Bergmann-Pohl 03.10.1990 Ansprache Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Philharmonie Berlin - im Wortlaut Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, verehrte Festversammlung! Dies ist der Tag der Erfüllung für jene Deutschen, die lange im Schatten der Diktatur, der Teilung und der moralischen Entfremdung zu leben hatten. Die Geographie des Zweiten Wegkrieges und danach die Teilungen des Kalten Kriege hatten uns das schlechte Los zugeteilt. Jetzt schließt sich eine Wunde. Die Freiheit, die wir uns erkämpft haben, gibt uns wieder Würde und Selbstachtung. Aber die Vergangenheit bleibt aufgehoben in unserer Erinnerung. Es wird Zeit brauchen, bis Unterdrückung, Kollaboration, Mitmachen und Anpassung unsere Existenz aus dem Griff der Diktatur entlassen. Heute aber ist die Zeit zu fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen, was wir mitbringen und was wir erwarten. Nicht nationalistischer Überschwang hat die Menschen bewegt, die die Revolutionen des Sommers und des Herbstes 1989 im östlichen Mitteleuropa machten. Sie forderten ihr unverlierbares Recht auf Suche nach dem Glück, das Recht, sie selbst zu sein, das Recht - in der schönen Sprache des Grundgesetzes - auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die friedliche Revolution im östlichen Teil unseres Vaterlandes aber stand nicht allein. Im Westen fand sie Voraussetzungen in europäischer Einigung und Atlantischer Sicherheit, in der Politik der Entspannung und im Beharren auf den Menschenrechten, im Osten ist ihr vorgearbeitet worden durch den polnischen Freiheitskampf, durch den moralischen Mut der Ungarn und durch die Perestroika, die die Sowjetunion zu einer verantwortungsvollen Führungsmacht umgestaltet und weiter umgestalten wird. Was sich heute vollendet, die Deutsche Einheit in Frieden und Freiheit, hatten viele schon zu erhoffen aufgegeben. Sie ist für die Deutschen ein Geschenk der Geschichte. Die Christen unter uns werden darin die Gnade Gottes erkennen. Diese Einheit in der Freiheit aber steht nicht gegen die Interessen der Nachbarn. Sie fügt sich ein in das große Europa. Wir empfinden dies mit Dankbarkeit, und wir versprechen, ebenso Europäer zu sein wie Deutsche. Unsere schmerzliche Erfahrung, unsere geschichtliche Lage, unsere politische Hoffnung vereinigen sich in dieser europäischen Zuversicht. Der materielle Reichtum, der uns fehlte, war weniger wichtig als die Vorenthaltung der Freiheit und der Gerechtigkeit. Die Erfahrungen, die wir in uns tragen, und die Erinnerungen, die uns heimsuchen, sind nicht einfach abzustreifen, aber sie müssen schöpferisch überwunden werden, und nichts wird dabei stärker helfen als die lebendige Erfahrung der Freiheit, das Vertrauen auf Gerechtigkeit und das Recht, im freien Europa zu Hause zu sein. Zeit sowie Einfühlungsvermögen und auch Mut zu unpopulären Entscheidungen werden für das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands erforderlich sein. Achten wir einander, nehmen wir Rücksicht auf Mentalität und Empfindlichkeit des anderen! Stehen wir zusammen, um mit vereinten Kräften das einige, friedlich und demokratische, soziale Gerechtigkeit für jeden seiner Bürger bietende Deutschland aufzubauen! Was bringen wir aus der DDR mit? Neben aller Bitternis die Erfahrung, daß der Mensch vom Brot allein nicht lebt, Dankbarkeit für Wärme, Menschlichkeit, Familie, Nachbarschaft, die sich in schweren Zeiten bewährten. Vor allem aber Stolz auf eine sanfte Revolution, die uns die Demokratie erwarb. Wir wenden diese Erfahrungen in das künftige Deutschland tragen. Wir bringen aber auch anderes mit: nicht zuletzt die schwierige Erfahrung, daß man nicht vierzig Jahre, sechzig Jahre unter Diktaturen lebt, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen. Die Freiheit ist deshalb auch ein kostbares Gut, weil sie vor solchen Erfahrungen schützt. Was wir zu lernen haben werden ist, von der neu gewonnenen Freiheit verantwortungsvoll Gebrauch zu machen, den Sinn unserer eigenen Arbeit neu anzunehmen, die Lebensform einer freien Gesellschaft zu verwirklichen. Was wir erwarten, ist nicht das Land, wo Milch und Honig fließen, aber ein Land, in dem wir unsere Kräfte entfalten können, ein Land der Gerechtigkeit, ein Land auch des solidarischen Teilens, ein Land, das in seiner eigenen Kultur ruht und zugleich aus freien Stücken teilhat am größeren Europa. Ein Land nicht auf der Flucht vor seiner älteren oder neueren Geschichte, sondern ein Land, das sich dieser Geschichte stellt und daraus Folgerungen zieht mit Herz und Verstand. Wir haben heute allen Grund, den ersten Tag der Deutschen Einheit zu feiern; wir haben aber auch allen Grund, die Irrwege der deutschen Geschichte zu erkennen. Auschwitz bleibt für uns eine immerwährende Mahnung. Gestern gehörten wir zu dem Teil Europas, dem die Freiheit vorenthalten wurde und wo Lüge und Gewalt regierten. Heute gehören wir zu einem neuen Europa ohne Grenzen, und Einheit und Freiheit der Deutschen liegen in der Mitte dieses neuen Europa. Am Ende dieses Jahrhunderts aber wird man uns nicht fragen nach Wachstumsraten und Bruttosozialprodukt, sondern ob wir Deutschen den Kriegen und Krisen unseres Jahrhunderts am Ende einen Lebensentwurf der Freiheit und des dauerhaften Friedens abgewonnen haben. Dieser Tag bedeutet Abschied und Aufbruch - Abschied von einer belasteten und belastenden Vergangenheit, Aufbruch zu einem Deutschland, das mit sich selbst versöhnt ist und das mit seinen Nachbarn die Versöhnung sucht. Es ist der glücklichste Tag der Deutschen!