Kohl 23.11.1994 Große Regierungserklärung "Aufbruch in die Zukunft: Deutschland gemeinsam erneuern" - im Wortlaut Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, am 16. Oktober haben sich die Wählerinnen und Wähler in Deutschland für die politische Mitte entschieden. Freunde und Partner im Ausland haben unseren Wahlsieg einhellig als eine gute Nachricht für Europa begrüßt, und wir nehmen dies dankbar zur Kenntnis. Unsere Freunde und Partner wissen, daß wir die Bundesrepublik sicher in die Zukunft führen werden. Und so sehen es auch alle jene Wählerinnen und Wähler, die für die Koalition der Mitte aus CDU, CSU und FDP gestimmt haben. Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung erfolgreich abgeschlossen. Wir haben dabei zielstrebig und kollegial zusammengearbeitet, und so wird es in den vier Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben. Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt im fünften Jahr seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit. "Die Bundesrepublik konnte 1989 auf vierzig erfolgreiche Jahre zurückblicken. Die vergangenen fünf Jahre sind sogar noch besser gewesen." So schrieb es kürzlich die "Financial Times", und sie hat recht. Die innere Einheit unseres Vaterlandes ist in vielen Bereichen schon gelebte Wirklichkeit. Wir haben gute Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, um ganz Deutschland fit zu machen für das nächste, das 21. Jahrhundert. Wir haben dabei das Wohl künftiger Generationen stets im Blick zu halten. Deshalb dürfen wir nicht nur für vier Jahre planen. Verändern und Bewahren stehen nicht im Widerspruch zueinander. Sie bedingen einander. Leistung und Geborgenheit, Selbständigkeit und Hilfsbereitschaft sind keine Gegensätze. Sie sind untrennbare Teile unserer Vision von der Zukunft Deutschlands in einer Welt, die sich, wie wir wissen, dramatisch verändert. Deutschland wird seine schöpferischen Energien für Werke des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger Freund auftreten und handeln. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist jeder Anstrengung wert. Wir brauchen jetzt in unserem Volk ein Bündnis für die Zukunft. Ich lade alle dazu ein, mit uns die Erneuerung von Staat und Gesellschaft zu wagen und unser Volk als solidarische Gemeinschaft zu stärken. Ich denke dabei an die vielen ehrenamtlich Tätigen, die sich im sozialen, kirchlichen, pädagogischen und politischen Bereich für ihre Mitmenschen engagieren. Ich denke an die Soldaten der Bundeswehr und an unsere Polizeibeamten, die oft Gefahr für Leib und Leben auf sich nehmen, um den Rechtsstaat und damit unser aller Freiheit zu sichern. Ich denke an Handwerksmeister und -meisterinnen ebenso wie an Forscher und Entdecker, die mit ihrer Kreativität und mit ihrem Fleiß die Grundlagen für die Arbeitsplätze von morgen legen. Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen, ebenso wie an die Industriearbeiter im Ruhrgebiet, im ostdeutschen Chemiedreieck, in norddeutschen Werften oder im süddeutschen Maschinenbau, die dafür sorgen, daß "Made in Germany" ein Gütesiegel von Wertarbeit bleibt. Ich denke an die Männer und Frauen, die als Entwicklungshelfer in Ländern der Dritten Welt einen unschätzbaren Dienst auch für das weltweite Ansehen Deutschlands leisten. Ich denke vor allem an die Mütter und Väter, die ja zu Kindern sagen und ihnen Geborgenheit und Zukunft schenken. Jeder wird gebraucht. Wir sind auf die Lebenserfahrung der älteren Generation angewiesen. Wir brauchen die Träume und die Dynamik der Jungen. Wir benötigen das Vorbild behinderter Menschen, die mit großem Lebensmut ihr ganz persönliches Schicksal meistem. Ich halte es für unverantwortlich, wenn in unserem Land 55jährigen Arbeitslosen gesagt wird, sie würden nicht mehr gebraucht. Das ist unmenschlich. - Es ist Ihre Sache, dabei zu lachen. Das zeigt auch die Lage in der Sie sich geistig befinden. Wahr ist allerdings auch, daß es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die wir als Partner im Bündnis für die Zukunft erst noch werben müssen. Wir müssen manche noch davon überzeugen, daß geistige Unbeweglichkeit und vor allem ideologische Verbohrtheit in die Sackgasse führen. - Vielleicht Sie, wenn Sie dazwischenrufen, verehrter Herr Kollege. Offensichtlich fühlen Sie sich betroffen. Wir müssen deshalb bereit sein, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen und, wenn es not tut, Widerstände zu überwinden. Wir, die Koalition der Mitte, wollen diese Republik - die Republik des Grundgesetzes - und keine andere. Wer im Zusammenspiel mit Extremisten von links oder rechts, mit Kommunisten oder Neonazis, die Achse unserer Republik verschieben oder verbiegen will, dem werden wir entschieden entgegentreten. Unsere Gegner sind dabei nicht jene Bürgerinnen und Bürger, die aus mancherlei Ärger und Verdruß Radikalen und Extremisten ihre Stimme gegeben haben; sie wollen wir für die demokratischen Parteien zurückgewinnen! Unsere Gegner sind Kader und Funktionäre, die aus der Geschichte dieses Jahrhunderts nichts dazugelernt haben. Sie lehnen unsere demokratische Ordnung ab, und viele wollen sie umstürzen. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß wir diese Auseinandersetzung gewinnen werden; denn die große Mehrheit aller Deutschen steht auf unserer Seite. