Schröder 17.04.1998 Rede auf dem SPD-Parteitag Leipzig - im Wortlaut Liebe Genossinnen! Liebe Genossen! Liebe Freundinnen! Liebe Freunde! Und vor allen Dingen, lieber Helmut Schmidt! Wir wenden uns an die Bürgerinnen und Bürger und sagen ihnen: Wir, die deutschen Sozialdemokraten, sind bereit, die Verantwortung für Deutschland und die Verantwortung für Deutschland in Europa zu übernehmen. Wir Sozialdemokraten treten an, die Regierung des Stillstandes abzulösen. Wir treten an, die notwendige Modernisierung menschlich zu gestalten. Wir treten an, Innovation und Gerechtigkeit zusammenzuhalten und nicht auseinander treiben zu lassen. Wir laden alle dazu ein, dieses Werk mit uns in Angriff zu nehmen - auch und ausdrücklich diejenigen, die nicht schon aus Tradition bei uns sind. Wir bündeln die Kraft des Neuen. Helmut Kohl - das wollen wir einräumen - soll seinen Platz in den Geschichtsbüchern haben. Ich werde seine Verdienste, wo es sie gibt, im Wahlkampf nicht schmälern. Aber ich sage ganz offen und deutlich: Seine Zeit im Amt ist abgelaufen. Nach seinen eigenen Maßstäben ist Helmut Kohl der Kanzler der Arbeitslosigkeit. Er ist der Kanzler der leeren Kassen und der drückenden Schulden, der Kanzler der ungerechten Verteilung, jener, der die soziale Marktwirtschaft zerrissen und das Soziale verdrängt hat. Helmut Kohl, das ist wahr, ist der Kanzler, der die staatliche Einheit vollziehen durfte, aber der die Gesellschaft gespalten hat. Die Union, seine Partei, kuscht vor diesem Kanzler, aber sie folgt ihm nicht. Wohin auch und wie denn? Dem Stillstand kann man schließlich nicht folgen. Was diese Regierung, liebe Genossinnen und Genossen, uns als Stabilität verkaufen will, ist nichts weiter als Erstarrung, als Stagnation und als lähmender Pessimismus. Ich will einen Wahlkampf führen, der die Menschen mitreißt, mitreißt zu einem Aufstand gegen die Alternativlosigkeit. Ich will mit euch zusammen eine Politik machen, die in Deutschland wieder Hoffnung weckt. Deutschland will Anschluß gewinnen an den Aufschwung, einen Aufschwung, der Europa erfaßt, weil unsere Freunde und Nachbarn neue Kraft aus neuen Konzepten gewonnen haben. Das ist in England so, in Frankreich, in den anderen europäischen Staaten, und das wollen wir auch für Deutschland bewerkstelligen. Diese neuen Konzepte, die Hoffnung geben, wollen auch die Menschen in Deutschland, und sie wollen sie von uns, den deutschen Sozialdemokraten. Wir spüren, wieviel Hoffnung und wieviel Zutrauen wieder in die SPD, unsere SPD, gesetzt werden. Schon das, liebe Genossinnen und Genossen, löst Blockaden auf, setzt neue Ideen frei und spornt an. Deshalb sage ich: Der nächste Aufschwung, der kommen wird, das wird schon unser Aufschwung sein. Wir setzten auf den Optimismus der Menschen, nicht auf ihre Ängste. Auf Angst zu setzen, das ist das Rezept des Wahlkampfpfarrers der CDU. Uns, liebe Freundinnen und Freunde, beirrt das nicht. Unser Volk - das wissen wir - wünscht den Regierungswechsel. Seit März - das weisen alle Daten aus - glauben die Menschen in Deutschland auch, daß er kommt. Das ist der Grund, warum Schäuble und andere jetzt, wo sie nur können, Ängste vor viel zuviel Wandel schüren. Sie kalkulieren kalt: Die Folgen der Globalisierung, das Tempo der technologischen Veränderungen, die Vereinigung, die Ablösung der D-Mark durch den Euro - das alles hat durchaus Unsicherheit unter die Menschen gebracht. Das möchte Schäuble, das möchte die Union politisch ausbeuten. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, es ist nicht Veränderung, vor der Deutschland Angst haben muß. Nein, Angst haben muß man in Deutschland vor einer unfähigen politischen Führung in Bonn, einer politischen Führung, die die Menschen im Stich gelassen hat und weiter im Stich läßt. Wenn wir unserer Nation die Sorge nehmen wollen, dann müssen wir Ursache und Wirkung korrekt benennen. Die wichtigste Ursache der Krise in Deutschland, liebe Genossinnen und Genossen, das ist die Bonner Regierung, das ist diese Koalition. Was immer sie an Details in der Politik falsch gemacht hat - da gibt es eine ganze Menge, was ihr vorzuwerfen ist -, mein zentraler Vorwurf an Kohl und seine Leute lautet: Ihr seid nicht in der Lage, die schöpferischen Kräfte, die es in Deutschland gibt, zu bündeln und in das nächste Jahrhundert, das zugleich das nächste Jahrtausend ist, zu führen. Das ist der Vorwurf, den wir euch machen. Deshalb müßt ihr abgelöst werden. Weil das immer mehr und mehr Menschen in Deutschland spüren, gibt es den untauglichen Versuch der Bonner Koalition, Beschlüsse bei den Grünen, die mit uns Sozialdemokraten nun wirklich nicht zu machen sind, zu einer absurden Drohung mit Rotgrün aufzublasen. Ich sage sehr deutlich: Eine von mir geführte Bundesregierung wird ohne Wenn und Aber zu den Verpflichtungen der NATO stehen. Eine von mir geführte Bundesregierung wird sich an den Friedensmissionen der UNO beteiligen. Gewiß, wir werden das Dreiliterauto fördern und fordern. Aber wir werden nicht den Benzinpreis zur Ursache neuer sozialer Ungerechtigkeit machen. Ich komme, wie ihr wißt, liebe Genossinnen und Genossen, aus einem Flächenland, in dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 50 Kilometer und mehr - eine Strecke, wohlgemerkt - zur Arbeit fahren müssen und öffentliche Personennahverkehrssysteme nicht vorzuhalten sind. Diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sage ich: Ihr könnt euch auf uns verlassen. Wir wissen, daß bei der Belastung der durchschnittlich verdienenden Menschen Ende der Fahnenstange ist. Wir werden euch nichts Zusätzliches zumuten. Kein Zweifel: Wir wollen und werden eine ernsthafte Debatte über die sinnvolle und ressourcenschonende Nutzung der Energie führen. Wir werden eine sinnvolle und ernsthafte Debatte über die ökologische Steuerreform führen. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, in unserem Wahlprogramm ist deutlich gemacht worden, daß im Zentrum unserer Steuerpolitik die Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien steht, daß im Zentrum unserer Steuerpolitik die Entlastung der mittelständischen Unternehmen, der Handwerksbetriebe steht, weil das diejenigen sind, die investieren und Arbeit schaffen in Deutschland. Arbeit zu schaffen, das ist unser gemeinsames Ziel. Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wir haben ein gutes Wahlprogramm. Dafür danke ich euch. Oskar Lafontaine, dir danke ich für die Disziplin, die Vernunft, ja die Selbstlosigkeit, die du mir und der Partei immer wieder demonstriert hast. Ich danke dir vor allen Dingen für die Freundschaft, die ich zu schätzen weiß. Wir - das steht fest, und das wird so bleiben - stellen uns den Herausforderungen gemeinsam. Es ist wahr und im übrigen auch sichtbar: Wir sind keine Zwillinge, aber wir sind ein verdammt gutes Team, liebe Genossinnen und Genossen. Wir haben - und das ist notwendig - den großen Kassensturz angekündigt. Die Regierung - das ist bereits jetzt sichtbar - hinterläßt Schulden, riesige Schattenhaushalte und eine Abgabenhöhe in nie gekanntem Ausmaß. Die öffentlichen Haushalte - das wissen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, in den Gemeinden ebenso - sind kaum noch seriös zu kalkulieren. In unserem Wahlprogramm, liebe Genossinnen und Genossen, haben wir deshalb einen Vorbehalt formuliert. Wir haben ihn "Finanzierungsvorbehalt" genannt. Das zu machen, gebietet die Ehrlichkeit. Aber keine Mißverständnisse: Was wir im Wahlprogramm versprochen haben, das ist realistisch und das ist durchgerechnet. Aber laßt mich hier eines ankündigen: Ich habe an das Regierungshandeln der Zukunft einen ganz besonderen Vorbehalt - einen Vorbehalt, an dem ich mich messen lassen möchte und messen lassen werde, an dem wir uns im übrigen alle werden messen lassen müssen. Ich nenne ihn den "Beschäftigungsvorbehalt". Meine Prüffrage - anders ausgedrückt - ist die Frage nach der Beschäftigungswirksamkeit aller Politik. Auf diesen Vorbehalt möchte ich, liebe Genossinnen und Genossen, fünf Grundsätze beziehen, fünf Grundsätze, die unsere Politik bestimmen werden. Wir werden jede Maßnahme und jedes Instrument unserer Politik auf den Prüfstand stellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Politik kann - das wissen wir - und soll dem Ziel dienen, zu mehr Eigenverantwortung