de Maiziere 19.04.1990 Große Regierungserklärung auf der 3. Tagung der Volkskammer - im Wortlaut Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Abgeordnete! Die Erneuerung unserer Gesellschaft stand unter dem Ruf "Wir sind das Volk!" Das Volk ist sich seiner selbst bewußt geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht. Und aus dem Ruf "Wir sind das Volk!" erwuchs der Ruf "Wir sind ein Volk!". Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen, ist unsere gemeinsame Verantwortung. Der Neuanfang unserer Gesellschaft ist ein zutiefst demokratischer Neuanfang. Wir haben einen demokratischen Auftrag. Den haben uns die Bürger der DDR gegeben, und niemand sonst. Wir haben das erste frei gewählte Parlament und die erste frei gewählte Regierung seit zwei Generationen. Und es ist eine breite Mehrheit des Parlaments und der Wähler, auf die sich die Koalition stützt. Alle politischen Kräfte in Europa nehmen heute teil an dem Prozeß der Einigung Deutschlands. Wir vertreten in ihm die Interessen der Bürger der DDR. Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Der Neuanfang unserer Gesellschaft soll auch ein ehrlicher Neuanfang sein: In dem großen historischen Prozeß unserer Befreiung haben wir einem Politiker die wirksame Bündelung vieler positiver Impulse besonders zu verdanken: Michail Gorbatschow. Wir ahnen die schwere Last, die er in der Sowjetunion zu tragen hat. Wir bitten die Bürger der Sowjetunion, die Politik der DDR und ihr Streben nach der Einheit Deutschlands nicht als bedrohlich anzusehen. Wir sind uns unserer historischen Schuld gegenüber der Sowjetunion bewußt, und wir möchten als freier Staat mit einer Sowjetunion, in der das neue Denken gesiegt hat, freundschaftlich zusammenarbeiten. Glasnost und Perestroika haben der Welt neue, lange Zeit nicht für möglich gehaltene historische Horizonte erschlossen. Sie förderten auch in der DDR eine Bürgerbewegung, die alle gesellschaftlichen Sektoren erfaßte. Eine entscheidende Kraft dieses Prozesses waren die neuen demokratischen Gruppen, in denen sich Menschen zusammenfanden, die die Fesseln der Vergangenheit sprengten. Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte. Das sollte in diesem Hause stets gegenwärtig und lebendig bleiben. Wenn ich an dieser Stelle den Dank für unsere Freiheit ausspreche, denke auch ich an die Freiheitsbewegungen in unseren östlichen Nachbarstaaten. Die Solidarnosc-Bewegung in Polen hatte nachhaltige Wirkungen auf ganz Osteuropa. Weder Kriegsrecht noch Hetzpropaganda haben der Demokratie den Riegel vorschieben können. Namen wie Lech Walesa oder der des großen Bürgerrechtlers und heutigen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, VAclav Havel, werden für immer in den Geschichtsbüchern der Welt stehen und die Herzen freiheitsliebender Menschen bewegen. Wir denken an das ungarische Volk und seine Bürger, die den Eisernen Vorhang herunterrissen und damit auch ein Stück Berliner Mauer zum Fallen brachten. Noch in den nächsten Monaten wird dieses menschenunwürdige Schandmal abgerissen. Ich möchte im Namen der Regierung der DDR den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland danken. Sie haben zu uns gehalten, sie haben uns Mut gemacht und geholfen, wo immer dies möglich war. Und vergessen wir nicht: Jahrzehntelang waren, wenn auch mitunter nicht ohne Eigennutz, die westlichen Medien für viele DDR-Bürger die wichtigste Informationsquelle. Oft waren sie das einzige Sprachrohr für Unterdrückte und politisch Andersdenkende in diesem Land. Das uneingeschränkte Bekenntnis verantwortlicher Politiker der Bundesrepublik - ich nenne nur Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher - zur Selbstbestimmung und Einheit des deutschen Volkes versetzt uns auch in die Lage, jetzt die Einheit verwirklichen zu können. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Hans Modrow für sein Engagement danken. Durch seine behutsame Politik ist uns sicher vieles erspart geblieben. In den schwierigen Zeiten des letzten halben Jahres blieb er als Demokrat überparteilich und stabilisierte in Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch dieses Land. Verehrte Abgeordnete, ein Dank darf heute nicht fehlen. Das ist der Dank an die Kirchen. Ihr Verdienst ist es, Schutzraum für Andersdenkende und Anwalt für Rechtlose gewesen zu sein. Ihre Besonnenheit und ihr Festhalten an der Gewaltlosigkeit haben unserer Revolution die Friedfertigkeit bewahrt. Es hätte ja alles auch ganz anders kommen können. Wir haben Grund zu tiefer Dankbarkeit, daß uns die Erfahrungen erspart geblieben sind, wie sie etwa das rumänische Volk machen mußte. Aber unsere Geschichte, das sind nicht nur die letzten fünf Jahre. Als freie Regierung und freies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus. Wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges. Wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus, an die Opfer des 17. Juni 1953 und an die Opfer der Mauer. Krieg und Nachkrieg, die Verflochtenheit unendlich vieler Menschen in Schuld und Sühne und wieder neue historische Schuld haben das Gesicht unseres Volkes gekennzeichnet. Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Diese Menschen sind der Stolz, und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes. Die Menschen des Widerstandes erinnern uns an unsere Verantwortung für unsere Geschichte. Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl fernzubleiben. Jeder frage sich selbst, ob er immer alles richtig gemacht und welche Lehren er zu ziehen hat. Es sind nicht immer die Mutigen von einst, die heute am lautesten die Bestrafung anderer fordern. Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig ist. Ihn leichtzunehmen, wäre leichtfertig. Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, 40 Jahre lang von der Substanz zu leben, nicht nur materiell. Wir haben Schäden auf vielen Gebieten und einen großen Nachholbedarf. Und oft sind die Schäden derart, daß der Weg zu ihrer Heilung erst noch ausgearbeitet werden muß. In dieser Situation sind fortwirkendes Mißtrauen, Verdrossenheit und Ermattung vieler Mitbürger nur zu verständlich. Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. Wir haben es nicht mit Problemen zu tun, die erst jetzt entstehen, sondern mit alten, verdeckten Wunden der Gesellschaft, die jetzt offengelegt werden müssen, damit sie heilen können. Dazu gehören auch Struktur und Wirkungsweise der ehemaligen Staatssicherheit. Dazu gehört, daß sich betroffene Menschen aussprechen dürfen. Es hilft nicht die Veröffentlichung der Verstrickung einzelner, bei denen man kaum sagen kann, wieweit sie Opfer oder Täter waren. Wir haben in diesen Wochen zu spüren bekommen, wie sich unsere junge Demokratie von neuem in dem Spinnennetz der ehemaligen Staatssicherheit verfing. Wir werden eine Regierungskommission einsetzen, die die Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit betreibt. Diese Kommission wird dafür sorgen, daß die verdienstvolle Arbeit der Bürgerkomitees einen rechtsstaatlich geordneten Abschluß findet. Die Bewältigung der Stasi-Vergangenheit verlangt die unbedingte Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. Um den Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen zu schützen, werden wir ein umfassendes Datenschutzgesetz vorlegen. In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt. Verehrte Anwesende, wir sind dabei, uns die Demokratie zu erarbeiten. Niemand möge Innehalten und Überlegen mit Entschlußlosigkeit verwechseln. In dieser Situation nach drei Wochen eine große Koalition zu haben, ist eine Leistung, für die ich allen beteiligten Fraktionen danke. Und ich versichere allen, wir werden uns auch in Zukunft Zeit zum verantwortlichen Nachdenken nehmen. Das wird uns helfen, den notwendigen Grundkonsens der Nation nicht durch sachlich unbegründete Zwietracht der Parteien zu zerstören. Wir müssen alles tun, diesen Geist zu bewahren und uns unserer Freiheit würdig zu erweisen. Damit nehmen wir das demokratische Erbe Deutschlands auf. 58 Jahre unterschiedlicher Diktaturen dürfen uns den Blick nicht verstellen. Im Bauernkrieg, in den Befreiungskriegen, in der Revolution von 1848/49, in der Novemberrevolution von 1918, in den Ereignissen vom 20. Juli 1944 und im Volksaufstand des 17. Juni 1953 - immer gab es den brennenden Willen zur Demokratie, und immer wurde er in Blut oder in Resignation erstickt. Heute dagegen stehen wir in der geschichtlichen Situation, daß unser demokratisches Aufbegehren ausgelöst wurde und aufgenommen wird von einer den Kontinent durchziehenden Bewegung zu Demokratie, Frieden und internationalem Ausgleich. Machen wir uns bewußt, welcher Fortschritt bei uns bereits erreicht wurde vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, daß diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas halt macht, sondern daß in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht! Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz. Nicht die Staatssicherheit war die eigentliche Krankheit der DDR, sie war nur eine ihrer Auswüchse. Die eigentliche Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft war der diktatorische Zentralismus, der aus stalinistischer Verblendung an die Stelle der Demokratie, an die Stelle der Selbstbestimmung der Menschen gesetzt worden war. Dieser Zentralismus war es, der eine alles gesellschaftliche Leben vergiftende Atmosphäre des Drucks erzeugte. Zwang und Druck vernichteten Initiative, Verantwortungsbereitschaft, eigene Überzeugung und machten es zu einer menschlichen Leistung, dem eigenen Gewissen zu folgen. Deshalb genügt es heute nicht, ein Problem aufzugreifen, sondern wir müssen viel tiefer ansetzen. Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußtmachen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. Die Qualität unseres Weges wird an der Bewahrung von Grundwerten der Gesellschaft zu messen sein. Es geht um vier Dinge: - die Freiheit des Andersdenkenden, - Gerechtigkeit für alle, - Frieden als Gestaltungsaufgabe nach innen und außen, - Verantwortung für das Leben in allen seinen Gestalten. Diese Werte zeigen die Richtung auf, die ich - und ich denke, wir alle - einschlagen wollen. Dabei geben wir uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung der Freiheit, der Demokratie und des Rechts eine mühelos zu bewältigende Aufgabe wäre. Wir geben uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung und der Übergang zu ihr keine politisch-ethischen Qualitäten mehr benötigen würden. Im Gegenteil! Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich erwachsen werden müssen. Selbstbestimmt und aktiv. Das gilt für jeden Bürger, das gilt auch für das Parlament und die Regierung und für das gesamte gesellschaftliche Leben. Und wir geben uns nicht der Illusion hin, daß Moral und Recht identisch wären, daß wir mit Hilfe des Rechts Moral erzwingen könnten. Hier halte ich es mit Hölderlins Hyperion: "Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das lass er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte." Wahrlich ein aktuelles Wort über unsere jüngste Vergangenheit! In diesem Sinne ist unser Umbruch Teil eines revolutionären Erneuerungsprozesses in Osteuropa, der zugleich ein gesamteuropäischer und ein Weltprozeß ist. Manche mögen meinen, daß er letztlich konterrevolutionär sei. Nach dieser 70jährigen Entwicklung des realen Sozialismus ist das "konter", das "gegen", eine Naturnotwendigkeit. Wer Sozialismus faktisch mit brutaler Parteidiktatur, Entmündigung der Gesellschaft, Staatseigentum an den Produktionsmitteln und mit zentralistischem Plandirigismus gleichsetzte, wer glaubte, mit solchen Mitteln eine gerechtere Gesellschaft schaffen zu können, der hat sich so gründlich geirrt, daß hier nur ein entschiedenes "kontra" möglich ist. Wer aber glaubt, damit müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt sich genauso. Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können. Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft. Wir werden sie in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG jetzt Schritt für Schritt entwickeln. In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause in Kraft treten kann. Dabei ist 1:1 der grundlegende Kurs. Dazu gehört die Sicherung der Eigentumsrechte aus der Bodenreform und aus Eigentumsübertragungen, die nach Treu und Glauben rechtens waren und daher auch rechtens bleiben müssen. Dazu gehört, daß vor der Währungsumstellung die Aufwendungen für die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden. Erst dann können die Preise und Mieten mit der Entwicklung der Einkommen schrittweise freigegeben werden. Eine unserer wichtigsten Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber der Menschheit ist die Gewährleistung einer lebenswerten und lebensfähigen Umwelt. Wir können unser Defizit auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen beseitigen. Aber mit Hilfe der Bundesrepublik werden wir ein durchdachtes und finanzierbares Umweltschutzprogramm in Gang setzen, das die vorhandenen Arbeitsplätze schont und neue Arbeitsplätze schafft. Die dritte Dimension dieser Lebensqualität neben der sozial-ökonomischen und der ökologischen ist das geistige Leben. Bildung, Kultur und Medien sollen Ausdruck unserer Freiheit sein. Ihre Vielgestaltigkeit, ihre Pluralität werden ein Stück unseres gesellschaftlichen Reichtums sein. Aufgabe der Regierung wie des Parlaments ist es, über diesen Reichtum zu wachen und neuerlichen Deformierungen entgegenzuwirken. Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität. Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig. Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt. Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein. Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten. Wir werden gefragt: Haben wir gar nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. Not macht auch erfinderisch. Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben. Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden. Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Aber es geht nicht nur um die letzten 40 Jahre. In Deutschland ist viel Geschichte aufzuarbeiten, vor allem die, die wir mehr den anderen zugeschoben und daher zu wenig auf uns selber bezogen haben. Aber wer den positiven Besitzstand der deutschen Geschichte für sich reklamiert, der muß auch zu ihren Schulden stehen, unabhängig davon, wann er geboren und selbst aktiv handelnd in diese Geschichte eingetreten ist. Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns auch zu diesem doppelten Erbe. Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. Es geht um Europa. Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land. Die eigentlichen Probleme in unserer Welt - wir wissen es alle - sind nicht die deutsch-deutschen oder die Ost-West-Probleme. Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Wenn daraus nicht eine tödliche Bedrohung für das Leben der Menschen erwachsen soll, haben auch wir uns an der Überwindung dieser Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Errichtung einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung ist nicht nur Sache der Großmächte oder der UNO, sondern ist die Aufgabe jedes Mitglieds der Völkergemeinschaft. Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in unserem Land kann ein Beitrag zu einer neuen Qualität des Miteinander verschiedener Völker sein. Die Klärung der Rechtslage für ausländische Mitbürger und die Einsetzung von Ausländerbeauftragten auf verschiedenen Ebenen werden dafür ebenso nötig sein wie die Förderung solcher Initiativen, die kulturelle Vielfalt als Reichtum erfahren lassen. Die Befreiung Nelson Mandelas und die Aufhebung der Apartheid in Südafrika, das Schicksal der tropischen Regenwälder und die Hilfe für die Dritte Welt bewegen uns wie unsere eigenen Probleme - ja, nicht nur "wie" ... -: es sind unsere eigenen Probleme. Wir wissen, unsere Fähigkeit, die eigenen Probleme zu lösen, hängt davon ab, wie wir bereit sind, auch die Probleme der anderen zu sehen. Frau Präsidentin, verehrte Abgeordnete! Die gebildete Koalitionsregierung steht vor großen, schwierigen und sehr konkreten Aufgaben, die klare und strategische Entscheidungen notwendig machen. Die wirtschaftspolitische Zielsetzung der Koalitionsregierung besteht darin, die bisherige staatlich gelenkte Kommandowirtschaft auf eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft umzustellen. Die Umstellung von staatlichem Plandirigismus auf soziale Marktwirtschaft muß mit hohem Tempo, aber auch in geordneten Schritten erfolgen. In den nächsten Monaten wird beides noch nebeneinander existieren müssen, wobei wir nach den Motto zu arbeiten haben "soviel Markt wie möglich und soviel Staat wie nötig". Eine herausragende Bedeutung messen wir in diesem Zusammenhang dem Wettbewerb aller Unternehmen bei. Er ist das wichtigste Regulativ der Marktwirtschaft. Die Koalitionsregierung wird Gesetze zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, ein Kartellgesetz, die Überarbeitung des Bankgesetzes durchführen und vor allen Dingen ein Gesetz über die Entflechtung von Kombinaten und Großbetrieben zur Schaffung branchentypischer, leistungsfähiger Unternehmenseinheiten einbringen. In diesem Zusammenhang sind Aufgaben und Struktur der Treuhand-Anstalt so zu gestalten, daß damit ein Instrument zur Beeinflussung der Entflechtung volkseigener Betriebe und zur Überführung in geeignete Rechtsformen geschaffen wird. Der Abbau des Planungssystems in seiner bisherigen Form sollte mit dem Stichtag Währungsunion weitgehend erreicht sein. Ausgehend vom Angebot der Regierung der BRD an die Regierung der DDR, eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu schaffen, ist es die Aufgabe der Koalitionsregierung, die dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen zu gewährleisten. Bei den Verhandlungen mit der Bundesregierung gehen wir von dem festen Grundsatz aus, daß Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eine untrennbare Einheit bilden müssen und nur gleichzeitig in Kraft treten können. Dies schließt Anschubfinanzierungen, insbesondere im Sozialbereich, ein. Wir bestätigen die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR - bei Löhnen und Gehältern im Ergebnis im Verhältnis 1:1 erfolgen sollte, - bei Renten ebenfalls im Verhältnis 1:1, wobei ihre schrittweise Anhebung auf das Nettorentenniveau von 70 % nach 45 Versicherungsjahren erfolgen sollte, und - bei Sparguthaben und Versicherungen mit