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Welt um uns herum hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Dramatische Veränderungen erleben wir nicht nur im internationalen Umfeld, sondern auch in unserer eigenen Gesellschaft. Die neuen Herausforderungen und Chancen, vor denen wir Deutsche an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert stehen, erfordern von uns allen die Bereitschaft zum Umdenken. Zum notwendigen Umdenken gehört, daß wir die Widersprüche offen aus- und ansprechen zwischen dem, was viele Menschen sich wünschen, und dem, was sie dafür selbst zu tun bereit sind. "Wenn die Freiheit unbegrenzt und beliebig wird", so hat es Bischof Karl Lehmann in seiner Predigt am 10. November im Berliner Dom formuliert, "schlägt sie in eine neue Form der Abhängigkeit um. Wir sind oft im Taumel der Freiheit gefangen und haben zum wenig verstanden, daß zu dieser Freiheit Selbstbeherrschung und Verantwortung gehören." Es ist unbestreitbar, meine Damen und Herren - und wir alle erleben es täglich -, daß es immer schwerer wird, das Gemeinwohl gegenüber Einzel- und Gruppeninteressen durchzusetzen. Viele in unserem Lande erwarten vom Staat zuviel und sind selbst zuwenig bereit, Mitverantwortung zu übernehmen. Jeder von uns kennt die Beispiele aus seinem persönlichen Lebensbereich. Jeder weiß, daß Kinder unsere Zukunft sind, aber gegen Spielplätze in Wohnvierteln wird gerichtlich vorgegangen, und Kinder zu haben wird immer mehr zum Nachteil bei der Wohnungssuche. - Meine Damen und Herren, wenn Sie zustimmen, können Sie doch klatschen. Das ist doch ganz einfach für Sie. Wir wissen, daß der Altersdurchschnitt in unserer Gesellschaft rapide steigt und es damit immer mehr pflegebedürftige Menschen gibt. Aber wir führen gleichzeitig eine erregte Diskussion über den notwendigen Ausgleich zur Finanzierung der Pflegeversicherung. Es wird über eine wachsende Anonymität und den Verlust von Bindungen in unserer Gesellschaft geklagt, aber zu wenige sind bereit, ihr eigenes Handeln an den oft großartigen Vorbildern gelebter Nachbarschaft und praktizierter Nächstenliebe auszurichten. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen unbestritten, aber es wird im Alltag zum wenig dafür getan, Frauen gleiche Chancen zu geben. Uns alle bedrückt die Arbeitslosigkeit, weil wir wissen, was dies für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet. Aber Möglichkeiten, auch längerfristig Arbeitslosen den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit zu erleichtern, werden vielerorts noch viel zuwenig genutzt. Wir alle wissen, daß wir viele neue Arbeitsplätze brauchen. Aber gleichzeitig gibt es zuwenig gesellschaftliche Anerkennung für diejenigen, die das Wagnis der Selbständigkeit einzugehen bereit sind und als Arbeitgeber Beschäftigung für sich und andere schaffen. Wir erregen uns darüber, daß teilweise 20 Jahre und mehr zwischen Planung und Baubeginn für Eisenbahnstrecken liegen. Aber wahr ist auch, daß solche Verzögerungen durch zu viele Klagen und Einsprüche verursacht werden. Der Ministerpräsident eines Bundeslandes hat mir dieser Tage ein besonders anschauliches Beispiel für solche Hemmnisse berichtet: Ein Landkreis, der seit 15 Jahren eine Müllverbrennungsanlage betreibt, muß diese jetzt nachrüsten. Für das Genehmigungsverfahren hatte er dem zuständigen Regierungspräsidenten 23 Aktenordner in 26facher Ausfertigung, also insgesamt fast 600 Ordner, zu übersenden. Alle diese Beispiele machen deutlich, daß der einzelne und die Gemeinschaft der Bürger stärkere Mitverantwortung und Initiative für das eigene und damit für das Wohl aller übernehmen müssen. Das geht aber nur, meine Damen und Herren, wenn der Staat dafür Freiräume schafft und sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert. Wir wollen weniger Staat, aber wir wollen einen Staat, der seine eigentlichen Aufgaben voll erfüllt. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit seiner Bürger. Wir glauben an die Kraft der Freiheit. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich wieder stärker auf ihre eigenen, oft ungenutzten Möglichkeiten besinnt und ihren ganzen Reichtum an Fleiß, Ideen und Hilfsbereitschaft mobilisiert. Wir wissen, daß die Familie der Ort ist, wo über unsere Zukunft entschieden wird. Wir wissen, daß die überschaubaren Lebenskreise das menschliche Gesicht unseres Landes prägen. Deshalb kann es beispielsweise nicht darum gehen, die Familie an die Arbeitswelt anzupassen, sondern muß es darum gehen, die Arbeitswelt an die Familie anzupassen. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe für Tarifpartner und für den Staat. Ein wichtiger Prüfstein für die Menschlichkeit unserer Gesellschaft ist die Art unseres Umgangs mit Ausländern und unsere Bereitschaft, sie zu integrieren. Wir wollen Einbürgerung erleichtern und für in Deutschland geborene Kinder der dritten Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit einführen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jeder weiß, daß wir im internationalen Wettbewerb ohne Erneuerung an Zukunftsfähigkeit verlieren. Wir stehen deshalb vor der großen Herausforderung, Innovationsbereitschaft und Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern. Wir haben das Glück, daß die deutsche Einheit uns die Chance gibt, die Erneuerung in Frieden und in Gemeinsamkeit zu gestalten. Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung tiefgreifend verändert - im Osten, aber auch im Westen. Unser Volk hat in einer beispiellosen und weltweit anerkannten Gemeinschaftsleistung seine Bereitschaft zur Solidarität und seine Kraft zum Neubeginn unter Beweis gestellt. Wir vertrauen auf diese Bereitschaft und auf diese Kraft auch beim Aufbruch in die Zukunft. Meine Damen und Herren, wir werden in den kommenden Tagen Gelegenheit haben, ausgiebig über die Einzelheiten des Arbeitsprogramms der Bundesregierung für diese Legislaturperiode zu sprechen. Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann zugänglich; ich brauche ihn hier nicht im einzelnen zu referieren. Ich werde mich deshalb im folgenden auf einige der Fragen beschränken, die aus meiner und unserer Sicht für die Zukunft unseres Landes von herausragender Bedeutung sind. Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Staat ist für den Bürger da. Er hat die Rechte der Bürger zu schützen. Er darf ihre Kräfte aber nicht durch ein Übermaß an Reglementierungen und Bürokratie fesseln. Viele sagen - und es ist ja auch so -, sie litten unter einer Flut von Gesetzen, Verordnungen und Vorschritten und fühlten sich durch eine Unzahl von Formularen, Anträgen, Veranlagungen und Erklärungspflichten eingeengt und überfordert. Wir sind in der Tat dabei, uns auf allen Ebenen - im Bund, aber auch in den Ländern und Gemeinden - in einem immer dichter werdenden Gestrüpp von bürokratischen Regelungen zu verfangen. Damit verliert die Gesellschaft die Kraft und die Fähigkeit zu Kreativität und Innovation. Um es klar zu sagen: Diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten haben wir alle gemeinsam zu verantworten. Es nützt jetzt gar nichts, rückwärtsgewandte Schuldzuweisungen vorzunehmen. Hilfreich ist nur, wenn wir den gemeinsamen Willen aufbringen, den Rechts- und Vorschriftendschungel zu durchforsten und zu lichten. Dies ist ebenso eine Aufgabe für den Gesetzgeber auf der Ebene des Bundes und der Länder wie für Rechtsprechung und die Behörden, die das Recht anwenden. Dabei, meine Damen und Herren, müssen wir auch prüfen, ob nicht ein übertriebenes Streben nach Einzelfallgerechtigkeit die Gesetze letztlich so kompliziert gemacht hat, daß sie für die Bürger undurchschaubar geworden sind. Viele dieser Regelungen wirken zukunftsfeindlich, denn sie zielen auf die Verfestigung von Besitzständen. Hierin treffen sich nur allzuoft die Wünsche von Verbänden und Interessenvertretern mit dem Beharrungsvermögen der Bürokratie und auch - das wollen wir offen zugeben - der Neigung in der Politik, solchen Forderungen nachzugeben. Wir haben uns vorgenommen, diese Verkrustungen aufzubrechen. Wir wollen einen schlanken Staat. Dieser läßt dem einzelnen mehr Freiräume; aber er weist ihm auch mehr Verantwortung zu. - Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das haben doch auch Sie im Wahlkampf gesagt. Jetzt sind Sie eingeladen, mitzumachen: hier, im Bundesrat und in den Ländern. Das ist eine einmalige Chance für Sie, sich zu profilieren. Ich kann Sie nur einladen, mitzumachen. Wir vollen die Gefahr bannen, daß der Rechtsstaat erst zu einem reinen Rechtsmittelstaat und schließlich - auch das hören wir oft - in den Augen mancher zum Rechtsverweigerungsstaat wird. Deshalb haben wir in der Koalition vereinbart: - Die Zahl der Bundesbehörden wird durch Streichung oder Zusammenfassung von Aufgaben verkleinert. - Der Personalbestand in den Bundesbehörden wird in den nächsten vier Jahren jährlich um 1 Prozent gesenkt. - Im Rahmen der Steuerreform wird das Steuerrecht spürbar vereinfacht. - Die Bundesanstalt für Arbeit wird stärker dezentralisiert und ortsnäher organisiert. - Die Instrumente der Wirtschaftsförderung werden gestrafft und die Antragsverfahren vereinfacht. - Die vom Staat vor allem den Unternehmen abgeforderten statistischen Angaben werden auf das absolut Notwendige reduziert. - Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen kürzer werden. Mit diesem Ziel streben wir Änderungen im Baurecht, bei Normen und Standards und im Umweltrecht an. - Verwaltungs- und Gerichtsverfahren müssen für den Bürger wieder zeitlich überschaubar und berechenbar werden. Wir wollen zum Beispiel die überlangen Rechtsschutzverfahren verkürzen. So kann vielfach die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittelverfahrens wegfallen, zumindest zeitlich stark begrenzt werden. Entsprechende Vereinfachungen und Verbesserungen sollen auch in anderen Gerichtszweigen geprüft werden. Es soll auch geprüft werden, ob es möglich ist, Rechtsvorschriften von vornherein zeitlich zu befristen. Meine Damen und Herren, wir müssen in all diesen Bereichen ansetzen; denn wir sind heute an einem Punkt angelangt, wo in unserem Land zuwenig bewegt und zuviel verhindert werden kann. - Ihre Beiträge werden immer bedeutender; das muß ich Ihnen sagen. Ich erinnere Sie an Ihre Zwischenrufe im Mai. Dennoch stehe ich hier wieder als Bundeskanzler, meine Damen und Herren. Schlanker Staat bedeutet für uns auch die Rückführung des Anteils der Staatsausgaben am Sozialprodukt. Wir wollen diesen Anteil auf 46 Prozent senken, wie wir es schon einmal getan haben. Als ich dies 1982 ankündigte, gab es viel Gelächter und Skepsis. 1982 lag der Anteil über 50 Prozent. Wir haben ihn bis 1989 auf 46 Prozent gesenkt. - Dies war eine wesentliche Voraussetzung, um bei der deutschen Einheit die nötigen Finanzmittel aufbringen zu können. - Der Anstieg der Staatsquote seit 1990 auf jetzt 52 Prozent war unvermeidlich. Er spiegelt im wesentlichen wider, daß wir uns den historisch einmaligen Aufgaben der deutschen Einheit gestellt haben. Wir alle wissen: Diese waren nicht allein durch Sparen oder Umschichten zu bewältigen. Wir hatten finanzielle Aufgaben zu meistem, die in der Welt ohne jedes Beispiel sind. Das waren und sind weiterhin die Aufwendungen vor allem für den Aufbau in den neuen Bundesländern. Wir haben mehr als alle anderen Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bei uns aufgenommen. Wir haben mehr als alle anderen den Reformprozeß in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch Hilfe zur Selbsthilfe unterstützt. Natürlich haben wir das auch aus der Überlegung getan, daß ein Scheitern dieser Reformen uns erneut vor ungeheure Probleme stellen würde. Wir wollen auch deshalb den Erfolg der Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem auch in Rußland! Trotz dieser gewaltigen zusätzlichen Aufgaben werden wir unseren strikten Kurs der Haushaltskonsolidierung weiter fortsetzen. Das Haushaltsmoratorium bleibt bestehen. Das heißt; Es kann nur dann an einer Stelle mehr ausgegeben werden, wenn gleichzeitig an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen werden. Insgesamt dürfen die Staatsausgaben nur deutlich weniger zunehmen als das Sozialprodukt. Meine Damen und Herren, mit unserer Politik der Privatisierung und Überführung von Aufgaben in privatrechtliche Organisationsformen werden wir