und Initiative zu befähigen. Die Menschen - das ist unsere Auffassung - wollen den Staat nicht vor der Nase haben. Nein, sie wollen ihn an ihrer Seite wissen. Bürokratischen Übermut und obrigkeitsstaatliches Denken haben sie satt - und wir auch. Hier gilt es in Deutschland wieder anzusetzen: beim Leistungswillen und bei der schöpferischen Kraft unserer Menschen. Die muß der Staat ermutigen, die darf er nicht behindern. Aber eines wissen wir auch, liebe Genossinnen und Genossen: Politik ist keine Glücksverheißung. Unser privates Glück - das werdet ihr vielleicht gerade mir glauben - müssen wir schon selber in die Hand nehmen. Aber daß falsche Politik die Menschen ins Unglück treiben kann, das haben wir in den letzten Jahren zur Genüge erlebt. Der zweite Grundsatz: Realismus und Tatkraft sind uns wichtiger als Ideologie. Wir wollen politische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Wir werden deshalb nicht alles anders machen, aber wir werden es wirklich besser machen. Das schaffen wir mit Realitätssinn und Lebensnähe; zum Beispiel durch eine moderne Arbeitszeitpolitik, etwa für mehr Teilzeit; durch eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive, die unserer Befähigung zum lebenslangen Lernen wirklich dient; durch eine Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die es gerade den Frauen ermöglicht, kontinuierlich am Erwerbsleben teilzunehmen, wenn sie das denn wollen; durch eine Steuerreform, die Existenzgründer in den Anfangsjahren von der Unternehmensbesteuerung befreit. Der dritte Grundsatz ist: Wir werden nicht in den Risiken der Globalisierung befangen sein, sondern wir wollen und wir müssen deren Chancen entwickeln. Ja, es ist wahr: Wir können von anderen Ländern lernen. Aber wir können und wir dürfen nichts kopieren. Wir werden in unseren eigenen Strukturen unsere eigenen Antworten finden müssen. Aber wir werden nicht Opfer der Globalisierung werden, sondern mit neuer Politik ihre Chancen nutzen. In diesem Zusammenhang, lieber Helmut Schmidt, möchte ich sagen: Mit dir ist bis heute die gute Erinnerung an eine Politik verknüpft, die den Ehrentitel tragen durfte: Das Modell Deutschland. Daran wollen wir anknüpfen, das wollen wir beleben, das wollen wir erneuern. Damals haben sich die Sozialdemokraten darangemacht, Modernität und soziale Verantwortung wirksam werden zu lassen. Das gleiche Problem beschäftigt uns heute mit einem lobenswerten Unterschied: Das Modell Deutschland wird diesmal das ganze Deutschland erfassen. Wir werden - wie damals deine Regierung, lieber Helmut - verläßliche Partner für ein starkes und soziales Europa sein. Der vierte Grundsatz wird sein: Wir suchen bei jedem Problem, das auf uns zukommt, den Konsens und die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Das tun wir unabhängig vom Parteibuch und von formaler Zuständigkeit, auf Zeit, wenn nötig, und auf konkrete Problemlösungen orientiert. Ich habe, liebe Genossinnen und Genossen, die Erfahrung gemacht: Es gibt in unserer Bevölkerung unendlich viel Sachverstand, der nur darauf wartet, genutzt zu werden. Das verstehen wir unter einer neu gedachten konzertierten Aktion. Schließlich fünftens: Wenn die Menschen am 27. September die Regierungsverantwortung in unsere Hände legen, dann haben sie ein Recht auf Transparenz und auf Überprüfbarkeit unseres politischen Handelns. Ich will dafür ein Beispiel geben. Ich habe in Niedersachsen gute Erfahrungen damit gemacht, daß nicht alle Gesetze gleich für die Ewigkeit gedacht und gemacht werden. Es ist nur vernünftig, auch Gesetze auf ihre Wirksamkeit und ihre tatsächlichen Auswirkungen zu überprüfen. Ich werde in meiner Regierungserklärung deshalb anregen, neue Gesetze da, wo es eben geht, mit einer Überprüfungsfrist zu versehen. Das Parlament soll ein Gesetz nach einem vernünftigen Zeitraum erneut zur Vorlage erhalten - entweder um es zu bestätigen, oder um es zu korrigieren oder gar zu verwerfen. Dieser öffentliche, dieser kritische Umgang mit Gesetzen kann meines Erachtens ein starkes Instrument bürgerschaftlicher Partizipation werden, für die wir uns alle einsetzen müssen, liebe Genossinnen und Genossen. Liebe Freundinnen, liebe Freunde, nie seit den Gründungsjahren der sozialen Marktwirtschaft war die deutsche Arbeitsgesellschaft so zerrissen wie heute: gespalten in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose, gespalten in die, die Überstunden kloppen, und die, die auf ungesicherte Gelegenheitsjobs angewiesen sind, vor allen Dingen aber gespalten zwischen denen, die sich ökonomisch sicher fühlen, weil ihre Arbeitsplätze ungefährdet sind und denen, die Angst um die eigene materielle Zukunft und die ihrer Familien haben. In den letzten Jahren ist die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe um 700000 gestiegen, liebe Genossinnen und Genossen - auch ein Ergebnis Kohlscher Politik in Bonn. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte gab es in Deutschland so viele Langzeitarbeitslose: Es sind über 1,6 Millionen. Alles in allem fehlen in diesem Land 7,6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Die Kosten der Arbeitslosigkeit belaufen sich dieses Jahr auf 180 Milliarden DM. Ist es da nicht hundertmal sinnvoller, endlich ranzugehen und Arbeit anstatt Arbeitslosigkeit zu finanzieren? Wenn ich deshalb jetzt ein neues "Bündnis für Arbeit" fordere, dann, liebe Genossinnen und Genossen, ist mir sehr genau bewußt, daß sich die Geschäftsgrundlage dafür geändert hat. Nur ein weiterer runder Tisch ohne konkrete Vereinbarungen, lediglich mit dauernden Schuldzuweisungen und Forderungen bringt uns nicht weiter, ist den Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften einfach nicht länger zuzumuten. Wir müssen zu verbindlichen Verträgen auf Gegenseitigkeit kommen. Dafür, liebe Genossinnen und Genossen, gibt es wirklich gute Chancen. Ich weiß, viele große Unternehmen haben begriffen, daß reine Kostensenkungsprogramme nicht weiterführen. Das hat auch etwas mit der entwickelten Kraft der gewerkschaftlich organisierten Betriebsräte in diesen Unternehmen zu tun. Dies hat mit unternehmerischem Handeln kaum noch zu tun: Wer in den großen Unternehmen nur danach fragt, welche Geschäftsfelder gerade gut laufen, und alles andere einstellt, der, liebe Genossinnen und Genossen, verkennt die Funktion der sozialen Marktwirtschaft, die nicht umsonst sozial heißt. Wir müssen auch erkennen, daß es inzwischen wieder viele Unternehmer gibt, die fragen: Was kann ich mit dem, was meine Leute können und wissen, eigentlich produktiv anfangen? Wie kann ich helfen, sie für neue Anforderungen auf neuen Märkten zu qualifizieren? Unternehmer und Betriebsführer wissen, liebe Genossinnen und Genossen, daß das eigentliche Kapital dieser Volkswirtschaft nicht in den Millionären liegt, die ihr Geld ins Ausland tragen, sondern in den Millionen von Menschen, die in den Fabriken und Verwaltungen jeden Tag Erwerbsarbeit leisten. Das hat Deutschland stark gemacht, liebe Genossinnen, liebe Genossen. Mit diesen Unternehmen und Unternehmern können wir ein Bündnis schließen. Betriebsräte, Gewerkschafter und innovationsfreundliche Manager haben in Deutschland bewiesen, daß die Entlassung nicht das einzige Anpassungsinstrument ist. Wir sehen in der Praxis, liebe Genossinnen und Genossen, wie es auch geht. Daß mir zuerst immer Volkswagen einfällt, werdet ihr mir nachsehen. Das werde ich mir abgewöhnen - nicht ganz, aber fast. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, an solchen Beispielen kann man sehen, daß Flexibilität für die deutschen Gewerkschaften längst kein Fremdwort mehr ist, daß die Betriebsräte froh wären, wenn die Angebote, die sie machen, von Unternehmensleitungen akzeptiert würden und wenn von Flexibilität nicht nur die Rede wäre, sondern wenn sie betriebliche Wirklichkeit würde. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Die Wirklichkeit in den Unternehmen und in den Betrieben in Deutschland ist längst weiter als die Verbandserklärungen des BDI und anderer vermuten lassen. Es geht uns darum, diese Verbandserklärungen der Wirklichkeit anzupassen und nicht etwa umgekehrt zu verfahren, liebe Genossinnen und Genossen. Aber eines muß uns klar sein: Es geht nicht nur und nicht einmal zuerst um die großen wirtschaftlichen Einheiten. Nein, es geht in unserer Gesellschaft vor allen Dingen um diejenigen, die als kleine und mittlere Betriebe, als Handwerksmeister, überall im Land zwei Drittel aller Arbeitsplätze vorhalten und 80 Prozent aller Ausbildungsleistungen erbringen. Diesen Betrieben müssen wir uns zuwenden, liebe Genossinnen und Genossen. Eine Maßnahme, die ihnen hilft, ist die rechtsformunabhängige und im übrigen einfachere Unternehmensbesteuerung. Die wollen wir für alle Unternehmen - gleichgültig welche Rechtsform sie haben und gleichgültig wie groß sie sind - auf ein international vertretbares Niveau senken. Ein betrieblicher Steuersatz von 35 Prozent für alle Unternehmen, liebe Genossinnen und Genossen, das ist das Ziel, das wir im Interesse dieser Unternehmen erreichen müssen. In der Sozialen Marktwirtschaft müssen sich die Unternehmen fragen lassen, was denn das Soziale an ihrem unternehmerischen Handeln ist. Aber die Regierung muß sich fragen lassen, wie es ihr gelingt, ein Gesamtkonzept für Arbeit und Wachstum zu schaffen. Ein Stückwerk von einzelnen Maßnahmen, das alles hat in der Vergangenheit nichts gebracht, liebe Genossinnen und Genossen. Ich will es deutlich sagen: Die Erleichterung des Kündigungsschutzes für Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten brachte bislang ebensowenig neue Arbeit wie die Veränderung der Ladenschlußzeiten oder die gesetzliche Regelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Laßt mich zum letzten eines aus sehr persönlicher Erfahrung sagen - denn gerade weil ich weiß, wo ich herkomme, weiß ich, wo ich hingehöre -: Ich habe noch nicht gehört, liebe Genossinnen und Genossen, daß diejenige Arbeitnehmerin und derjenige Arbeitnehmer, der krank ist, seine Miete auf 80 Prozent kürzen kann. Ich habe noch nicht gehört, daß die- oder derjenige, der krank ist, beim Lebensmittelhändler 20 Prozent Rabatt bekommt. Davon, liebe Genossinnen und Genossen, habe ich noch nichts gehört. Wahrscheinlich liegt das nicht an mir, sondern vermutlich an den Tatsachen. Wenn das aber so ist, dann bringt Krankheit nicht weniger an Belastungen mit sich, sondern eher mehr. Dann gilt der Satz, den alle Gewerkschaften unterschrieben haben, nämlich daß derjenige, der krank ist, nicht mehr verdienen soll als derjenige, der arbeitet. Aber diejenigen, die krank sind, mit dem Entzug dringend notwendigen Geldes zu bestrafen, dies, liebe Genossinnen und Genossen, halte ich persönlich für unanständig. Daß es auch anders geht, ist in diesem Land bewiesen worden. Es waren doch sozialverantwortlich denkende Unternehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften, die in den meisten Fällen durch ihre Vereinbarungen sehr viel bessere und sehr viel wirksamere Lösungen gefunden haben. Programme für die Gesundheitsvorsorge, abgesprochen zwischen den Unternehmensleitungen und den Betriebsräten, waren zum Teil so erfolgreich, liebe Genossinnen und Genossen, daß sich in vielen Betrieben der Krankenstand nahezu halbiert hat. Es geht auf der Basis der Freiwilligkeit. Man muß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ständig drücken, wie die anderen das vorhaben. Wir wollen diesen Unsinn, den die jetzige Bundesregierung beschlossen hat, korrigieren. Wie alle neuen Maßnahmen werden wir die Rücknahmen und die Korrekturen in der Konsensrunde des neuen "Bündnisses für Arbeit" abgleichen. Wir werden ein Gesamtkonzept mit den Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften, mit den Arbeitgebern, aber auch zusammen mit der Wissenschaft schmieden, ein Konzept, das Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik und Wirtschaftspolitik miteinander verzahnt und auf diese Weise ein gesellschaftliches Klima des Vertrauens schafft, in dem wirtschaftlicher Aufschwung nicht nur als Chance, sondern als Realität wieder möglich wird. Liebe Freunde, Innovation und Gerechtigkeit - viele meinen ja, das gehe nicht zusammen. Sie wollen in Lagern denken, weil es dann so einfach ist, die Menschen gegeneinander auszuspielen. Die einen, das sind dann die Technokraten und kalten Modernisierer. Die anderen, das sind dann die Traditionalisten und die Verteidiger des bewährten Systems. Die einen, so wird gesagt, verwalten das Wachstum und die anderen die Gerechtigkeit. Das ist keine Politik für eine moderne Industriegesellschaft, liebe Genossinnen und Genossen. Das ist spalterische Politik, die wir nicht wollen und nicht zulassen dürfen. Innovation und Gerechtigkeit, das sind keine Gegensätze. Das bedingt einander. Dies werden wir in Deutschland deutlich machen. Wir werden klarmachen, daß für uns eine Innovation erst dann wirklich taugt, wenn sie Arbeit sicher macht oder neue schafft, und daß eine Reform vor allen Dingen nur dann eine ist, wenn sie das Leben nicht erschwert, sondern wenn sie es leichter macht. Das war der Reformbegriff von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Das ist unser Reformbegriff, liebe Genossinnen und Genossen. In den letzten Jahren haben unsere Kernbranchen - Chemie, Auto und Maschinenbau - ihre Innovationstätigkeit und ihre Investitionen wieder deutlich gesteigert. In Deutschland sind die Patentanmeldungen wieder gestiegen. Das Patentamt meldet allerdings: Ein international tragfähiges Patent kostet in Deutschland 120000 DM. Dies, liebe Genossinnen und Genossen, ist eine eminent hohe Hürde, die in unserem Land noch sehr viel Forschergeist abschreckt und materiell unterdrückt. Das muß sich ändern, wenn wir erfolgreicher werden wollen. Das Problem ist: Auf dem Arbeitsmarkt schlagen die Innovationen bedauerlicherweise noch nicht durch. Damit bekommt das Wort "Innovationsblockade" eine ganz andere Qualität. Die entscheidende Aufgabe für uns lautet also, Innovationen und Beschäftigung zusammenzubringen. Innovation ist nicht nur neue Technik. Das ist auch die Schaffung neuer Märkte und neuer Leitbilder. Neue Dienstleistungsmärkte aufzubauen, das geht nicht nur über Technologie- und Forschungsförderung. Nein, dazu brauchen wir Markt-, Produkt- und Organisationsideen. Die Politik kann das nicht alleine, aber sie kann, muß und wird die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Bedenkt man den gesellschaftlichen Bedarf, den wir haben, dann haben wir nicht zuviel, sondern eher zuwenig Technik. Deshalb müssen wir Wissenschaft und Wirtschaft zusammenführen. In diesem innovativen Klima müssen sich unsere Besten den Kopf darüber zerbrechen, wie man die Umwelt- und Verkehrsprobleme mit neuen Produkten, mit neuen Verfahren und neuen Dienstleistungen lösen kann. Daran, was die Menschen in ihrem Alltag an Produkten und Dienstleistungen am nötigsten brauchen, muß Forschergeist orientiert werden. Nur dann tragen sich diese Innovationen im übrigen auch wirtschaftlich. Liebe Freundinnen und Freunde, wer seine wirtschaftliche Existenz in die eigenen Hände nehmen will, wer sich selbst und andere in Beschäftigung bringt, der kann und soll auf unsere Unterstützung zählen. Deshalb steht im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik eine Gründungsoffensive, eine Offensive für kleine und mittlere Unternehmen und für das Handwerk. Wenn wir Investitions- und Innovationsblockaden auflösen wollen, dann müssen wir denen Wagniskapital in die Hand geben, die sich trauen, etwas zu erfinden, und die für ihre Träume die eigene wirtschaftliche Existenz einsetzen. Wir werden es schaffen, daß es sich in Deutschland wieder lohnt, in Betriebe zu investieren anstatt in Immobilien, die für den Leerstand gebaut werden. Liebe Genossinnen und Genossen, ich bitte euch sehr um eure Unterstützung, wenn ich hier und heute der Union den Kampf um ihre sicher geglaubten Bastionen im Handwerk und im Mittelstand ansage. In diesem Bereich des Wirtschaftslebens gibt es sehr viele, die wir durch unsere Politik für uns gewinnen können. Es sind dies die vielen - laßt mich das noch einmal sagen -, die dir, Helmut Schmidt, in besonderer Weise vertraut haben und das noch heute tun. Es sind die vielen, von denen wir manche auf Grund objektiver Bedingungen - das ist wohl wahr -, aber auch wegen eigener Fehler verloren haben. Um das Vertrauen dieser Menschen zu kämpfen, lohnt sich für uns keineswegs nur aus wahltaktischen Überlegungen heraus, liebe Genossinnen und Genossen, sondern weil sie der Kern, das Rückgrat unserer Wirtschaft sind, von dem wir alle leben