Sparwirkung auch im Verhältnis 1:1, wobei Wege eines differenzierten Umtausches gegangen werden sollten. Differenzierter sind die Inlandsschulden der VEB, Genossenschaften und der privaten Betriebe zu beachten. Hier ist bei der Währungsumstellung prinzipiell der Produktivitätsunterschied zwischen der BRD und der DDR zugrunde zu legen. Dabei neigt die Regierung besonders bei dem privaten und genossenschaftlichen Sektar zur weitgehenden Streichung der Inlandsschulden, um dessen Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, und bei den VEB zur Umbewertung der Inlandsverschuldung mindestens im Verhältnis 2:1 zu kommen sowie Anpassungshilfen für wettbewerbsfähig organisierbare Betriebe, z. B. durch Entschuldung im Rahmen der in der EG üblichen Sanierungsregeln, zu geben. So wie für Griechenland, Portugal oder Spanien mehrjährige Übergangsregelungen zum Schutz ihrer eigenen Wirtschaft galten, werden wir vergleichbare Schutzmechanismen mit der Bundesregierung vereinbaren müssen. Bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems der BRD ist darauf zu achten, daß in Übergangszeiten die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden. Wir denken hierbei an das Saarland-Modell. Gleichzeitig sollten diskriminierende Wirtschafts- und Handelsbeschränkungen abgebaut werden. Die Koalitionsregierung wird insbesondere anstreben, die Kreativität und Motivation der Menschen in der DDR in den raschen Übergang zur sozialen Marktwirtschaft einzubringen. Besonders durch einen breiten Zustrom von privatem Kapital wird eine durchgreifende Besserung der wirtschaftlichen Lage in der DDR erwartet. Die am Ende der 9. Wahlperiode der Volkskammer der DDR von der Regierung Modrow noch vorgelegten Gesetze zur Gewerbefreiheit, zur Gründung von privaten Unternehmen einschließlich Reprivatisierung, zum Bankgesetz und zur Ergänzung des Steuerrechts haben für viele DDR-Bürger einen Impuls gesetzt, sich selbständig zu machen. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es allerdings auf dem Gebiet der Reprivatisierung der 1972 verstaatlichten Unternehmen nur Einzelbeispiele, bei denen die Übergabe abgeschlossen ist. Die in breitem Maße vorhandenen Wünsche zur Errichtung privater Gewerbe scheitern allzuoft am chronischen Mangel von Gewerberaum. Es ist das Ziel der Koalitionsregierung, hier sofort eine deutliche Änderung eintreten zu lassen. Deshalb werden umgehend gesetzliche Regelungen. - zum Niederlassungsrecht, - zur Schaffung von Gewerberaum, - von Berufs-, Vertrags- und Gewerbefreiheit sowie - für ein Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb erarbeitet werden. Radikale Änderungen zur Durchsetzung unseres marktwirtschaftlichen Konzepts sind allerdings nicht möglich, wenn nicht eine umfassende Veränderung der Preisgestaltung verwirklicht wird. Preise sind die Steuerungssignale des Marktes. Ohne ihre freie Gestaltung kann Marktwirtschaft nicht funktionieren. Im Zusammenhang damit ist die Steuergesetzgebung dahingehend zu verändern, daß mit günstigen Startsteuersätzen für kleinere und mittlere Unternehmen, mit günstigen Startsteuersätzen für Investoren aus dem In- und Ausland Rahmenbedingungen für die schnelle Unternehmensgründung geschaffen werden. Damit ist schrittweise der Wegfall des Abgabesystems der produktgebundenen Abgaben und Subventionen einschließlich des Beitrags für gesellschaftliche Fonds zu verbinden. Unser Ziel ist es, noch 1990 ca. 500000 Arbeitsplätze im Mittelstandsbereich zu schaffen. Wir wollen damit auf dem Arbeitsmarkt einen Ausgleich schaffen für Arbeitsplätze, die aus zwingenden Gründen der Wirtschaftlichkeit oder des Umweltschutzes nicht zu halten sind. Eine gute Mittelstandspolitik wird ein Schwerpunkt zukünftiger Wirtschaftspolitik sein! Ich möchte an dieser Stelle einige grundsätzliche Bemerkungen zu unserer künftigen Haushalts- und Finanzpolitik machen. Die Aufgabe der Regierung bei der Aufstellung und Ausführung des Staatshaushaltes für 1990 ist getragen von der notwendigen Stabilisierung der Staatsfinanzen und den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Eine konkretere Aussage ist erst dann möglich, wenn der neuen Regierung eine vollständige Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage vorliegt. Wir werden bemüht sein, so bald wie möglich hierüber öffentlich Auskunft zu geben und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Heute kann ich nur soviel sagen: Der jetzt vorliegende Voranschlag zum Haushalt 1990 ist auf die Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft auszurichten. Eine hohe Effizienz in der Wirtschaft für stabile Staatseinnahmen sowie die