkeit. Und in vielen Fällen ist dies ein Synonym für Machtlosigkeit und Unentschlossenheit. Meine Damen und Herren, in einer Union, die demnächst eine halbe Milliarde Einwohner zählen wird, kommt es auf Effizienz an. Daher muss der Gemeinschaftsansatz nicht nur modernisiert, sondern außerdem auf alle Politikbereiche der Verträge ausgedehnt werden. Die einen mögen dies einen Staatenbund nennen, die anderen eine Union von Nationalstaaten. An dieser semantischen Debatte möchte ich mich nicht beteiligen. Es geht ja nicht um den Namen, sondern um die Effizienz! Nur ein effizientes Europa, das der großen Vielfalt von Mitgliedstaaten und Regionen Rechnung trägt, kann das Vorhaben vollenden, das den Völkern Europas im Laufe der letzten fünfzig Jahre so viele Vorteile gebracht hat. Auch die Verfechter der weiteren europäischen Integration müssen die verschiedenen Identitäten von Staaten und Völkern berücksichtigen, denn gerade diese Identitäten machen das Wesen der europäischen Identität aus. Folglich ist unser europäisches Vorhaben das genaue Gegenteil eines zentralisierten Superstaats, den die Skeptiker zu Recht fürchten und ablehnen. In unserem Vorhaben wird die Macht geteilt und verteilt. Einige Befugnisse sollen zentralisiert, andere wiederum dezentralisiert werden. Unser Plan beruht auf einem ausgewogenen Gleichgewicht und Subsidiarität, aber auch auf Einheit und Effizienz. Herr Bundeskanzler, Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich noch kurz auf die Einrichtungen eingehen, die einer erweiterten Union zur Verfügung stehen sollten. Es ist ja nicht die Regel, erst am Ende einer Rede über Europa auf die institutionellen Fragen einzugehen. Aber wir müssen zunächst die Ziele, Kompetenzen und politischen Instrumente der Union festlegen. Erst danach können wir beginnen, uns mit der Frage der Einrichtungen zu befassen. In den letzten Jahrzehnten haben wir zu oft das Gegenteil getan. Wir haben uns in endlosen, in den Augen der Bürger völlig nebensächlichen institutionellen Diskussionen verzettelt. Ein Prinzip sollte sich wie ein roter Faden durch die gesamte institutionelle Debatte ziehen, und zwar die Verstärkung der demokratischen Legitimität. Vor diesem Hintergrund sollten sich der Rat und das Europäische Parlament zu den zwei Kammern einer einzigen Legislative entwickeln, wobei der Rat als Beauftragter der Mitgliedstaaten fungierte und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen Völker. Im Rat sollte die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zur Regel werden, wie auch das Recht auf Mitentscheidung für das Europäische Parlament. Im Rat – dem natürlich auch etliche Ausführungsaufgaben zufallen – ist auch Raum für die konstitutionellen Regionen der föderalen Mitgliedstaaten. In meinem Land wird dies als selbstverständlich empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil die "Gemeinschaften" und "Regionen", in Bereichen, für die sie intern zuständig sind, internationale Kompetenzen haben. Sie werden daher feststellen, dass während der belgischen EU-Präsidentschaft der Vorsitz bestimmter Ratstagungen, etwa der Industrierat, der Forschungsrat, der Kulturrat oder der Bildungsrat, von den zuständigen Ministern der "Gemeinschaften" oder "Regionen" und nicht von Ministern der föderalen Regierung geführt wird. Wir brauchen auch eine starke Kommission, die sich voll auf ihre in den Verträgen vorgesehenen Kernaufgaben konzentriert, eine europäische Regierung, die sich nicht in der täglichen Leitung vieler verschiedener Programme verzettelt. An der Spitze einer solchen starken Kommission sollte meiner Meinung nach ein direkt von den Völkern Europas gewählter Präsident stehen. Gestützt auf das von den Wählern erteilte Mandat hätte der Kommissionspräsident eine ausreichende Vertretungsmacht, um die europäische Exekutive zu leiten und gegenüber dem Europäischen Parlament die Verantwortung dafür zu tragen. In Nizza wurde ein erster Schritt in die richtige Richtung gemacht, als nämlich beschlossen wurde, den Präsidenten der Kommission fortan mit der qualifizierten Mehrheit der Ratsstimmen zu wählen. Bisher war Einstimmigkeit vorgeschrieben. Nun ist es an uns, noch einen Schritt weiter zu gehen. Wir sollten diese Gelegenheit auch dazu nutzen, der Zweideutigkeit in Verbindung mit der Außen- und der Geldpolitik ein Ende zu machen. Wir werden nicht umhin können, einen Sprecher für den Euro einzusetzen und die Funktionen des Hohen Vertreters Solana und des Kommissars Patten miteinander zu verschmelzen. Die Reform der Einrichtungen, die ich hier angesprochen habe, ist alles andere als eine intellektuelle Spielerei. Sie spiegelt vielmehr die grundlegenden demokratischen Erwartungen der Union wider: Transparenz, Effizienz und Legitimität. Die Erweiterung der Union macht diese Reform unumgänglich. Eine Union mit 27 oder vielleicht sogar 35 Mitgliedstaaten kann nicht auf die gleiche Weise demokratisch sein wie die Sechs von 1952 oder die Zwölf von 1986. Heute haben wir diesbezüglich größere Ambitionen. Meine Damen und Herren, wer die europäische Einheit ablehnt, geht ein enormes Risiko ein: Zersplitterung der Randgebiete Europas, Unsicherheit an seinen Außengrenzen, zunehmende Wanderbewegungen, Konflikte und sogar Kriege. In den letzten fünfzig Jahren hat die Europäische Union gezeigt, dass es auch anders geht. Selbst jahrhundertealte Feinde können in Frieden zusammenleben, Fehden überwunden werden. Frieden und Stabilität sind auf dem Alten Kontinent kein Traum mehr. Diese Perspektive dürfen wir nie mehr aus den Augen verlieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.