und an dem wir alle interessiert sein müssen. Auch diesen Menschen können wir unsere traditionellen Grundsätze vermitteln. Wir können das, wenn wir uns Mühe geben. Was bedeutet "gesellschaftliche Solidarität" für den Existenzgründer, der mit seinem Kreditwunsch von Bank zu Bank läuft und keine Chance erhält, es sei denn, er schiebt das Grundstück von Mutter, Schwiegermutter und Oma nach? Die Tendenz der großen Kapitalsammelstellen, mit Wagniskapital zurückhaltend zu sein oder sich in jedem Fall zu übersichern, wenn es um Wagnis geht, ist schlecht. Sie muß politisch gebrochen werden, liebe Genossinnen und Genossen. Was bedeutet "Gerechtigkeit" für den Handwerksgesellen, der sage und schreibe fünf Stunden lang arbeiten muß, um sich auch nur eine einzige seiner eigenen Arbeitsstunden leisten zu können? Was bedeutet "soziale Sicherheit" für den Selbständigen, der bei der ersten Liquiditätspanne riskieren muß, nie wieder auf die Beine zu kommen, weil er mehr als seine ganze Existenz verloren hat? Wie in einem Brennglas, liebe Freundinnen und Freunde, verdichten sich hier die wirtschaftlichen und sozialen Blockaden der letzten 16 Jahre, Blockaden, für die die Bonner Koalition verantwortlich ist und die sie jetzt in dreist formulierten Programmen meint, aus der Welt schaffen zu können. Was sind das für Leute, die 16 Jahre lang in diesem Land Verantwortung tragen und jetzt, nach 16 Jahren, den Anspruch erheben, in der Steuerpolitik, bei der Verteilungsgerechtigkeit, bei der Reform des Staates den Ton angeben zu können. Nach 16 Jahren Versagen nenne ich es eine Dreistigkeit, wenn diese Menschen meinen, sie könnten dieses Land weiter führen. Ich habe von dem Brennglas geredet, in dem sich die wirtschaftlichen und sozialen Blockaden verdichten. Da sind die Lasten einer Bürokratie, die angeblich keiner gewollt hat, die aber entstand, weil klare politische Zielvorgaben gefehlt haben. Da sind die zu hohen gesetzlichen Lohnnebenkosten, die vor allen Dingen unmittelbar auf die kleinen Unternehmen, auf die Handwerksbetriebe, durchschlagen, und die zu verringern wir, liebe Genossinnen und Genossen, und niemand anderes angetreten ist. Wir werden das auch tun. Da sind die Folgen einer viel zu lange verschleppten Reform der beruflichen Aus- und Weiterbildung, eines Versagens, das uns bitter einholen kann; denn ein rohstoffarmes Land wie das unsere hat einen einzigen Rohstoff, der von Wert ist, und der ist in den Köpfen unserer Menschen, liebe Genossinnen und Genossen. Den zu entwickeln macht unsere Zukunft aus. Es ist kein Zufall, daß wir beim Anteil der Selbständigen an der Erwerbsbevölkerung - auch das ist Ergebnis von 16 Jahren Regierungstätigkeit - europaweit auf dem vorletzten Platz gelandet sind. Gleichzeitig stehen bis zur Jahrtausendwende 300000 Betriebe zur Übernahme an. Das heißt: Fast jede fünfte Firma sucht einen neuen Chef. Wir hatten miteinander durchgesetzt, daß im Arbeitsförderungsgesetz bis zum Jahre 1994 wenigstens tendenziell die Gleichstellung von allgemeiner und beruflicher Bildung Wirklichkeit geworden ist. Junge Meisterinnen und Meister konnten sich wie Hochschulabsolventen auch wenigstens teilweise mit Unterstützung des Staates so qualifizieren, daß sie qualifizierte Führer ihrer Betriebe werden konnten. Das hat die Bundesregierung mit einem Federstrich vernichtet. Es hat schwieriger Verhandlungen bedurft, Verhandlungen, die von den sozialdemokratischen Regierungschefs ausgegangen sind, um wenigstens Rudimente dessen wieder einzuführen, was sie kalt zerstört haben. Das Meister-BAföG ist nicht aus der Bonner Koalition heraus entwickelt worden. Nein, liebe Genossinnen und Genossen, das ist ein aktiver Beitrag der Regierungspolitik der Sozialdemokraten aus den sozialdemokratisch geführten Ländern. In den Hochschulgesetzen der sozialdemokratisch geführten Länder steht die Öffnung für junge Meisterinnen und Meister, was den Hochschulzugang angeht. Das ist es, was wir uns vorstellen: Soweit es geht, die Gleichstellung zwischen beruflicher Bildung einerseits und allgemeiner Bildung andererseits nicht nur zu beschwören, sondern zu machen, liebe Genossinnen und Genossen, denn darauf warten die Betriebe in Deutschland, das wollen die Handwerksmeister, und das bekommen sie von uns und von niemand anderem. Eines mag den einen oder anderen, vielleicht auch die Öffentlichkeit noch interessieren: Angeblich ist es ja so, daß die größten Deregulierer im Bundeswirtschaftsministerium sitzen, seit 1982, in dieser Koalition, von der FDP geführt. Nichts als Gerede über Deregulierung! Fast nichts, müßte ich sagen, denn es gibt eine Ausnahme: Immer dann, wenn es um die Schutzrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ging, dann hat Deregulierung funktioniert, liebe Genossinnen und Genossen! Aber für die, auf die es ankommt, die kleinen und mittleren Betriebe, hat sich seit 1982 die Bürokratiebelastung verdoppelt. Allein der Bund zeichnet heute für 1400 Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften nur im Umweltrecht verantwortlich. Im Baurecht - darauf ist schon hingewiesen worden - ist das keineswegs anders. Ob der angeblich goldene Boden für diese Unternehmen in Zukunft noch trägt, dies entscheidet sich an unserer Reformfähigkeit und unserem Modernisierungswillen bei den Steuern und Abgaben, aber eben vor allem auch bei der Erneuerung des Staates und seiner Verwaltung. Die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen macht heute 2 bis 4 Prozent aller Subventionen aus. Man muß wissen, daß auch durch Prämien für Existenzgründungen im Handwerk mit nur 6500 DM ein neuer Arbeitsplatz zu schaffen ist. In der Industrie kostet der gleiche Arbeitsplatz 250000 DM. Das ist der Grund, warum wir uns viel mehr als in der Vergangenheit um diese Betriebe, um ihre Leistungsfähigkeit werden kümmern müssen. Wir brauchen nicht mehr Geld für Programme, sondern wir brauchen mehr Transparenz in den Programmen und mehr Ehrlichkeit. Es hat doch keinen Zweck, über Vergünstigungen das an die Unternehmen zurückzugeben, was wir ihnen vorher durch Bürokratie und ihre Belastungen genommen haben. Das gilt im übrigen auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, liebe Genossinnen und Genossen. Die wichtigsten Leistungsträger unserer Gesellschaft, die Facharbeiter, die Angestellten und ihre Familien, eben die Empfänger mittlerer Einkommen, drohen zu verarmen. Über Steuern und Abgaben werden ihnen bei uns direkt und indirekt rund zwei Drittel des Bruttoeinkommens entzogen. Die Schere zwischen dem, was ihre Arbeit kostet, und dem, was die Menschen in der Tasche behalten, ist in den letzten 16 Jahren immer größer geworden. Diese Schere zu schließen, liebe Genossinnen und Genossen, das ist eine ureigenste Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie. Eines ist dabei klar: Eigenvorsorge, die notwendig ist, kann nur erwarten, wer gleichzeitig den Arbeitnehmern die finanziellen Spielräume dafür eröffnet. Das wollen die Herren in Bonn nicht einsehen - noch ein Grund, sie abzulösen. Jetzt reden sie vom Investivlohn - nicht falsch, aber für jemanden, liebe Genossinnen und Genossen, der mit 2000 DM im Monat sich selbst und seine Familie durchbringen muß, hätte das tatsächlich die Wirkung von Zwangssparen. Was sie auch anfassen mit ihren Vorschlägen, die soziale Wirklichkeit erfassen sie niemals. Diese Leute haben in Bonn das Steuersystem wirklich in die Krise geführt. Von Steuergerechtigkeit zu reden, weckt blanken Hohn, und das ist nachvollziehbar. Die nominalen und die realen Steuersätze klaffen weit auseinander. Das ist der Kern der Ungerechtigkeit nicht nur zwischen Lohn- und Einkommensteuerzahlern, sondern auch zwischen verschiedenen Unternehmen. Wer in diesem Land die ausgebufftesten Steueranwälte unter Vertrag hat, der profitiert in diesem Steuerdschungel am meisten. Das, liebe Genossinnen und Genossen, ist falsch. Ich weiß: Die Menschen in Deutschland haben nichts dagegen, Steuern für Erziehung, für Gesundheit und für die Polizei zu zahlen. Aber sie haben keine Lust, weiter Steuern für politisches Versagen in Bonn zu zahlen - und das kann ich gut verstehen. Die Ausgaben aus unserem Volkseinkommen für Arbeitslosigkeit und Armut sind in den letzten 16 Jahrren explodiert, die für Bildung und Forschung sind geschrumpft. Das werden, das müssen wir ändern! Ich halte es für richtig, daß wir bei den Steuersätzen in unserem Wahlprogramm klare Marken gesetzt haben. Aber klar ist: Je deutlicher wir Steuervergünstigungen abbauen, desto stärker können wir an die Steuersätze heran. So herum geht das und nicht andersherum, liebe Genossinnen und Genossen. Wenn wir wollen - und das wollen wir -, daß hier investiert wird, dann darf der Staat eben nicht die Hälfte des Einkommens kassieren - übrigens auch dann nicht, wenn es hoch ist. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht mit Zahlen an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeidiskutieren. Wer kann schon exakt seinen persönlichen Steuersatz ausrechnen? Das Prinzip "steuern durch Steuern" schaufelt oft nur den Abschreibungskünstlern Geld in die Tasche. Das schafft Fehlinvestitionen und setzt falsche Anreize, oben wie unten. Am unteren Ende der Einkommensskala lohnt sich die Arbeit nicht mehr, am oberen Ende wird nicht richtig investiert. Das ist das Ergebnis Kohlscher Steuerpolitik. Wir sagen: Notwendig ist besonders die Senkung der unteren Steuersätze. Das, liebe Genossinnen und Genossen, ist nicht nur sozial gerecht, nein, es ist auch ökonomisch vernünftig; denn das schafft Kaufkraft in Deutschland, und Schwarzarbeit wird dadurch weniger lukrativ. Wir wollen also eine deutliche Entlastung aller, und der Weg dahin geht nur über eine deutliche Vereinfachung. Das dadurch Gewonnene kann und muß man gerecht verteilen. Aber eines muß jeder wissen: Wenn wir über gesetzliche Lohnnebenkosten und deren Reduzierung reden, ist das im Effekt ökonomisch noch wichtiger, als die Steuersätze herauf und herunter zu deklinieren. Wer mehr Wachstum und mehr Beschäftigung will, der muß die Arbeitnehmer und ihre Familien entlasten. Wir werden das tun. Unsere Steuerreform - das will ich hier ausdrücklich hervorheben - bringt für eine Familie mit zwei Kindern unter dem Strich eine Entlastung von monatlich 200 DM ; nicht viel, aber wahrlich kein Pappenstiel. So sieht die Nachfrageseite unserer Politik aus. Wir müssen aber auch die andere Seite sehen: Wir müssen bei den Lohnnebenkosten ansetzen und die Steuerbelastung der investierenden Unternehmen - um diese geht es mir vor allen Dingen - auf ein international vergleichbares Maß zurückführen. Denn durch Investitionen entstehen Arbeitsplätze. Aus Arbeitsplätzen entstehen Einkommen und Auskommen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien. Das ist der Zusammenhang, den wir erkennen und den wir unterstreichen wollen. Laßt euch nichts anderes einreden: Wir haben gute Vorarbeiten in der Steuerpolitik geleistet; Vorarbeiten, aus denen wir in der Regierung schnell ein Reformprogramm entwickeln können; Vorarbeiten, für die wir insbesondere dir, Heinz Schleußer, zu danken haben. Diesen Dank will ich dir abstatten. Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wer Wirtschaft und Gesellschaft modernisieren will, der muß auch den Staat modernisieren, sonst springt er zu kurz. Wir stehen dafür, daß das nicht zu Lasten der Schwachen geht. Das ist erklärtermaßen unsere sozialdemokratische Staatsidee. Aber wie sieht die konservative Realität aus, eine Realität, die die Konservativen mit ihrem sogenannten Wahlprogramm verdrängen wollen? Seit 1982 wurden von dieser Mehrheit 1518 neue Gesetze verabschiedet, davon 1064 aus Regierungsvorlagen. Für jede abgeschaffte Vorschrift wurde eine Flut neuer Normen geschaffen. Jede Privatisierung war mit neuen Gesetzen und Verordnungen verbunden. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß wir, denen die Regierung Dirigismus vorwirft, einen Staat zu schaffen haben, der anstößt und der nicht alles selber macht, der programmatisch lenkt, der die Gewährleistung übernimmt, der aber den Vollzug in vielen Bereichen an die Bürgerinnen und Bürger und an die Unternehmen zurückgibt. Liebe Genossinnen und Genossen, in der Welt von morgen wird der Staat nicht mehr nur Verteilungsstaat sein. Aber er muß Herr des Verfahrens bleiben. Unsere Demokratie - das ist sichtbar - hat bereits schon jetzt Schaden genommen, denn der Eindruck hat sich vertieft, die tatsächliche Macht sei in die Konzernzentralen abgewandert; die Politik reagiere nur noch auf die Fakten, die andere gesetzt haben. Jeder weiß, jeder muß wissen: Bei uns wird das anders sein. Wir wollen und brauchen einen neuen Konsens in unserer Gesellschaft, denn die Sicherheiten, die der Sozialstaat in Zukunft bietet, werden nicht die alten sein. Die Gewißheit kann heute niemand mehr haben, ein Leben lang an derselben Werkbank zu stehen oder an demselben Schreibtisch zu sitzen; nicht einmal die Gewißheit, immer in nur einem Beruf zu arbeiten, nämlich dem, der einmal erlernt worden ist. Wenn das aber richtig ist - und es ist richtig -, dann ist es um so wichtiger, den Menschen beim Weg in diese aufregende Zukunft einen Korridor der sozialen Verläßlichkeit zu bauen. Einen solchen Korridor brauchen sie, wenn sie auf dem Weg in die Veränderung mitgehen sollen. Helmut Schmidt, ich will dich erneut zitieren. Du hast gesagt: "Deutschland, gegründet auf Mut zu neuen Lösungen und auf soziale Gerechtigkeit." Exakt das werden wir in Deutschland wieder schaffen. Wir werden unsere Vorstellungen vom aktivierenden Staat für jedes politische Handlungsfeld durchbuchstabieren. So, wie es in einer aktivierenden Wirtschaftspolitik darauf ankommt, Existenzgründungen zu unterstützen, wo der Kapitalmarkt zu risikoscheu ist, so werden wir dem sozialen Netz eine Trampolinfunktion geben; ein Trampolin, das die Menschen immer dann, wenn sie aus dem Erwerbsleben herausfallen, sicher auffängt und in Eigeninitiative und Eigenverantwortung in neue Berufsfelder zurückfedert. Das ist gemeint, wenn wir davon sprechen, daß wir nicht Arbeitslosigkeit finanzieren wollen, sondern Arbeit finanzieren müssen. Ein anderes Beispiel: In der Umweltpolitik der Zukunft geht es darum, durch Zielvereinbarungen, statt durch minuziöse technische Vorschriften den Einfallsreichtum der Ingenieure für die Umwelt zu nutzen. Eine von mir geführte Bundesregierung wird deshalb die Beteiligten zusammenbringen, um auch hier im Konsens zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, Verbänden und Staat zu arbeiten. Die Diskussionen um die Nachhaltigkeit des Umweltschutzes und um die modernen Konzepte für produktionsintegrierten Umweltschutz sind ausgezeichnete Anknüpfungspunkte. Diese Diskussionen wurden inmitten der Sozialdemokratie geführt und bei uns präzisiert. Wir brauchen uns damit vor niemandem zu verstecken, und wir müssen uns von niemandem den ersten Platz streitig machen. Mit den Mitteln der Industriegesellschaft - nicht gegen sie - und aus wirtschaftlicher Rationalität können wir einen qualifizierten Sprung schaffen für eine bessere Umwelt und zugleich für mehr und nicht für weniger Arbeit in Deutschland. Das sollte unser Ziel sein. Was für die Umweltpolitik und für die Funktion des Staates in ihr gilt, das gilt auch für die Politik der inneren Sicherheit. Ich frage: Gibt es eine Neubelebung der Städte ohne das Gefühl der Bürger für Sicherheit und Verantwortlichkeit? Es wird sie nicht geben. Wir alle kennen die Ursachen der Verantwortungslosigkeit: Sozialabbau, Arbeitslosigkeit, Chancenabbau. All das sind gewiß Ursachen für das Abrutschen ganzer Gruppen in die Kriminalität. Aber eines muß ebenfalls ganz klar sein: Entfremdung ist keine Entschuldigung für Kriminalität. Wir werden deshalb gegen jegliches Verbrechen, aber auch bei der Bekämpfung der Verbrechensursachen hart sein. Die von der Kohl-Regierung mitverursachte Krise der Gesellschaft ist bei der Jugend angekommen. Die neueste Shell-Studie belegt: Die größte Angst vor der Arbeitslosigkeit haben schon die 14jährigen. Wie erleben Jugendliche heute deutsche Politik? Ich will es nicht verbergen. Soweit ich mit Jugendlichen ins Gespräch gekommen bin, hat mich ihre Skepsis gegenüber den Parteien, aber auch - und das ist gefährlicher - gegenüber den politischen Institutionen im demokratischen Staat erschreckt. Folgenloses Reden - das ist alles, was sie in der Ära Kohl von Politik kennengelernt haben. Aber eines hat mich wieder zuversichtlich gestimmt: Ihr Wertesystem dreht sich um das, was auch uns so wichtig ist. Es geht um Ehrlichkeit, auch um Kompromißfähigkeit, vor