wirtschaftliche und sparsame Verwaltung der Ausgaben sind unabdingbare Voraussetzungen zum weitestgehenden Ausgleich des Haushaltes 1990. Trotz sparsamer Haushaltsführung, die wir uns vornehmen, wird eine begrenzte Kreditaufnahme nicht zu umgehen sein. Alle Minister und Vorsitzenden der Räte der Bezirke sind in die Verantwortung genommen, die dem Staat aus Steuern und anderen Abgaben zustehenden Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Das betrifft auch Aufgaben wie die Umstellung der Kapitalgesellschaften auf die Steuern, die Festsetzung und den Einzug der Steuern durch die zu schaffenden Steuerbehörden. Insgesamt muß das Steuersystem der Initiative und Leistungsbereitschaft unternehmerischer Tätigkeit Rechnung tragen. Für 1990 wird durch den Staatshaushalt der Republik gesichert, daß über den Finanzausgleich den Bezirken und Kommunen der nach strenger Wirtschaftlichkeit berechnete Finanzbedarf gedeckt wird. Die Souveränität der Kommunen in der Haushaltswirtschaft wird weitgehend hergestellt. Der Voranschlag zum Haushalt 1990 geht davon aus, daß die sozialen Versorgungs- und Betreuungsleistungen des Staates gegenüber der Bevölkerung finanziell abgesichert werden. Die Arbeiten im betreffenden Ressort sind in Abstimmung mit dem Bundesfinanzministerium auf die Rechtsanpassung mit der Bundesrepublik gerichtet. Vorrangig zu nennen sind die Grundsätze des Haushaltsrechts, die Haushaltsordnung sowie das bundesdeutsche Steuerrecht, insbesondere die Umsatz- und Verbrauchssteuer. Diese Aufgaben sind so zu erfüllen, daß den notwendigen Anforderungen bei Einführung der Währungsunion Rechnung getragen wird. Unsere Bürger haben verständlicherweise hohe Erwartungen an unsere Energie- und Umweltpolitik. In der Energiepolitik folgen wir dem Ziel einer umweltfreundlichen und rationellen Energieerzeugung und Energieverwendung. Wir gehen davon aus, daß die Energieerzeugung aus Rohbraunkohle in den kommenden Jahren drastisch reduziert werden muß, um die hohe Luftbelastung durch die stark schwefelhaltige Rohbraunkohle aus DDR-Aufkommen deutlich zu senken und die weitere Zerstörung wertvollen Kulturgutes und der Landschaft durch überdimensionalen Kohleabbau einzuschränken. Wir werden stärker auf die Nutzung umweltfreundlicherer Energieträger wie Erdöl, Steinkohle und Erdgas zurückgreifen müssen. Ein Schwerpunkt der Rekonstruktion der Braunkohlekraftwerke ist die Rauchgasentschwefelung und die Erhöhung des Wirkungsgrades bei der Energieerzeugung. Auch diese Probleme, die sich aus der notwendigen Bereitstellung ausreichender Energieträger ergeben, kann die DDR nicht alleine lösen. Wir setzen deshalb auf einen schnellen Energieverbund mit der Bundesrepublik, um die dort vorhandenen Kapazitätsreserven zu nutzen. Wir gehen davon aus, daß wir wohl auf absehbare Zeit nicht auf die Nutzung von Kernenergie verzichten können. Die Gutachten werden hier das entscheidende Wort zu sprechen haben. Wir werden nach der Entscheidungsfindung die vorhandenen Kernkraftwerke durch Rekonstruktion und Modernisierung auf international geltenden Sicherheitsstandard zu bringen haben. Mit steigender Wirtschaftskraft werden die Möglichkeiten zur Finanzierung der nicht billigen Umweltschutzmaßnahmen wachsen. Dazu zählt auch Erforschung und wirtschaftliche Nutzung alternativer Energieträger. Wir werden die Einführung umweltfreundlicher Technik steuerlich begünstigen. Der bevorstehende Strukturwandel der Wirtschaft muß und wird so zu umweltfreundlicher und abproduktarmer, marktgerechter Produktion führen. Neue Industrieansiedlungen werden allerdings schon jetzt den EG-Standards entsprechen müssen. Ein Schwerpunkt ist die Erarbeitung von Sanierungs- und Stillegungsprogrammen für industrielle und kommunale Altanlagen mit starker und unvertretbarer Umweltbelastung. Der Umlenkung freiwerdender Arbeitskräfte in andere wichtige Bereiche, insbesondere in die Infrastruktur, in den Handels- und Dienstleistungsbereich und in das Bauwesen, gilt dabei besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Durch den Aufbau einer leistungsfähigen Umweltindustrie kann unsere Lebensqualität entscheidend verbessert werden. Viele neue Arbeitsplätze werden so entstehen. Die Regierung wird geeignete Maßnahmen ergreifen, die den sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Recycling und recyclinggerechte Produktion stimulieren. Wir werden gesetzliche Regelungen zu progressiv gestaffelten Abgaben für Schadstoffemissionen in Wasser, Luft und Boden und andere Umweltbeeinträchtigungen erarbeiten und die Bildung eines staatlichen Öko-Fonds aus Abgaben, Gebühren und Stiftungen zur Unterstützung