Clinton 20.01.1997 Rede (Inaugural-Rede) bei der Einführung in seine zweite Amtszeit Washington - im Wortlaut Meine amerikanischen Mitbürger, bei dieser letzten Amtseinführung eines Präsidenten im 20. Jahrhundert wollen wir unsere Augen auf die Herausforderungen richten, die uns im nächsten Jahrhundert erwarten. Es ist unser großes Glück, daß die Zeit und die Möglichkeiten uns nicht nur an die Schwelle eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends gebracht haben, sondern auch an die Schwelle vielversprechender neuer Aussichten für menschliche Belange. Dies ist ein Augenblick, der unseren Kurs und unseren Charakter auf Jahre hinaus bestimmen wird. Wir müssen unsere alte Demokratie für immer jung erhalten. Geleitet von der jahrtausendealten Vision eines gelobten Landes wollen wir unseren Blick auf ein Land neuer Versprechungen richten. Das Versprechen für Amerika wurde im 18. Jahrhundert aus der stolzen Überzeugung heraus geboren, daß wir alle gleich geschaffen sind. Es wurde im 19. Jahrhundert erweitert und erhalten, als unsere Nation sich auf dem Kontinent ausbreitete, die Union rettete und die schreckliche Geißel der Sklaverei abschaffte. Dann katapultierte sich dieses Versprechen in Aufruhr und Triumph auf die Weltbühne, um dieses Jahrhundert zum Amerikanischen Jahrhundert zu machen. Und was für ein Jahrhundert es war. Amerika wurde zur mächtigsten Industrienation der Welt, rettete in zwei Weltkriegen und einem langen Kalten Krieg die Welt vor der Tyrannei und reichte immer wieder über den Globus hinweg Millionen Menschen die Hand, die sich wie wir nach den Segnungen der Freiheit sehnten. Auf dem Weg dorthin brachte Amerika eine großartige Mittelschicht und die Alterssicherung hervor, baute beispiellose Lerneinrichtungen und öffnete die öffentlichen Schulen für alle, spaltete das Atom und erforschte die Himmel, erfand den Computer und den Mikrochip, vertiefte den Urquell der Gerechtigkeit durch eine Revolution der Bürgerrechte für Afroamerikaner und alle Minderheiten und erweiterte den Kreis der Staatsbürgerschaft, Chancen und Würde auf die Frauen. Jetzt liegt zum dritten Mal ein neues Jahrhundert vor uns und wiederum eine Zeit der Entscheidungen. Wir begannen das 19. Jahrhundert mit der Entscheidung, unsere Nation von Küste zu Küste auszubreiten. Wir begannen das 20. Jahrhundert mit der Entscheidung, die Industrielle Revolution für unsere Werte des freien Unternehmertums, des Naturschutzes und der Menschenwürde zu nutzen. Diese Entscheidungen bewirkten den Unterschied. Beim Anbruch des 21. Jahrhunderts muß ein freies Volk sich jetzt entscheiden, die Kräfte des Informationszeitalters und der globalen Gesellschaft zu formen, das unbegrenzte Potential all unserer Menschen freizusetzen und eine perfektere Union zu bilden. Als wir das letzte Mal zusammenkamen, schien unser Marsch in diese neue Zukunft weniger sicher als heute. Damals haben wir gelobt, einen klaren Kurs zur Erneuerung unserer Nation zu steuern. In diesen vier Jahren haben uns Tragödien berührt, Herausforderungen belebt, Leistungen gestärkt. Amerika steht allein als die unerläßliche Nation der Welt. Unsere Volkswirtschaft ist wiederum die stärkste der Welt. Wiederum schaffen wir stärkere Familien, prosperierende Gemeinden, bessere Bildungschancen und eine sauberere Umwelt. Probleme, die sich einst zu verschärfen drohten, weichen jetzt unseren Anstrengungen: Unsere Straßen sind sicherer und eine Rekordzahl unserer Mitbürger ist nicht mehr von Sozialhilfe abhängig und hat wieder Arbeit. Und wiederum haben wir eine umfassende Diskussion über die Rolle der Regierung für unsere