unbeirrt fortfahren. Die Zukunft Deutschlands kommt nicht aus dem Füllhorn staatlicher Wohltaten. Zukunftsgestaltung beginnt in den Köpfen der Menschen und nicht in der Kasse des Staates. Sparzwänge können allerdings durchaus heilsam sein. Sie nötigen zum Umdenken und zur Neufestsetzung von Prioritäten. Sparsamkeit heute schafft finanziellen Spielraum für morgen. Mit unserer Entschlossenheit, jetzt am eingeschlagenen Sparkurs festzuhalten, nehmen wir auch die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen wahr. So wie wir die Schöpfung für diejenigen zu bewahren haben, die nach uns kommen, so haben wir den nächsten Generationen auch die finanziellen Grundlagen für die Zukunft zu sichern. So verstanden ist Finanzpolitik immer und vor allem auch Zukunfts- und Gesellschaftspolitik. Die beabsichtigte Senkung der Staatsquote auf 46 Prozent ist auch notwendig, um die Steuer- und Abgabenlast für Bürger und Wirtschaft schrittweise senken zu können. Die von mir geführte Bundesregierung hat in den achtziger Jahren beides geschafft: Sie hat die Staatsquote verringert und die Steuern gesenkt Diese Leistung wollen wir in den kommenden Jahren wiederholen. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP ist sich darin einig, den Solidaritätszuschlag baldmöglichst abzubauen und entsprechende Rückführungsmöglichkeiten jährlich festzustellen. Hierüber werden wir auch mit den Bundesländern die notwendigen Gespräche führen. Die Bundesregierung wird ihre wachstumsorientierte, leistungsgerechte, familien- und mittelstandsfreundliche Steuerreform fortsetzen. In diesem Rahmen werden wir auch das Existenzminimum der Bürger ab 1996 steuerlich freistellen. Meine Damen und Herren, heute schöpft der Staat von jeder D-Mark Wirtschaftsleistung der Bürger und Unternehmen rund 43 Pfennig durch Steuern und Abgaben ab. Diese Abgabenquote ist eindeutig zu hoch. Wir müssen sie senken; denn sie droht den Leistungswillen des einzelnen zu erdrücken und erschwert das Entstehen von mehr Arbeitsplätzen in Deutschland. In der Konsequenz heißt das für uns: Im Vordergrund müssen solche steuerpolitischen Maßnahmen stehen, die die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland erleichtern. Deshalb wollen wir unsere Unternehmen vor allem dort entlasten, wo sie im internationalen Vergleich wettbewerbsverzerrende Sonderlasten tragen, insbesondere also bei den substanzverzehrenden Steuern wie der Gewerbekapitalsteuer und der betrieblichen Vermögensteuer sowie bei der Gewerbeertragsteuer. Selbstverständlich, meine Damen und Herren, müssen und werden wir über die konkrete Ausgestaltung der Steuerreform und der damit im Zusammenhang stehenden umfassenden Gemeindefinanzreform mit den Ländern, den Gemeinden und der Wirtschaft sprechen und diskutieren. Für mich - das will ich betonen - ist es unverzichtbar, daß die Gemeinden einen fairen Ausgleich erhalten, der das Interesse an der Ansiedlung von Gewerbebetrieben weiterhin gewährleistet und vor allem die kommunale Selbstverwaltung stärkt - eine der entscheidenden Voraussetzungen für die positiven Entwicklungen der letzten 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland Die notwendige Rückführung des Staates auf seine originären Aufgaben bedeutet keine Schwächung. sondern in Wahrheit seine Stärkung: denn diese Politik versetzt unseren Staat in die Lage, jene Aufgaben wirksam zu erfüllen, die nur er wahrnehmen kann. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung innerer Sicherheit. Wir wollen keinen autoritären Staat, aber wir wollen einen Staat mit Autorität. Es geht nicht nur um den Schutz des Bürgers vor dem Staat, sondern immer auch um seinen Schutz durch den Staat. Die Rechte der Opfer dürfen nicht hinter den Rechten der Täter zurückstehen. Die Steuerzahler erwarten zu Recht, daß der Staat seine Einnahmen vor allem für den Schutz von Leben, Freiheit, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum seiner Bürger verwendet. Grund zur Sorge bereiten uns allen die nach wie vor hohe Eigentumskriminalität und die Gewaltbereitschaft in Teilen unserer Gesellschaft. Mit der Öffnung der Grenzen hat - wie in allen anderen europäischen Ländern - auch auf deutschem Boden die grenzüberschreitende internationale Kriminalität, vor allem der Mafia und mafiaähnlicher Organisationen, spürbar zugenommen. Zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität muß die Grenzsicherheit verstärkt, der rasche Aufbau von EUROPOL vorangetrieben und die bilaterale Kooperation insbesondere mit den östlichen Nachbarstaaten intensiviert werden. Ich sehe mit großer Genugtuung, daß auch jene Partner, die noch bei Abschluß des Vertrages von Maastricht gegen eine solche Zusammenarbeit in Europa waren, jetzt auf Grund eigener Erfahrungen zunehmend zu der Erkenntnis gelangen, daß unsere damaligen Vorschläge in die richtige Richtung wiesen. Ich denke, wir werden auf diesem Felde jetzt ein wesentliches Stück vorankommen können. Für die Koalition sind Verhütung und Bekämpfung von Straftaten gleichermaßen wichtig. Eine wirksame Prävention setzt ein Zusammenwirken von Bund und Ländern mit den gesellschaftlichen Kräften in allen Bereichen voraus. Zur Bündelung der erforderlichen Maßnahmen werden wir deshalb das im Jahre 1993 vorgelegte Sicherheitsprogramm von Bund und Ländern zu einem nationalen Kriminalitätsbekämpfungsplan fortentwickeln. Er muß auch die finanziellen und personellen Rahmenbedingungen sowie eine Verbesserung der Arbeit von Polizei und Justiz einbeziehen. Die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Gesetze zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämpfung werden auf der Grundlage von Erfahrungsberichten ausgewertet. Bevor der Gesetzgeber erneut tätig wird, müssen wir natürlich die bestehenden Möglichkeiten voll ausschöpfen. Sollte sich herausstellen, daß die bestehenden Gesetze nicht ausreichen, sind wir auch zu einer Verschärfung dieser Gesetze bereit. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Schaffung zusätzlicher zukunftsfähiger Arbeitsplätze bleibt die zentrale Aufgabe aller, die für die Beschäftigung Verantwortung trugen. Arbeit für alle muß unser gemeinsames Ziel sein. Die Erreichung dieses Ziels kann keine demokratische Regierung der Welt allein bewirken. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind hier gefordert. Ich habe deshalb den Spitzenvertretern von Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche zu diesen wichtigen Zukunftsfragen vorgeschlagen. Ich freue mich darüber, daß die Sozialpartner dies ebenfalls als notwendig ansehen. Ich werde sehr bald zu diesen Gesprächen einladen. Wir müssen jetzt alle Kraft aufwenden, um eine neue Beschäftigungsinitiative zum Erfolg zu führen. Dabei muß es auch gelingen, diejenigen wieder besser in die Arbeitswelt zu integrieren, die im Wettbewerb um Arbeitsplätze oftmals schlechtere Chancen haben. Ich denke beispielsweise an Langzeitarbeitslose. Auch Schwerbeschädigte und Behinderte müssen selbstverständlicher Teil unserer Arbeitswelt sein. In den Jahren 1983 bis 1992 ist es schon einmal in einer großen Gemeinschaftsleistung gelungen, drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Diesen großen Erfolg gilt es zu wiederholen. Der Weg dazu führt über eine Erneuerung und Zukunftsorientierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftliche Welt wird sich in den nächsten 20, 25 Jahren jeder spürt das - stärker verändern als in den letzten 100 Jahren. Darauf müssen wir uns einstellen. Ohne positive Einstellung der Gesellschaft zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt kann der Wohlstand in Deutschland nicht dauerhaft gesichert werden. Wer zum Beispiel Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch verantworteten Nutzung dieser Möglichkeiten. Trotz zunehmender Bedeutung des Dienstleistungsbereichs ist für unser Land eine starke industrielle Basis unverzichtbar. Diese Basis kann nur gesichert werden, wenn wir zu ständiger Innovation bereit sind. Wir dürfen uns auch nicht von notorischen Angstmachern beirren lassen, die immer nur von der "Risikogesellschaft" statt von der "Chancengesellschaft" reden. Auf Erneuerung setzen - das muß das Motto unserer Arbeit sein! Wir wollen dabei eine breite Welle unternehmerischer Initiativen auslösen, um Raum für neue selbständige Existenzgründungen zu schaffen. Der Mittelstand - das ist die Erfahrung von bald 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland - ist der Motor der Sozialen Marktwirtschaft. Kleine und mittlere Betriebe beschäftigen nahezu zwei Drittel aller Arbeitnehmer und bilden vier Fünftel aller Lehrlinge in Deutschland aus. Sie spielen damit eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik unseres Landes. Seit der deutschen Einheit sind in den neuen Bundesländern über 400000 Selbständige beziehungsweise mittelständische Unternehmen tätig geworden. Hierin liegt ein ganz wesentlicher Grund für die großen Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau Ost. Neugegründete Unternehmen in den neuen Bundesländern haben es am Markt, wie wir wissen, oft sehr viel schwerer als die im Wir wollen, daß unsere Gesellschaft familien- und kinderfreundlicher wird. Das ist nicht allein oder in erster Linie immer nur eine Frage des Geldes. Auch hier ist Umdenken angesagt. Jeder ist aufgefordert: Bürger, Vereine, Verbände und selbstverständlich auch die Politik, das Notwendige auf allen Ebenen durchzusetzen. Es ist doch nicht hinnehmbar, daß starre Öffnungszeiten für Kindergärten und unregelmäßige Schulzeiten das Leben der Familien, nicht zuletzt der Alleinerziehenden, unnötig erschweren; daß die Arbeitswelt für Mütter und Väter zu starr organisiert ist und daß Kinder zu einem erheblichen Nachteil bei der Wohnungssuche geworden sind. Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstützung und Ermutigung. Wir wollen zum einen die Leistung der Familie auch finanziell stärker anerkennen und zum anderen - das ist mir besonders wichtig - die Wohnungssituation für Familien mit Kindern nachhaltig verbessern. Wir wollen Eltern und Alleinerziehende dadurch stärken, daß wir ihnen nicht Wegsteuern, was sie für den Unterhalt der Kinder brauchen. Damit tragen wir zugleich der Forderung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Wir werden deshalb den Kinderfreibetrag deutlich anheben und ihn stufenweise weiter erhöhen. Das Kindergeld kann dann gleichzeitig stärker auf diejenigen konzentriert werden, die ein niedrigeres Einkommen und mehrere Kinder haben. Meine Damen und Herren, für Eltern und Alleinerziehende sind familiengerechte Wohnungen und ein kinderfreundliches Wohnumfeld von größter Bedeutung. Vor allem in den Ballungsgebieten besteht Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Wir brauchen deshalb neben mehr Wohnraum auch eine Verstärkung der Wohneigentumsförderung insbesondere für Familien mit Kindern. Bauen ist in Deutschland immer noch zu teuer. Wir wollen deshalb kostensparendes Bauen fördern und wohnungspolitische Instrumente stärker als bisher auf die Erhaltung und die Schaffung bezahlbaren Wohnraums ausrichten. Wir werden die Reform des sozialen Wohnungsbaus fortsetzen sowie das Wohngeld in Ost und West vereinheitlichen und familienfreundlich an die Einkommens- und Mietentwicklung anpassen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren. Arbeit und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern die Fundamente unseres Sozialstaats. Er ist eine wichtige Grundlage des sozialen Friedens und unverzichtbarer Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen den Sozialstaat durch Umbau festigen. Nur so können wir auch in Zukunft unser im internationalen Maßstab hohes Niveau sozialer Sicherheit erhalten. Wir wenden in Deutschland heute rund ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen auf. Jeder weiß, daß dieser Anteil nicht weiter erhöht werden kann. Wir müssen deshalb prüfen, wie wir denen stärker helfen können, die der Hilfe am meisten bedürfen. Wir haben uns für den begonnenen Umbau des Sozialstaats vor allem drei Schwerpunkte gesetzt: Die Arbeitsmarktpolitik muß sich noch stärker benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt widmen und gemeinsam mit Wirtschaft und Sozialpartnern wirksamere Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung entwickeln. Das Arbeitsförderungsgesetz muß vereinfacht und übersichtlicher gestaltet, die Effizienz der Arbeitsämter verbessert werden. Wir wollen bei dieser Reform auf die Erfahrungen von Wirtschaft und Sozialpartnern zurückgreifen und das notwendige Gespräch mit den Ländern führen. Im Sozialhilferecht bleibt es bei dem Grundsatz: Jeder, der die Solidarität unserer Gesellschaft braucht, muß die erforderliche Hilfe erhalten. Das heißt, es geht nicht um lineare Kürzungen. Wir wollen jedoch, wo immer möglich, Anreize und Eigeninitiative stärken, um Sozialhilfebedürftigkeit zu überwinden. Sozialhilfeempfängern, denen die Aufnahme einer Arbeit zugemutet werden kann, soll verstärkt Arbeit - auch geringer entlohnte Arbeit - angeboten werden. Das ist eine Chance für einen Einstieg in Beschäftigung und zugleich eine Schranke gegen die Ausnutzung von Sozialhilfe. Es ist auch für die Betroffenen wichtig, daß sie nicht in der Abhängigkeit von der Sozialhilfe bleiben. Ungeachtet unserer verschiedenen politischen Standpunkte muß es uns allen doch zu denken geben, daß nach einer neueren Untersuchung rund ein Drittel der Sozialhilfeempfänger in der alten Bundesrepublik, denen eine zumutbare Arbeit angeboten wurde, diese abgelehnt hat. Unsere Auffassung ist, daß dies dann auch eine Senkung der Sozialhilfe für diese Empfänger zur Folge haben muß. Auch hier hoffe ich auf ein gutes Gespräch mit den Ländern und den Gemeinden. Ich hoffe, daß all jene Bürgermeister und Landräte, die mir unter gier Augen immer wieder sagen, hier müsse eine Änderung eintreten, auch bereit sind, dies öffentlich zu sagen und mit durchzusetzen. Der dritte Schwerpunkt für den Umbau des Sozialstaats ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform. Ziel dieser Reform ist es, die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens zu erhalten. Wir werden die Reform im kommenden Jahr im Gespräch mit allen beteiligten Gruppen und Organisationen erarbeiten und zügig verwirklichen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am 8. Mai kommenden Jahres wird sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 50. Mal jähren. Wir werden dabei in besonderer und gemäßer Weise der Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken. Wir werden uns auch dankbar daran erinnern, daß Kriegsgegner von gestern uns die Hand zu Versöhnung und Freundschaft gereicht haben. Seit 50 Jahren leben wir Deutsche in Frieden. Das ist die längste Friedensperiode in der jüngeren deutschen Geschichte. Und seit dem Ende des SED-Regimes leben alle Deutschen auch gemeinsam in Freiheit. Wir haben heute - und dies zum ersten Mal in unserer Geschichte - gleichzeitig ausgezeichnete Beziehungen zu Washington, Paris, London und Moskau. Wir leben in Eintracht mit allen unseren Nachbarn. Darauf dürfen wir stolz sein. An dem bewährten Kurs der deutschen Außenpolitik, vor allein der festen Einbindung Deutschlands in das Atlantische Bündnis und in die Europäische Union, werden wir festhalten. Aber, meine Damen und Herren, auch in der Außenpolitik werden wir uns angesichts der Veränderungen in der Welt neuen Herausforderungen mit Umsicht und Klugheit zu stellen haben. Zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode wird es sein, die politische Einigung Europas weiter zu festigen und entscheidend voranzubringen. Die deutsch-französische Freundschaft wird hierbei unverändert herausragende Bedeutung haben. Die politische Einigung Europas ist und bleibt im existentiellen Interesse Deutschlands. Es geht uns nicht darum, einen europäischen Überstaat zu schaffen. Europa hat nur dann eine wirklich gute Zukunft, wenn es sich an dem Prinzip der Einheit in Vielfalt ausrichtet. Wir alle kennen die zentralen Themen der in Maastricht vereinbarten Regierungskonferenz 1996. Dabei wollen wir die demokratische Verankerung und die Bürgernähe der Union stärken. Dazu gehört insbesondere der Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments. Die Bürger Europas erwarten von uns eine stärkere Zusammenarbeit bei der Innen- und der Rechtspolitik. Bisherige Initiativen, wie bei EUROPOL und bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Asylpolitik, haben noch nicht den notwendigen Durchbruch erbracht. Wir dürfen hier mit unserem Bemühen nicht nachlassen. Wir wollen die innere und die äußere Handlungsfähigkeit der Union stärken. Dazu müssen wir die Institutionen straffen und effizienter gestalten. In der Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir, daß Europa in wichtigen Fragen seine gemeinsamen Interessen geschlossen vertritt. Ein wesentlicher Baustein des Europa von morgen ist für uns die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir wollen sie unter strikter Einhaltung der im Maastricht-Vertrag festgelegten Stabilitätskriterien verwirklichen, und zwar aller Kriterien, meine Damen und Herren. Es liegt im deutschen wie im wohlverstandenen europäischen Interesse, daß wir bei der Erweiterung der Europäischen Union immer auch unsere östlichen Nachbarn - ich nenne hier besonders Polen - im Auge haben. Die Westgrenze Polens darf nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein. Die Bundesregierung wird sich deshalb mit großer Entschiedenheit dafür einsetzen, daß in den kommenden Jahren entscheidende Schritte zur endgültigen Überwindung der Teilung Europas und damit zur dauerhaften Sicherung von Frieden