allem aber um praktisches Tun. Ganz besonders für die jungen Leute ist die kleine Tat viel wichtiger als die großen Worte. Zusätzlich ermuntert mich das, was ich in England erleben durfte. Unseren Freunden dort ist ein kraftvoller Zuwachs an jungen Parteimitgliedern gelungen. Das Durchschnittsalter liegt nun bei 43 Jahren. Mehr als die Hälfte der Neumitglieder sind junge Frauen. Die Kraft, die ich zum Beispiel in den neuen Jugendkulturen wahrnehme, und die Dynamik in diesem Bereich lassen mich den dringenden Wunsch an die gesamte Partei formulieren, sich weit intensiver als je zuvor auch der Jugend zu öffnen, die in diesen Bereichen zu Hause ist, und Jugend in ihrer ganzen Pluralität zu begreifen. Ich möchte euch, soweit es um Jugend und Bildung geht, ein Zitat vorlesen. Keine Angst, es wird das einzige bleiben. Es heißt dort: "Ohne Verstärkung der geistigen Investitionen muß Deutschland gegenüber anderen Kulturindustrieländern zurückfallen. Das aber hieße, daß wir nicht nur den wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand, sondern auch die soziale Sicherheit aufs Spiel setzen." Dies hat nicht Peter Glotz, sondern Ludwig Erhard gesagt, also kein Bildungspolitiker, sondern ein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, und zwar ein konservativer. Bildung und Forschung haben für uns den gleichen Rang wie einst die soziale Frage im 19. Jahrhundert. Wir können deshalb nicht hinnehmen, daß in der Regierungszeit von Helmut Kohl sowohl die privaten als auch die öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung zurückgegangen sind. Wenn das so weitergeht, liebe Genossinnen und Genossen, dann muß man über die Zukunftsfähigkeit dieses Landes gar nicht mehr reden; dann ist sie nämlich zu Ende, bevor sie begonnen hat. Deshalb werden wir dort Veränderungen herbeiführen. Das wichtigste Vermächtnis, das Willy Brandt uns mit auf den Weg gegeben hat und das auch für dich, Helmut, im Mittelpunkt stand, ist die niemals nachlassende Anstrengung bei Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung unserer Menschen. Seit August Bebel und den Arbeiterbildungsvereinen wissen wir Sozialdemokraten: Das Bildungssystem verteilt die Arbeits- und damit die Lebenschancen. Aus eigener Erfahrung weiß ich sehr wohl, daß das so ist. Deshalb möchte ich ganz persönlich sagen, daß mir das Motiv der Chancengleichheit nicht nur ein abstraktes Anliegen ist, sondern eines, das mich mein Leben lang begleitet hat und das ich auch als Auftrag für andere begreife. Gerade weil ich Bildung als Privileg für mich selbst begriffen habe, möchte ich, daß Chancengleichheit kein Fremdwort für die sozial Schwächeren bleibt, möchte ich nicht, liebe Genossinnen und Genossen, daß die Chance auf Bildung abhängig gemacht wird vom Geldsack des Vaters oder der Eltern. Unser Wahlprogramm setzt zu Recht einen Schwerpunkt in der beruflichen Bildung. Das duale System, das wir haben, ist weltweit vorbildlich. Aber es muß modernisiert werden. Es sind sozialdemokratische Länder, die zusammen mit Gewerkschaften und auch mit Teilen der Wirtschaft dabei am weitesten sind. Schon in der ersten Legislaturperiode müssen wir Sozialdemokraten ein wichtiges Projekt realisieren: gute Erstausbildung, aber auch regelmäßige Neuqualifikation und Weiterbildungschancen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nur dadurch kann einem schleichenden Verlust an Kompetenz entgegengesteuert werden. Bezogen auf das duale System sage ich eines ganz deutlich: Es gibt zwei Ausbildungsorte; einer ist der Betrieb, ein anderer ist die Berufsschule. In den letzten Jahren hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Ausbildungsorten zu Lasten der Betriebe und zugunsten des Staates verschoben. 60 zu 40 zu Lasten der Betriebe beträgt es jetzt. Das ist ein Signal dafür, daß in den Betrieben nicht zuviel, sondern zuwenig Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Klar muß aber sein, liebe Genossinnen und Genossen, und der Wirtschaft muß deutlich werden: Es macht keinen Sinn, über eine angeblich aussteigerwillige Jugend zu quatschen, wenn wir ihr nicht einen Einstieg in das Arbeitsleben ermöglichen, und das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Das, was ich zu den Reformnotwendigkeiten in der Bildung allgemein gesagt habe, gilt auch für die Hochschulen. Sie laufen Gefahr zu kollabieren. Wir werden im nächsten Jahrzehnt eine Veränderung des deutschen Hochschulsystems erleben, die nur mit den Reformen der 60er und 70er Jahre vergleichbar sein wird. Wir sind auf dem Weg zu einem Hochschulsystem mit sehr viel mehr Wettbewerb, auch über die europäische Ebene hinaus. Bei allem Zwang zur Kürze will ich wenigstens die Richtung andeuten. Die Hochschulen sollen sich stärker spezialisieren und damit profilieren. Ihre Entscheidungskompetenz gegenüber der staatlichen Bürokratie muß gestärkt werden. Übrigens: Zukunft hat ein Hochschullehrer auf Zeit, nicht unbedingt auf Lebenszeit. Die Anwendungs- und Berufsorientierung, die Ausrichtung auf Selbständigkeit und deren Unterstützung müssen erhöht werden. Die Hochschulen sollen Anstöße liefern für Existenzgründer und Selbständige. Wir werden das massiv fördern. Liebe Freundinnen und Freunde, wenn sich die Welt ändert, wenn sich die Menschen ändern und mit ihnen die Wirtschaft, die Unternehmen und die Arbeitsplätze, dann bieten alte Systeme häufig nicht mehr Sicherheiten, sondern weniger. Deshalb haben wir in unserem Wahlprogramm festgelegt: lieber Lohnnebenkosten subventionieren als Vollzeitarbeitslosigkeit bezahlen. Damit werden, wie die Erfahrungen in den Nachbarländern zeigen, schnell neue Jobs für die weniger Qualifizierten entstehen. Das wäre endlich mal wieder eine Reform. Durch Abbau, Streichung und Kürzung allein wird keines der Probleme wirklich angepackt. Die Arbeitsgesellschaft - das wissen wir - wandelt sich in rasantem Tempo; die Lebenswirklichkeit der Menschen verändert sich und damit auch die Formen des Zusammenlebens. Ganze Biographien werden durcheinandergewirbelt. Doch auf keine dieser Herausforderungen ist wirklich eine Antwort gefunden worden. Statt dessen fressen sich die Probleme, die mit diesem Strukturwandel einhergehen, immer tiefer in unsere Gesellschaft hinein. Die Systeme der sozialen Sicherung zukunftstauglich zu machen und damit neue Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen, das ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Dabei kommt es auf Konzepte an, liebe Genossinnen und Genossen. Mit punktuellen Kürzungen ist es nicht getan. Hier liegt der Grund, warum wir die Kürzung der Renten zurücknehmen werden. Ich sage das mit Bedacht auch und gerade den Kritikern dieser Ankündigung: Es geht hierbei nicht um Tausende von Mark oder gar um fünfstellige Summen, sondern es geht dabei, liebe Genossinnen und Genossen, um Durchschnittsrenten, die zwischen 900 und 1300 DM liegen - im Monat wohlgemerkt. Personen mit solch einer Rente sind betroffen. Um diese geht es bei den Maßnahmen, die die Union jetzt auf den Weg gebracht hat. Die ganz einfache Frage, die ich nicht nur an euch, sondern vor allen Dingen an diejenigen habe, denen es besser geht, lautet: Wie würden Sie, die Sie selbst ein ausreichendes, ein gutes oder - ich bin zum Neid völlig unfähig - ein hohes Gehalt haben, reagieren, wenn Sie von 900 oder meinethalben von 1300 DM im Monat leben, ihre Miete bezahlen, den Lebensunterhalt bestreiten und all das, was man so braucht, bezahlen müßten; wenn dann jemand käme und sagte: Da gehen wir jetzt ran; da ist eine Möglichkeit zum Kürzen; darauf konzentrieren wir uns, weil das ja die Masse ist, die es ja bekanntlich bringt? Wie würden diejenigen, die in der Gesellschaft Gott sei Dank stärker sind, wohl reagieren? Ich vertraue darauf, daß es in diesem Land immer noch eine Mehrheit gibt, der es Gott sei Dank gut geht und die dann sagen wird: Wir sehen ein, daß die deutschen Sozialdemokraten Rentenkürzungen dieser Art, die vor allen Dingen diejenigen betreffen, die als Witwen ihr Leben fast hinter sich haben, nicht gestatten können und dieses für schlicht unanständig halten. Ich bin davon überzeugt, daß wir immer noch in einem Land leben, in dem die Stärkeren wissen, daß ihre Stärke ihnen nur Freude machen kann, wenn sie auch für die Schwachen eintreten, in dem die Gesunden wissen, daß