Zeit beendet. Heute können wir erklären: Die Regierung ist nicht das Problem, und die Regierung ist nicht die Lösung. Wir - das amerikanische Volk - sind die Lösung. Unsere Gründerväter verstanden dies gut und gaben uns eine Demokratie, die stark genug war, Jahrhunderte zu überdauern, die flexibel genug war, um sich unseren gemeinsamen Herausforderungen zu stellen und unsere gemeinsamen Träume an jedem neuen Tag zu verwirklichen. Ebenso wie sich die Zeiten ändern, muß sich die Regierung ändern. Wir brauchen eine neue Regierung für ein neues Jahrhundert - bescheiden genug, um nicht zu versuchen, alle unsere Probleme für uns zu lösen, aber stark genug, um uns das Handwerkszeug zur Lösung unserer Probleme an die Hand zu geben. Eine Regierung, die schlanker ist, nicht die Ausgaben überschreitet und mehr mit weniger tut. Doch wo sie für unsere Werte und Interessen in der Welt eintreten und wo sie den Amerikanern die Macht geben kann, einen wirklichen Unterschied in ihrem täglichen Leben zu bewirken, sollte die Regierung mehr tun, nicht weniger. Die übergeordnete Aufgabe unserer neuen Regierung besteht darin, allen Amerikanern eine Chance zu bieten - keine Garantie, aber eine echte Chance - ein besseres Leben aufzubauen. Davon abgesehen liegt es an uns, liebe Mitbürger, die Zukunft zu gestalten. Unsere Gründerväter lehrten uns, daß die Bewahrung unserer Freiheit und unserer Union von verantwortungsvollen Bürgern abhängt. Und wir benötigen ein neues Verantwortungsbewußtsein für ein neues Jahrhundert. Es liegt Arbeit vor uns - Arbeit, die die Regierung alleine nicht leisten kann: Die Kinder im Lesen zu unterrichten, von der Sozialhilfe abhängigen Menschen Arbeit zu geben, hinter verschlossenen Türen und verbarrikadierten Fenstern hervorzukommen, um unsere Straßen von Drogen, Banden und Verbrechen zu befreien, uns Zeit zu nehmen, anderen zu helfen. Jeder einzelne von uns muß auf seine Weise persönliche Verantwortung übernehmen - nicht nur für uns und unsere Familien, sondern für unsere Nachbarn und unsere Nation. Unsere größte Verantwortung besteht darin, einen neuen Gemeinsinn für ein neues Jahrhundert zu entwickeln. Damit jeder von uns Erfolg haben kann, müssen wir als ein Amerika Erfolg haben. Die Herausforderung unserer Vergangenheit ist die Herausforderung unserer Zukunft - werden wir eine Nation, ein Volk mit einem gemeinsamen Schicksal sein oder nicht? Werden wir alle zusammenkommen oder auseinanderdriften? Die Trennung der Rassen ist der ewige Fluch Amerikas. Und jede neue Welle von Einwanderern ist ein neues Ziel für alte Vorurteile. Mit dem Vorwand religiöser oder politischer Überzeugung bemäntelte Vorurteile und Verachtung unterscheiden sich davon nicht. Diese Kräfte haben in der Vergangenheit beinahe unsere Nation zerstört. Sie plagen uns immer noch. Sie heizen den Fanatismus des Terrors an. Und sie quälen Millionen Menschen in gespaltenen Nationen auf der ganzen Welt. Diese Obsessionen lähmen diejenigen, die hassen und natürlich diejenigen, die gehaßt werden und berauben beide dessen, was sie sein könnten. Wir können und werden den düsteren Impulsen nicht nachgeben, die überall in den innersten Regionen der Seele lauern. Wir werden sie überwinden. Und wir werden sie durch die großzügige Geisteshaltung der Menschen ersetzen, die sich miteinander wohl fühlen. Unser Gefüge rassischer, religiöser und politischer Vielfalt wird im 21. Jahrhundert ein Gottesgeschenk sein. Diejenigen, die zusammen leben, lernen und arbeiten sowie neue Bande knüpfen können, die zusammenschmieden, werden reichhaltig belohnt werden. Am Vorabend dieses neuen Zeitalters