de Maiziere 18.05.1990 Erklärung anläßlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik und DDR Bonn - im Wortlaut Dies ist heute für uns ein wichtiger Tag. Es beginnt die tatsächliche Verwirklichung der Einheit Deutschlands. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion macht den Einigungsprozeß unumkehrbar. Was wir heute tun, ist ein entscheidender Schritt auf unser Ziel hin: in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung zu vollenden. Der Staatsvertrag ist ein Vertrag zwischen den beiden Regierungen in Deutschland. Seiner Substanz nach zeigt er, daß beide Regierungen gewillt sind, den Prozeß der Einigung nicht von oben zu gestalten. Das Zusammenwachsen des geteilten Deutschland beginnt vielmehr bei den Menschen und ihren Lebensverhältnissen. Für uns waren bei den Gesprächen und Verhandlungen der letzten Wochen die Interessen der Menschen in beiden deutschen Staaten der Maßstab des Handelns. Der Geist, in dem dieser Vertrag zustande kam, entspricht den Zielen und Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheit, nach Wohlstand und nach sozialer Gerechtigkeit. Hier haben nicht fremde Staaten miteinander verhandelt, sondern Landsleute und Freunde, die sich nicht länger entfremden lassen wollen. Seit der Regierungserklärung vor einem Monat wurde mit Hochdruck Tag und Nacht an diesem Vertrag gearbeitet. Mein Dank gilt den Hunderten von Mitarbeitern, die diese Arbeit geleistet haben. Der Vertrag ist ein großes Werk. Stellvertretend möchte ich den beiden Delegationsleitern, Herrn Tietmeyer und Herrn Dr. Krause, diesen Dank persönlich aussprechen. Gleichzeitig bedanke ich mich bei allen ihren Mitarbeitern. Dieser Vertrag ist ein Kompromiß. Aber er ist nicht das Ergebnis eines Feilschens um Vorteile, sondern ein gutes und ausgewogenes Gesamtwerk. Er ist ein solides Kursbuch zur Einführung einer ökologisch orientierten Sozialen Marktwirtschaft. Ich wende mich in dieser Stunde zunächst an die Bürgerinnen und Bürger in der DDR: Die Einführung der D-Mark, die Einführung der dynamischen Rente und einer Arbeitslosenversicherung sowie die Hilfen für den Staatshaushalt der DDR sind eine großzügige politische Geste der Bundesrepublik Deutschland. Niemand soll vergessen, was die Mark der DDR heute auf einem freien Markt wirklich wert wäre. Und niemand soll sich über die tiefe Krise der DDR-Wirtschaft Illusionen machen. Wir konnten und können nicht so weitermachen wie bisher. Nicht alle Blütenträume, die manche mit dem Staatsvertrag verbunden haben, konnten in Erfüllung gehen. Aber niemandem wird es schlechtergehen als bisher. Im Gegenteil. Welches Land bekommt eine solch gute Startposition wie wir mit diesem Vertrag? Jetzt sind wir in der DDR am Zuge, das Beste daraus zu machen. Ausgehend von einem realistischen Bild der Lage müssen wir mit einem neuen Gründergeist, mit Engagement, mit Zuversicht und mit dem Vertrauen in die eigene Kraft an die Arbeit gehen. Dabei werden wir die soziale Gerechtigkeit nie aus den Augen verlieren. In unserem sozialen Engagement lassen wir uns so schnell von niemandem übertreffen. Den Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland möchte ich sagen: Meine Regierung trägt Verantwortung zuerst für die Deutschen in der DDR und deren Interessen. Das entspricht dem Wählerauftrag in unserer neugewonnenen Demokratie. Zugleich aber stehen wir mit der Bundesregierung in einer gemeinsamen Verantwortung für eine ungeteilte Zukunft. Die Stabilität der D-Mark und die Wahrung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Bundesrepublik und in der DDR, also in dem neuen gemeinsamen Wirtschaftsraum, sind auch unser Ziel in der DDR. Ich sage zu, daß wir nach Kräften dafür sorgen werden, daß die Mittel aus der Bundesrepublik Deutschland bei uns gut angelegt werden. Ihre Hilfe aus dem Westen verstehen wir als Hilfe zur Selbsthilfe. Auf Dauer sollen wir nichts geschenkt haben. Wir wollen uns unsere Zukunft selbst erarbeiten. Angesichts der Größe des Vorhabens einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist es natürlich, daß es in beiden Staaten in Deutschland Diskussionen gibt. Ich finde nur erstaunlich, daß es in Deutschland mancherorts mehr Sorgen gibt als Hoffnungen. Bei uns werden zu viele vor dem unbestrittenen Berg von Problemen, den wir vor uns haben, kleinmütig. Vielleicht sollten wir Deutschen auch in dieser Frage nicht zu sehr auf uns selbst bezogen sein, sondern nach Europa schauen. Ich bin davon überzeugt, daß im Ergebnis des Einigungsprozesses kein Deutscher ärmer wird, sondern daß es uns allen gemeinsam bessergehen wird. Und dies nicht zu Lasten Europas, sondern zum Nutzen einer gesamteuropäischen Entwicklung in Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit. Die Einheit Deutschlands sollte daher nicht in einem neidischen Gegeneinander, sondern in einem fruchtbaren Miteinander wachsen. Wir und Ihr, Hüben und Drüben, Wessis und Ossis, diese und ähnliche Vokabeln sollten bald aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Die Regierung der DDR wird diesen Vertrag nun der frei gewählten Volkskammer vorlegen. Ich unterstreiche dabei unseren festen Willen, daß der Zeitplan mit dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 2. Juli 1990 eingehalten wird. Das Ergebnis der Verhandlungen zum Staatsvertrag ist mutig, einmalig und hoffnungsstiftend. Es ist mutig, weil in nur vier Wochen nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft dieser Vertrag ausgehandelt wurde, der alle Deutschen in der DDR unmittelbar in ihrer Existenz und für ihre Zukunft betrifft. Es ist einmalig, weil es diese Art der Umstellung einer Kommandowirtschaft auf eine Soziale Marktwirtschaft an einem Stichtag noch niemals gegeben hat. Und es ist hoffnungsstiftend. Wir werden es schaffen, weil beide Seiten zum Erfolg verpflichtet, ja geradezu verurteilt sind. Wir stehen vor einer wirklich großen und einmaligen Chance. Die Geschichte bietet ihre guten Chancen in der Regel nicht mehrfach an. Wir wollen die Chance zu Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit im Dienste Europas entschlossen nutzen, um unseren Kindern eine bessere Welt zu bauen.