sie eine Verpflichtung haben, den Kranken zu helfen, und in dem vor allen Dingen die Jüngeren wissen, daß sie die verdammte Pflicht haben, denen, die vor ihnen waren, in ihrem Lebensabend zu helfen und sie nicht bedrängen dürfen. Wenn das klar ist, liebe Genossinnen und Genossen, dann kann und muß man allen sagen: Unser Mehr-Säulen-Modell, also die Kombination aus einer beitragsfinanzierten Grundsicherung - ich nenne das Garantierente - mit stärkerer Eigenvorsorge, mit betrieblicher Altersversorgung und der Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen, wird das Konzept für eine langfristige Sicherung der Altersvorsorge sein. Wir werden diejenigen sein, die es installieren werden und müssen. Wer aber Eigenvorsorge will, wer will, daß die Menschen mehr für sich selber sorgen, der darf doch nicht hergehen und die kleine Lebensversicherung, die sie sich zusammengespart haben, dann auch noch wegsteuern. Daß es die Bundesregierung versäumt hat, auf die Anforderungen der neuen Zeit mit neuen Konzepten zu reagieren, das rächt sich jetzt nirgendwo deutlicher als hier in den neuen Bundesländern. Die Chancen zur Erneuerung, die uns die Wiedervereinigung bot, sind gründlich vertan worden. Aber auch das gilt es anzusprechen: Ich jedenfalls bin voller Bewunderung für das, was die Menschen in den neuen Ländern seit der Vereinigung geleistet haben. Denn mit dem ökonomischen Wandel, der notwendig war, war ja fast immer auch eine tiefgreifende Veränderungen aller persönlichen Lebensbereiche verbunden. Heute müssen diese Menschen erleben, daß von einer Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse immer noch keine Rede sein kann. Schlimmer noch: Ich höre zunehmend die Klage, daß der "Aufbau Ost" die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse eher beschädigt hat. Zwischen Stadt und Land ist die Lücke größer denn je. In diesem Moment, liebe Genossinnen und Genossen, predigen die südlichen Bundesländer den Ellenbogenföderalismus. Sie wollen den Stopp der Transferleistungen, kämpfen aber gleichzeitig um jede Mark für ihre eigenen Agrarsubventionen. Stoiber und Teufel treiben uns auf die Spaltung der Nation zu und betreiben die föderale Ausgrenzung an Stelle der Vollendung der Einheit. Helmut Kohl schweigt zum Abriß dessen, was er als sein Lebenswerk gefeiert sehen wollte. So wie wir den Euro zum Erfolg führen und Europa wieder näher an die Bürger binden werden, so müssen wir Sozialdemokraten zur staatlichen Einheit Deutschlands die innere Einheit in ökonomischer und sozialer Hinsicht hinzufügen. Deshalb habe ich gesagt, daß für mich der "Aufbau Ost", der Aufbau in den neuen Ländern, Chefsache sein wird. Alles, auch die Reformfähigkeit in Westdeutschland hängt davon ab, daß die Wirtschaft im Osten Deutschlands auf Touren kommt. Die Menschen im Westen geben das Geld jedenfalls dann lieber, wenn sie es hier sinnvoll und nicht unsinnig investiert sehen. Fast zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist es auch hier Zeit für die Kraft des Neuen! Wir stehen hier in der Stadt der Montagsdemonstrationen. Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern auf: Es ist wieder einmal Zeit für eine Entscheidung. Es ist Zeit für den Wechsel in Bonn. Hier in Leipzig und in Sachsen-Anhalt werdet ihr dafür Zeichen setzen! Liebe Genossinnen und Genossen, Helmut Kohl wird sich den Deutschen in diesem Jahr als der Kanzler der europäischen Einigung präsentieren. Es ist wahr - ich will es auch gar nicht abstreiten -, er hat viel für dieses Einigungswerk getan. Aber ich sage: Wenn er wirklich noch die Kraft hätte zu diesem Werk, dann hätte er es nicht an allem fehlen lassen. Er hätte nicht alles versäumt, was die gemeinsame Währung erst auf Dauer zu einem Erfolg machen kann. Wenn die Steuern nicht harmonisiert werden in Europa, wird das zum Bersten der neuen Währung führen können und damit vielleicht zum Bersten der ganzen Europäischen Gemeinschaft. Mehr als alles andere würden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leiden. Wenn wir die Standards von Wohlfahrt und sozialer Sicherung nicht auf einem möglichst angemessenen Niveau angleichen, dann wird das die Gemeinschaft sprengen, liebe Genossinnen und Genossen. Wenn wir nicht einen tragfähigen Konsens über eine abgestimmte Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik hinbekommen - natürlich in Respekt vor der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank -, dann werden die Konvergenzmängel und die Bilanzkosmetik zu einer ernsthaften Bedrohung für die Stabilität des Euro. Ich habe die Ängste beim Namen genannt, mit denen die Mehrheit der Deutschen der gemeinsamen Währung entgegensieht. Ich habe auf einige der möglichen Konsequenzen der tiefen Zäsur aufmerksam gemacht. Ich habe das für notwendig gehalten. Mit dem Euro stellen sich Fragen, die beantwortet werden müssen und die nicht weggedrückt werden dürfen. Wir dürfen dies im übrigen auch nicht einem bayerischen Kanzleitiger wie Edmund Stoiber überlassen. Ein Teil der Skepsis der Nachkriegs-SPD gegenüber Europa hatte wohl auch damit zu tun, daß wir uns schwer damit taten, wesentliche Entscheidungen des Sozial- und Rechtsstaates an ein Europa zu delegieren, das nur unzureichend demokratisch legitimiert war und es immer noch ist. Auch das ist jetzt unsere Aufgabe. Wir Sozialdemokraten dürfen nicht in Sorge verharren. Sachliche Fragen werden wir sachlich beantworten. Nur damit schaffen wir das Vertrauen, das der Euro verlangt und das Europa verdient. Die gemeinsame Währung wird kommen. Wir müssen jetzt unser Herz über die Hürde werfen. Wir brauchen Mut zu dem Wagnis, auf das wir uns eingelassen haben. An diesen Mut appelliere ich, die schwierige Realität durchaus vor Augen. Wir machen den Euro ehrlich, und damit machen wir ihn sicher, liebe Genossinnen und Genossen. Der Internationale Währungsfonds in Washington hat erst in den letzten Tagen die schlechte deutsche Beschäftigungslage als eine strukturelle Gefahr auch für die einheitliche Währung bezeichnet. Wir haben also allen Grund, die Risiken zuerst bei uns zu suchen und hier gegenzusteuern, anstatt die Nachbarn ins Visier zu nehmen. Unsere Politik ist es, die dafür sorgt, daß der Euro kein Debakel wird. Die gemeinsame Währung drängt auf die Konstruktion eines Europas, das nach außen noch stärker ist und nach innen noch mehr integriert, eines Europas gemeinsamer Sicherheit, eines sozialen Europas, eines Europas mit einer starken gemeinschaftlichen Außen-, Innen- und Rechtspolitik. Wir Sozialdemokraten werden bei der Erfüllung dieser Aufgaben zur Stelle sein, auch und gerade dann, wenn es gilt, 1999 die europäische Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Auch darauf sind wir vorbereitet. Wir verlieren dabei die Interessen Deutschlands nicht aus dem Auge, wie die anderen Länder übrigens das Ihre nicht. Helmut Schmidt stand immer für Europa, aber eben auch für diesen Grundsatz. Deutschland ist nicht der Zahlmeister Europas, aber es darf auch nicht den Schulmeister spielen. Stoibers erhobener Zeigefinger darf nicht zum neuen Symbol deutscher Anmaßung werden. Schon meine Generation und erst recht die Jüngeren, liebe Genossinnen und Genossen, sehen in Europa einen selbstverständlichen Teil ihres Lebens. Die Älteren irritiert diese Selbstverständlichkeit manchmal etwas. Ihnen fehlt das ständige Bekenntnis. Aus ihrer Geschichte heraus ist das sehr gut zu verstehen. Aber die europäische Währung ist nicht der Preis für unsere Geschichte; sie ist nicht eine Entscheidung über Krieg oder Frieden. Helmut Kohl will uns weismachen, der Euro müsse sein zur Bewältigung unserer Vergangenheit. Wir aber sagen: Wir wollen den Euro nicht zur Bewältigung der Vergangenheit, sondern als Option auf unsere Zukunft, liebe Genossinnen und Genossen. Im übrigen gilt das für die ganze sozialdemokratische Außenpolitik nach unserer Regierungsübernahme. Die Nachbarn erwarten von uns, daß wir schnell unsere inneren Probleme lösen und daß wir nach außen selbstbewußt unsere Interessen formulieren. Den französischen Zeitungen läßt sich dazu Interessantes entnehmen. Deutschland, so schreiben sie, sei nach aller historischen Erfahrung eigentlich immer dann besonders verträglich und ein guter Nachbar, wenn es stark und selbstbewußt sei. Ich glaube, diese Kommentatoren haben recht, liebe Genossinnen und Genossen. Immer häufiger wird draußen geschrieben, Deutschland wirke wie ein schwankender Riese; wegen unserer wirtschaftlichen und politischen Macht müsse man uns ernst nehmen, aber man wisse nicht genau, was wir denn wollten. Das erfüllt die anderen Länder nicht etwa mit Zufriedenheit, sondern mit Sorge über diese Handlungsschwäche. Die Menschen wollen, daß die drängenden Probleme der Innenpolitik im Mittelpunkt der Wahlentscheidung stehen. Das ist wahr. Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft ist nicht allein eine deutsche Aufgabe, sondern sie ist auch die Aufgabe für Europa. Auch das ist wahr. Dies ist das gemeinsame Projekt der sozialdemokratischen Parteien in der Europäischen Union, in die Rudolf Scharping viel Arbeit investiert. Nur wenn auch Deutschland sozialdemokratisch regiert wird, gibt es den Ruck, den Europa braucht. Laßt uns auf unserem alten Kontinent gemeinsam eine neue Ära beginnen. Das ist das, was wir unseren Freunden in der Sozialistischen Internationale sagen und was wir ihnen versprechen. Liebe Genossinnen und Genossen, Willy Brandt hat vor 25 Jahren gesagt: Wer in dieser Demokratie, wer in Deutschland Mehrheit und Macht erringen will, der muß die Mitte gewinnen und die Mitte halten. Beide, Willy Brandt und Helmut Schmidt, stehen für eine Sozialdemokratie, die eine Vision davon hatte, wie wir morgen leben wollen, die den Menschen etwas zutraute, ohne sie zu überfordern. Wie sollen die Menschen der Politik vertrauen, wenn die Politik den Menschen nicht vertraut? Helmut Schmidt war es, der die Mitte in bester Weise vertreten hat, und wir wollen sie für unsere Sache, die jetzt vor uns liegt, zurückgewinnen. Heute wollen wir erneut ein Bündnis schließen mit jenen Menschen, die wir zur neuen Mitte in dieser Gesellschaft zählen: mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die sich immer auf uns verlassen konnten, wie wir uns immer auf sie verlassen konnten, mit den Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, mit denen, die in den Unternehmen guten Willens sind und die in den Unternehmensleitungen politisch längst nicht alle ein Brett vor dem Kopf haben - wo sie es noch haben, werden wir es sanft entfernen. All diejenigen können wir mit unserer Fähigkeit, Probleme zu lösen, erreichen. Sie erwarten pragmatische Problemlösungen, auch politische Führung. Sie haben es satt, sich in diesem Land im Kampf gegen den Stillstand aufzureiben. Sie haben sich von den Parteien und dem Staat abgewandt, weil sie nichts mehr von ihm erwarten. Sie haben sich von der Bundesregierung gelöst, weil sie selber Initiative zeigen und weil sie das auch von ihrer Regierung erwarten, aber dort nicht finden. Und, liebe Genossinnen und Genossen: Diese Neue Mitte stellt sehr viel entschiedener als früher auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Gleichberechtigung. Mehr Frauen in gesellschaftliche Ämter, das ist für uns - mich eingeschlossen - selbstverständlich. Aber nicht nur der Quotenproporz zeichnet eine gute Politik für Frauen und Männer aus. Das wäre zuwenig. Wir haben in Deutschland die elternfeindlichste, vor allem aber die frauenfeindlichste Schulwirklichkeit Europas. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt sie Frauen nicht einmal ausreichend Gewißheit, daß ihre Kinder in festen Zeiten in der Schule zuverlässig betreut werden. Dies zu ändern, ist unsere Verpflichtung, und die Sozialdemokraten in den Ländern sind dabei. Wir brauchen mehr Ganztagsschulen und Betreuung für jüngere Kinder. Ich vermag nicht einzusehen, weshalb das in vielen Staaten Europas klappt und nur bei uns nicht möglich sein sollte. Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe mir sehr aufmerksam angeguckt, was in der sogenannten bayerisch-sächsischen Zukunftskommission zu diesem Thema formuliert worden ist. Dort ist beklagt worden, daß die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern vor allen Dingen deshalb signifikant höher sei als in den alten Bundesländern, weil es eine unverhältnismäßig hohe Frauenerwerbsquote gäbe. Was heißt das? Was wollen uns die Dichter damit sagen? Wollen sie damit den Frauen in Ostdeutschland sagen, daß sie gefälligst darauf zu verzichten hätten, ihre Qualifikationen angemessen einzusetzen, wie das auch die Männer tun können? Oder wollen sie nicht mit uns darangehen, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, damit Frauen und Männer entlang ihren Qualifikationen arbeiten können? Ich freue mich, liebe Freunde, liebe Freundinnen, daß das Konzept, eine Politik für die Neue Mitte zu machen, auch über den Begriff so angenommen worden ist. Aber mein Anliegen ist, daß man das richtig versteht. Wir bedienen nicht etwa die Neue Mitte wie etwas Fremdes oder Außenstehendes, quasi wie eine Wählergruppe, die es zu gewinnen gilt. Nein, liebe Genossinnen und Genossen, wenn das dauerhaft sein soll, wenn das ehrlich gemeint ist - und es ist ehrlich gemeint -, dann müssen wir die Partei der Neuen Mitte sein wollen, mit der gesamten Politik, die wir formulieren. Unsere Partei hat klar und realistisch gesagt, was sie für unser Land tun wird. Dabei werden uns unsere Grundüberzeugungen leiten. Aber wir werden manchen Wunsch aufgeben, manche Forderung zurückstellen und manche Vorstellung einmotten müssen. Wir haben uns den unmittelbar vor uns liegenden Problemen auf dem Arbeitsmarkt, den Aufgaben der Modernisierung des Staates und des Steuersystems, der Zukunftsfähigkeit der sozialen Systeme zu stellen. Wir werden das mit Pragmatismus und mit Realitätssinn tun. Wir werden für unser Land wieder eine Politik neuen Stils einführen, eine Politik des sachlichen Ausgleichs und der fairen Zusammenarbeit. Ich bitte euch, mir dafür heute einen Auftrag zu erteilen. Liebe Genossinnen und Genossen, Willy Brandt hat einmal gesagt - und ich sage es heute ebenfalls -: Ich weiß, daß ich mit eurer Zustimmung der Kandidat der ganzen Partei bin. Aber ihr wißt auch, daß ich für ein Amt kandidiere, dessen Inhaber die Richtlinien der Politik für die ganze Nation bestimmt. Ich bin sicher: Wenn ihr mir jetzt euer Vertrauen schenkt, daß ihr mir dann auch die Freiheit geben werdet, die dieses Amt braucht. In keiner deutschen Partei wird offener und freimütiger um Wege und Meinungen gerungen als in der deutschen Sozialdemokratie. Das ist gut so, und das muß auch so bleiben. Aber es wird in den vor uns liegenden Monaten auch keine Partei geben, liebe Genossinnen und Genossen, die geschlossener und die einmütiger um den Wechsel in Deutschland kämpfen wird. Auf eines müßt ihr euch einstellen - das sind wir so gewöhnt -: Man wird uns Sozialdemokraten in dem vor uns liegenden Wahlkampf wieder einmal vorwerfen, wir seien charakterlose Gesellen, unfähig zum Zusammenhalt und nur darauf aus, den Menschen in die Tasche zu greifen. Wir erleben heute schon ansatzweise, welch schmutzige Brühe da im Adenauer-Haus gekocht wird, die über uns gegossen werden soll. Ich sehe das ganz gelassen, liebe Genossinnen und Genossen. Ich sage: Der Charakter von Politik entscheidet sich an der Substanz von Politik, und da hat Kohl wenig zu bieten. Unmoralisch sind diejenigen, die in den letzten 16 Jahren eine ganze Nation dem Stillstand überantwortet haben. Das ist die Abwesenheit politischer Moral, liebe Genossinnen und Genossen. Schließlich noch dies: Es stimmt, daß es immer wieder Fragen geben wird, die streitig sind. Aber es stimmt auch - das nehme ich für mich in Anspruch, und dafür bin ich auf der anderen Seite dankbar -: Wohl selten war das Programm einer Partei so nahe an ihrem Kandidaten, und so selten war ein Kandidat so nahe an diesem Programm. Immer in der Krise waren wir es, liebe Genossinnen und Genossen, die deutschen Sozialdemokraten, von denen die Menschen Konzepte und Orientierung erhofften. Das war bei Willy Brandt so, das war bei Helmut Schmidt so, und das ist heute wieder so. Die Zeiten sind erneut vorbei, in denen es so schien, als sei das Sozialdemokratische nicht machbar und das Machbare nicht sozialdemokratisch. Das ist anders geworden, und das werden wir am 27. September mit unserem Wahlsieg allen zeigen. Liebe Genossinnen und Genossen, helft mit dabei! Miteinander können, miteinander werden wir es schaffen! Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.