können wir bereits seine groben Umrisse erkennen. Vor zehn Jahren war das Internet der mystische Wirkungskreis von Physikern; heute ist es eine täglich genutzte Enzyklopädie für Millionen von Schulkindern. Wissenschaftler erforschen jetzt die Grundsteine des menschlichen Lebens. Für die am meisten gefürchteten Krankheiten scheint Heilung in greifbare Nähre gerückt zu sein. Die Welt ist nicht länger in zwei feindliche Lager gespalten. Statt dessen knüpfen wir Beziehungen zu Nationen an, die einst unsere Gegner waren. Die wachsende Verbindung von Wirtschaft und Kultur gibt uns die Chance, den Menschen auf der ganzen Welt ein besseres Leben zu ermöglichen. Und erstmals in der Geschichte leben auf diesem Planeten mehr Menschen in einer Demokratie als in einer Diktatur. Meine amerikanischen Mitbürger, im Rückblick auf dieses bemerkenswerte Jahrhundert fragen wir uns: Können wir hoffen, die Leistungen des 20. Jahrhunderts in Amerika nicht nur fortzusetzen, sondern sie noch zu übertreffen und eine Wiederholung des schrecklichen Blutvergießens zu vermeiden, das sein Vermächtnis besudelt? Auf diese Frage muß jeder hier Anwesende und jeder Amerikaner in unserem Land mit einem lauten "Ja" antworten. Das ist der Kern unserer Aufgabe. Mit einer neuen Vision der Regierung, einem neuen Verantwortungsbewußtsein und neuem Gemeinsinn werden wir die Reise Amerikas fortsetzten. Wir werden das Versprechen, das wir in einem neuen Land suchten, in einem Land neuer Versprechungen wiederfinden. In diesem neuen Land wird Bildung das höchste Gut jedes Bürgers sein. Unsere Schulen werden die höchsten Standards der Welt haben und in den Augen jedes Mädchens und jedes Jungen den Funken der Chance entzünden. Und die Türen zu weiterführender Bildung werden für alle offen sein. Das Wissen und die Macht des Informationszeitalters werden nicht nur in Reichweite weniger Menschen liegen, sondern in jedem Klassenzimmer, in jeder Bibliothek, jedem Kind zur Verfügung stehen. Eltern und Kinder werden nicht nur arbeiten, sondern auch Zeit zum Lesen und zum gemeinsamen Spiel haben. Und sie werden am Küchentisch Pläne für ein schöneres Zuhause, einen besseren Arbeitsplatz und die sichere Chance für einen Collegebesuch schmieden. Auf unseren Straßen werden wir wieder das Lachen von Kindern hören, weil niemand mehr versuchen wird, sie zu erschießen oder ihnen Drogen zu verkaufen. Jeder Arbeitswillige wird Arbeit finden, und die heutige ewige Unterschicht wird zur wachsenden Mittelschicht von morgen. Neue Wunder der Medizin werden endlich nicht nur die erreichen, die schon heute Anspruch auf Gesundheitsfürsorge haben, sondern auch die Kinder und hart arbeitenden Familien, denen sie allzu lange verwehrt war. Wir werden für Frieden und Freiheit einstehen und eine starke Verteidigung gegen Terror und Zerstörung aufrechterhalten. Unsere Kinder werden ohne Furcht vor der Bedrohung durch atomare, chemische oder biologische Waffen schlafen können. Häfen und Flughäfen, Farmen und Fabriken werden von Handel, Innovationen und Ideen strotzen. Und die größte Demokratie der Welt wird eine ganze Welt von Demokratien anführen. Unser Land neuer Versprechungen wird eine Nation sein, die ihren Verpflichtungen nachkommt - eine Nation, die ihren Haushalt ausgleicht, aber deren Werte nie aus dem Gleichgewicht geraten. Eine Nation, in der unsere Großeltern im Alter eine sichere Rente und Gesundheitsfürsorge haben und ihre Enkel wissen, daß wir die erforderlichen Reformen durchgeführt haben, um auch sie später in den Genuß dieser Leistungen kommen zu lassen. Eine Nation, die die weltweit produktivste Volkswirtschaft