umweltverbessernder und naturschützender Maßnahmen, insbesondere für unvorhersehbare ökologische Folgemaßnahmen und Altlastsanierungen einführen. Das erfordert: - eine wirksame, dem internationalen Stand entsprechende Umweltschutzgesetzgebung, - eine umfassende staatliche Umweltschutz- und Umweltkontrolle, - eine rechtsverbindliche Raum- und Flächenordnung zur Sicherung des Flächen-Landschafts- und Naturschutzes in kommunaler, regionaler und überregionaler Abstimmung und - eine staatliche Förderung der Umweltforschung. Die komplizierte Wirtschaftssituation in unserem Land spiegelt sich auch in einer unterentwickelten Infrastruktur, insbesondere im Bereich des Verkehrs-, des Post- und Fernmeldewesens und im Bauwesen wider. Der Aufbau eines leistungsfähigen Verkehrswesens ist eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, für wirtschaftliches Wachstum und für den Wohlstand unseres Landes. Wir brauchen einen Güterverkehr, der auf die Bedürfnisse unserer sich entwickelnden Wirtschaft ausgerichtet ist und das Zusammenwachsen zu einer deutschen Wirtschaftsgemeinschaft fördert. Für den Personenverkehr benötigen wir Verkehrsmittel und Reiseverbindungen, die dem Reisebedürfnis der Menschen unseres Landes und den gestiegenen Anforderungen an die Qualität der Verkehrsmittel Rechnung tragen. Dies gilt für die Deutsche Reichsbahn ebenso wie für die Kraftfahrzeuge. Leistungsfähige Verkehrswege sind eine Grundlage für die dauerhafte Überwindung der Teilung Deutschlands und für ein Zusammenwachsen ganz Europas. Die Chancen der Marktwirtschaft wollen wir auf das nachhaltigste mit der Belebung von Städtebau und Architektur verbinden. Den Kommunen muß das Recht zukommen, das Bauen in ihren Territorien weitestgehend selbst zu bestimmen. Die Städte- und Wohnungsbauförderung, einschließlich ihrer materiellen Sicherstellung, gehört zu den Prioritäten der Regierungspolitik. Im Zusammenwirken mit den künftigen Ländern und den Kommunen setzt sie sich für die Stadt- und Dorferneuerung als Hilfe zur Selbsthilfe ein. Dringlich sind die Wiedergewinnung, Erhaltung und Bewahrung der im europäischen Kulturraum so geschätzten historisch geprägten Stadtbilder. Gleichermaßen wird sich die Regierung der Revitalisierung der in den zurückliegenden Jahrzehnten geschaffenen Wohngebiete zuwenden. Bürgerinitiative, Länderverantwortung und gesetzgeberisches, hoheitsrechtliches Handeln des Staates sollen sich nach dem Willen der Regierung in einer wahrhaft demokratischen Baukultur, in einer sozial und ökologisch orientierten Entwicklung der Regionen, Städte und Dörfer wiederfinden. Die Regierung ist sich der Schwere dieser Aufgabe, die enorme Mittel und schöpferische Kräfte erfordert, bewußt. Sie wird das dazu nötige wirtschaftliche Potential durch umfassende Förderung der unternehmerischen Initiativen des Baugewerbes fördern und alle Instrumentarien der Raumordnung und der Stadtplanung nutzen. Große Anstrengungen werden notwendig sein, um die erforderlichen Bauleistungen für den Ausbau und die Modernisierung der technischen und sozialen Infrastruktur und der Industrie sowie für den Wohnungs- und Gesellschaftsbau, einschließlich kirchlicher Bauten, zu erbringen. Die Regierung stellt sich ihrer sozialen Verantwortung für die Sicherung angemessener Wohnbedingungen aller Bürger. Das erfordert eine Wohnungspolitik, mit der soziales Mietrecht und Mieterschutz gewährleistet werden sowie die Bewahrung, Erneuerung und Erweiterung des Wohnungsbestandes ermöglicht wird. Mietpreisbindung für Wahnraum, die sich in Abhängigkeit von der allgemeinen Einkommensentwicklung regelt, ist unabdingbar. Sozial Schwache erhalten Wohngeld. Kündigungsschutzregelungen für Mieter gehören zu den sozialen Grundsätzen der Koalition. In einer sozialen Marktwirtschaft ist Wohnraum jedoch nicht nur eine Versorgungsfrage. Durch Eigentumsbildung muß Wertbildung in privater Initiative ermöglicht werden. Das kommt zugleich der Werterhaltung und der Wohnkultur zugute. Bei beidem haben wir bekanntlich Nachholbedarf. Zum Post- und Fernmeldewesen möchte ich nur soviel sagen: Die Zeiten, in denen man 16 Jahre auf ein Telefon warten mußte, sollen vorbei sein. Wir wollen ein leistungsfähiges, schnelles und zuverlässiges System aufbauen, das die geschäftlichen wie privaten Verbindungen durch Briefe, Telefon und moderne Kommunikationsmittel sicherstellt und so die Postunion mit der Bundesrepublik vorbereitet. Ziel der Regierung ist es, eine vielfältig strukturierte, leistungsfähige und ökologisch orientierte Land- und Forstwirtschaft in unserem Lande zu schaffen. In diesem Zusammenhang müssen wir sehr