und Freiheit getan werden. Auf dem in wenigen Wochen stattfindenden Europäischen Rat in Essen wollen wir eine Strategie zur weiteren Heranführung der jungen Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas verabschieden. Neue Mitglieder - das sei hier betont - müssen jedoch in jedem einzelnen Fall die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen. Darüber hinaus streben wir eine intensive Partnerschaft auf breiter Grundlage mit den Ländern Osteuropas an, insbesondere mit Rußland und der Ukraine, aber auch mit den Nachbarregionen Europas. Die Atlantische Allianz - hier vor allem die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika - bleibt auch in Zukunft Garant unserer Sicherheit. Wir wollen die deutsch-amerikanischen Beziehungen gerade angesichts veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen weiter vertiefen. Dazu gehören der Ausbau unserer Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und vor allem auch mehr Begegnungen zwischen jungen Menschen beiderseits des Atlantik. Die Rolle der Allianz hat sich seit Ende des Kalten Krieges dramatisch gewandelt. Im Interesse von Sicherheit und Stabilität in ganz Europa bündeln Atlantische Allianz und Europäische Union zunehmend ihre Kräfte. In diesem Sinne hat die NATO auf ihrem Gipfel im Januar 1994 den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas enge Partnerschaft angeboten. Zugleich hat sie erklärt, daß sie zu gegebener Zeit neue Mitglieder aufnehmen wird. Die Bundesregierung hat diese Politik von Anfang an maßgeblich mitgestaltet und mitgetragen. Für uns steht die Erweiterung von NATO und Europäischer Union in einem engen inneren Zusammenhang. Damit in Europa keine neuen Trennlinien entstehen, müssen Integration einerseits und Kooperation andererseits einander ergänzen. Dabei kommt auch der Stärkung der KSZE eine wichtige Rolle zu. Meine Damen und Herren, wir haben am 31. August, vor wenigen Monaten, die russischen Soldaten in einer bewegenden Zeremonie aus Deutschland verabschiedet. Sie haben uns die Hand zur Freundschaft gereicht. In diesem Geiste wollen wir die Partnerschaft mit Rußland pflegen, das vor schwierigen, ja beispiellosen Reformen steht. Wir wollen alles tun, damit diese Reformen Erfolg haben. Weltpolitische Umbrüche, globale Probleme wie Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum, Flüchtlingsströme und Umweltzerstörung stellen die deutsche Entwicklungspolitik vor große Aufgaben. Zur Lösung dieser Aufgaben werden wir gemeinsam mit den anderen Industrienationen unseren Beitrag leisten. Ich plädiere in der internationalen Diskussion dafür, daß unsere Leistungen für Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Es ist für uns auch selbstverständlich, daß wir die Beziehungen zu den Ländern in Asien, Lateinamerika und Afrika weiter ausbauen. Noch immer steht eine friedliche Lösung für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Noch immer beherrschen Leid und Tod die Lage besonders in Bosnien. Die Bilder der jüngsten serbischen Aggression gegen Bihac stehen uns allen vor Augen. Gerade auch jene Deutschen, die noch eigene Erinnerung an Krieg und Not in sich tragen, wissen, welches Leid den Menschen dort zugefügt wird. Deutschland war im Rahmen seiner Möglichkeiten mit aller Kraft bei den Verhandlungen und vor allem auch auf humanitärem Gebiet behilflich. Den von den USA, Frankreich, Großbritannien, Rußland und uns erarbeiteten Friedensplan akzeptieren heute - bis auf die bosnischen Serben - alle Kriegsparteien, sogar Belgrad. Ich richte deshalb auch heute von dieser Stelle aus den eindringlichen Appell an die Führung der bosnischen Serben, im Interesse aller Menschen in Bosnien das Morden zu beenden, humanitäre Hilfe ohne Einschränkung zuzulassen und sich dem Friedensplan anzuschließen. Hieran führt auf Dauer kein Weg vorbei. Meine Damen und Herren, die internationale Gemeinschaft erwartet vom vereinten Deutschland die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Rechte und Pflichten als Mitglied der Vereinten Nationen. Dies bedeutet, daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit beteiligen werden. Wir werden dies ausschließlich im Rahmen kollektiver Sicherheitsbündnisse und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten und Freunden tun. Entsprechende Entscheidungen zur Teilnahme an solchen Aktionen werden wir nur nach gründlicher Prüfung des Einzelfalls und unter Beteiligung des Deutschen Bundestages treffen. Die grundsätzliche Bereitschaft unseres Landes, in seine internationale Verantwortung hineinzuwachsen, bedeutet in keiner Weise die Abkehr von erprobten Leitlinien der deutschen Außenpolitik. Jedes Gerede von einer "Militarisierung deutscher Außenpolitik" ist deshalb falsch und böswillig, und es diffamiert letztlich alle internationalen Anstrengungen zur Friedenssicherung unter Einsatz von Soldaten. Im kommenden Jahr jährt sich die Gründung der Bundeswehr zum 40. Mal. Vierzig Jahre lang haben unsere Soldaten an der Seite der Verbündeten Frieden und Freiheit bewahrt. Dafür schulden wir ihnen Dank. Heute dienen junge Wehrpflichtige, ob aus Sachsen oder Bayern, aus Hamburg oder Thüringen, gemeinsam in der Bundeswehr. Als Vater zweier Söhne, die in der Bundeswehr gedient haben, finde ich es unerträglich, wenn unsere Soldaten als "Mörder" diffamiert werden. Ich bin sicher: So wie ich empfindet das auch die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Wir brauchen auch in Zukunft gut ausgerüstete und ausgebildete Streitkräfte. Die Bundeswehr muß zur Verteidigung fähig sein. Sie muß aber auch uneingeschränkt am internationalen Krisenmanagement mitwirken können. In diesem Sinne haben wir Eckdaten zur künftigen Struktur der Bundeswehr erarbeitet. Diese Leitlinien geben der Bundeswehr die notwendige Planungssicherheit. Meine Damen und Herren, das Bewußtsein für die gemeinsame Herkunft und der Wille zur gemeinsamen Zukunft sind die Voraussetzung für die innere Einheit unseres Vaterlandes und für die Einigung Europas. Europa und Nation, das ist kein Widerspruch. Unsere Fähigkeit, gute Europäer zu sein, hängt auch davon ab, ob wir bereit sind, uns als Deutsche selbst anzunehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, Licht und Schatten, Höhen und Tiefen in der Geschichte unseres Volkes zusammenzusehen und zu der Verantwortung zu stehen, die sich daraus ergibt. Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte der alten Bundesrepublik als auch jene der früheren DDR als unabtrennbare Teile unserer gemeinsamen Vergangenheit verstehen. Unsere gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte waren in der Zeit der Teilung Deutschlands eine feste Grundlage für den Zusammenhalt der Nation. Sie sind heute genauso wichtig für die Zukunft unseres Landes. Der Bundeshauptstadt Berlin kommt für die kulturelle Ausstrahlung Deutschlands dabei eine besondere Rolle zu. Unsere Bundeshauptstadt muß auch selbst den Ermahnungen gerecht werden, die an sie gerichtet sind. Unsere Verantwortung, die des Hohen Hauses, für den Umzug von Parlament und Teilen der Regierung nach Berlin bezieht sich nicht nur auf Fragen der Architektur und der Organisation. Wir tragen Verantwortung auch dafür, daß der Charakter unseres Gemeinwesens als des freiheitlichsten Staates in der deutschen Geschichte auch und gerade in Berlin deutlich sichtbar wird. Es scheint mir wichtig zu sein, einmal mehr daran zu erinnern, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. Wir stehen auch in der Verpflichtung gegenüber Bonn, das in vierzig Jahren unsere freiheitliche Demokratie wesentlich mitgeprägt hat. Das sollten wir nie vergessen. Wir alle haben die epochalen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit 1989 lebhaft begrüßt Inzwischen ist in Deutschland immer mehr Menschen bewußt geworden, daß die Wiedervereinigung uns alle zu einer geistigen Standortbestimmung zwingt Ich denke, dabei sollte es unser gemeinsames Bemühen sein, als Deutsche souveräner und gelassener zu werden, auch im Umgang miteinander. Eine freie, eine tolerante und weltoffene Gesellschaft braucht einen Kern an Gemeinsamkeiten, Grundüberzeugungen und Werten. Das bewahrt uns vor jener Hysterie und aggressiven Aufgeregtheit, die unsere öffentlichen Debatten, auch hier in Bonn, oft heimsuchen und die uns in Wahrheit überhaupt nicht weiterbringen. Wir alle sollten uns stärker anstrengen, daß das Bewußtsein für die unerläßlichen Werte eines zivilisierten Zusammenlebens in unserem Land erhalten bleibt und an kommende Generationen weitergegeben wird. Wir werden - das ist gut so - in den kommenden Jahren leidenschaftliche Debatten um den richtigen Weg unseres Landes in die Zukunft führen müssen. Aber es gehört auch zur politischen Kultur, daß wir dabei den Respekt vor der Meinung des anderen wahren. Meine Damen und Herren, das Ansehen und die Stellung des vereinten Deutschlands in der Welt hängen nicht nur von seinem politischen Gewicht, seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ab, sondern nicht zuletzt - ich möchte fast sagen: vor allem auch - von seiner kulturellen Ausstrahlung. Wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts unseren Beitrag zu einer menschlichen Welt leisten wollen, müssen wir zur Partnerschaft ebenso fähig sein wie zum friedlichen Wettbewerb der Ideen und Zukunftsvisionen. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre, Spitzenleistungen in Wissenschaft und Kunst stärker zu fördern und auch anzuerkennen. Dies ist wiederum nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch unseres gemeinsamen Willens, etwa den Hochschulen mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb untereinander zu ermöglichen. Was uns in Deutschland bisher fehlt, ist, so glaube ich, ein Forum, das die Themen der Zukunft national und international diskutiert. Daher wollen wir eine Deutsche Akademie der Wissenschaften ins Leben rufen. Sie soll in voller Unabhängigkeit eine Stätte des Dialogs von Wissenschaft und Kultur, von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sein. Sie kann Ratgeber sein und Anstöße geben für eine umfassende Debatte über wichtige Zukunftsfragen unseres Landes. Sie kann auch, so hoffe ich, mit dazu beitragen, daß die Erfordernisse der Zukunft in unserem Land breitere Zustimmung finden. Dabei geht es ebenso um Wissenschaftsanregung und -förderung wie um ethische Fragestellungen sowie um Probleme, die uns in Europa und als Teil der Weltgemeinschaft gleichermaßen bewegen. Ich lade nicht zuletzt die Bundesländer, die Repräsentanten der Wissenschaft und alle, die im Bereich von Gesellschaft und Kultur diesen Dialog wollen und suchen, dazu ein, diese Akademie gemeinsam mit uns aufzubauen. Meine Damen und Herren, die innere Einheit unseres Landes ist nicht mit Einheitlichkeit gleichzusetzen. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum 3. Oktober hervorgehoben, daß es auch schon in der Vergangenheit Verschiedenheiten innerhalb Deutschlands gegeben hat. Ich glaube, daß in dieser Vielfalt einer der großen Reichtümer unseres Landes liegt. Die Erhaltung dieser Vielfalt in einem zusammenwachsenden Europa setzt die Bereitschaft zu gemeinsamer Verantwortung im Handeln voraus. Die vom Grundgesetz festgelegte Mitwirkung der Länder bei Gesetzgebung und Verwaltung durch den Bundesrat vermittelt eben nicht nur Rechte. Sie bedeutet immer auch die Pflicht, das Wohl des Ganzen zu fördern. Diese Pflicht ist für uns Deutsche nach dem Glück der deutschen Einheit, so denke ich, keine Last. Wir haben allen Grund, mit Zuversicht in die kommenden Jahre zu gehen. Die gemeinsame Verantwortung, die wir tragen, hat einen Namen: Es geht um die Zukunft Deutschlands in einem geeinten Europa. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen stellen sich dieser Aufgabe.