unterhält, während sie gleichzeitig den großen Naturreichtum von Wasser, Luft und majestätischem Land schützt. Und in diesem Land neuer Versprechungen werden wir unsere Politik reformiert haben, so daß die Stimme des Volkes immer lauter ist als der Lärm kleinlicher Interessen. Die Bürger werden sich wieder an der Politik beteiligen, und sie wird das Vertrauen aller Amerikaner genießen. Liebe Mitbürger, lassen Sie uns dieses Amerika bauen, eine Nation, die sich der Realisierung des vollen Potentials aller ihrer Bürger immer stärker annähert. Wohlstand und Macht sind wichtig und müssen bewahrt werden. Aber lassen Sie uns eines nie vergessen: Der größte von uns erzielte und der größte noch zu erzielende Fortschritt ist der des menschlichen Herzens. Letzten Endes sind aller Wohlstand der Welt und tausend Armeen der Stärke und dem Anstand des menschlichen Geistes unterlegen. Vor 34 Jahren hielt der Mann, dessen wir heute gedenken, am anderen Ende dieser Mall eine Rede, die die ganze Nation aufrüttelte. Wie ein Prophet aus alten Zeiten sprach er über seinen Traum, daß sich Amerika eines Tages erhebt und alle seine Bürger als gleichberechtigt vor dem Gesetz und im Herzen behandelt. Martin Luther Kings Traum war der Amerikanische Traum. Sein Streben ist unser Streben: Das endlose Streben, unseren wahren Glauben zu leben. Unsere Geschichte wurde auf solchen Träumen und Mühen aufgebaut. Und mit unseren Träumen und Mühen werden wir im 21. Jahrhundert das Versprechen Amerikas erfüllen. Ich verpflichte mich, hierzu meine ganze Energie und die Kraft meines Amtes einzusetzen. Ich bitte die Mitglieder des Kongresses, sich mir bei diesem Bestreben anzuschließen. Das amerikanische Volk hat den Präsidenten einer Partei und den Kongreß einer anderen wiedergewählt. Zweifellos tat es das nicht, um kleinliche Politik und extreme Parteilichkeit zu fördern, die es ja kritisiert. Vielmehr fordert es uns auf, den Bruch zu kitten und die Mission Amerikas fortzusetzen. Amerika verlangt uns große Dinge ab und verdient sie auch - und alles Große war einmal klein. Erinnern wir uns an die zeitlose Weisheit von Kardinal Bernardin, der am Ende seines Lebens erklärte: "Es ist falsch, das kostbare Geschenk der Zeit durch Bitterkeit und Teilung zu vergeuden." Meine amerikanischen Mitbürger, wir dürfen nicht das kostbare Geschenk dieser Zeit vergeuden. Denn wir alle befinden uns auf der Reise des Lebens, und auch unsere Reise wird einmal beendet sein. Aber die Reise Amerikas muß fortgesetzt werden. Daher, liebe Mitbürger, müssen wir stark sein, denn das Risiko ist groß. Die Herausforderungen unserer Zeit sind enorm und anders als früher. Wir wollen ihnen mit Glauben und Mut, mit Geduld und einem dankbaren, frohen Herzen begegnen. Lassen Sie uns die Hoffnung dieses Tages in das edelste Kapitel unserer Geschichte verwandeln. Lassen Sie uns unsere Brücke bauen. Eine Brücke, die breit und fest genug ist, damit jeder Amerikaner sie auf dem Weg in ein gelobtes Land neuer Versprechungen überschreiten kann. Mögen die Generationen, deren Gesichter wir noch nicht sehen und deren Namen wir vielleicht nie kennen werden, von uns sagen können, daß wir unser geliebtes Land in ein neues Jahrhundert geführt haben, in dem der Amerikanische Traum für alle Kinder wahr wird - in dem das amerikanische Versprechen einer perfekteren Union für alle Menschen Realität ist und Amerikas helle Flamme der Freiheit auf der ganzen Welt leuchtet. Lassen Sie uns von diesem Ort und dem Höhepunkt dieses Jahrhunderts aus die Reise fortsetzen. Möge Gott uns für die vor uns liegende Arbeit stärken und Amerika immer segnen.