schnell u. a. folgende Probleme lösen: Erstens: Die offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Eigentum an Grund und Boden in der Land- und Forstwirtschaft. Im Namen der Regierung stelle ich fest: Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition. Wir gehen aber davon aus, daß künftig alle Eigentumsformen gleichgestellt werden müssen. Ein völlig neues Bodenrecht wird die Verfügbarkeit des Eigentums am Boden unter Berücksichtigung des Gemeinwohls und bei Ausschluß von Möglichkeiten zu Spekulationen sichern. Zweitens: Wir haben die Aufgabe, die Landwirtschaft schrittweise an den EG-Agrarmarkt heranzuführen. Dazu brauchen wir Schutzmaßnahmen jedweder Art für eine mehrjährige Übergangsperiode. Es gilt, unsere Landwirtschaft zu erhalten und die Wettbewerbsfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe möglichst schnell herzustellen. Wir müssen die Zusammenhänge zwischen Produktion und Absatz in Ordnung bringen, indem der Ministerrat die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür setzt. Dazu gehören: - ein System neuer Agrarpreise und Steuern mit schrittweisem Übergang zur freien Preisbildung, - die Sicherung der Interessen der DDR-Landwirtschaft bei zukünftigen Quotenregelungen, - die schnelle Erneuerung der landtechnischen Ausrüstung, - die schrittweise Einführung von Umweltnormen der EG in unserer Landwirtschaft, - die beschleunigte Entwicklung und Förderung von Gewerbe und Industrien für Verarbeitung und Veredelung von Agrarprodukten im ländlichen Raum. Drittens: Zur Förderung genossenschaftlicher Betriebe und Einrichtungen wird unsere Regierung ein neues Genossenschaftsrecht vorlegen. Dabei werden auch die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen den Genossenschaftsmitgliedern und Genossenschaften zu ordnen sein. Viertens: Unsere Sorge gilt gleichermaßen dem Wald. Neben der Klärung vieler offener Fragen im Zusammenhang mit dem Eigentum geht es um eine völlig neue Einstellung zum Wald. Seine ökologischen und landeskulturellen Leistungen haben. Vorrang vor der Holznutzung. Meine Daunen und Herren! Eine Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern sie ist ein Mittel, um die Lebensbedürfnisse der Menschen zu sichern, um die Entfaltung der Menschen zu ermöglichen und um die Verwirklichung menschlicher Werte zu fördern. Arbeitsförderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere auch für Frauen, Alleinerziehende, für Eltern kinderreicher Familien und für Geschädigte sind Ziel unserer Regierungspolitik. Die Bekämpfung der zu erwartenden Arbeitslosigkeit erfordert folgende Sofortmaßnahmen: - Umschulung und Qualifizierung von Werktätigen, - Aufbau leistungsfähiger Arbeitsämter, - finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit, - Schutz der Beschäftigten durch ein Kündigungsschutzgesetz, ein Betriebsverfassungsgesetz und ein Tarifvertragsgesetz. Unsere Sorge muß immer zuerst denen gelten, die aus Gründen, die sie selbst nicht zu verantworten haben, nicht aus eigener Kraft am Wohlstand teilhaben können. Wir müssen diejenigen stützen, die zu den Schwachen der Gesellschaft gehören. Wir müssen sicherstellen, daß die Früchte der gemeinsamen Arbeit gerecht verteilt werden, und wir müssen dafür eintreten, daß der, der Lasten trägt, auch Entlastung bekommt. Gerade in einer Gesellschaft, in der das Spiel der freien Kräfte sich enthalten kann, ist es wichtig, daß die stärkste Kraft, also der Staat, sich zum Anwalt der Schwächeren macht. Dabei kann es nicht nur um die Zuweisung materieller Hilfen, beispielsweise an Behinderte, gehen, sondern es müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, daß nicht Almosen verteilt werden, sondern einklagbare Rechtsansprüche entstehen. Ich möchte an dieser Stelle vom ungeborenen Leben sprechen. Wir alle wissen, daß die Frauen und Männer - und beide Partner stehen in der Verantwortung, darüber sind sich so manche Männer anscheinend gar nicht im klaren - an den Entscheidungen oft schwer tragen. Aber wir kennen auch die Mißstände, die eine Entscheidung gegen das Leben herbeiführen. Wir brauchen mehr Entscheidungen für das Leben. Wir brauchen wirtschaftliche und ideelle Hilfestellungen, die - insbesondere den Frauen - die Entscheidung für das Leben erleichtern und nahelegen. Die soziale Unterstützung und Absicherung der Alleinerziehenden muß verstärkt werden. Und ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Mütter und Väter in gleicher Weise zur elterlichen Sorge für ihre Kinder verpflichtet sind. Aber nicht nur Alleinerziehende, sondern auch viele Eheleute und feste Partner stehen vor Problemen, weil die Familie bisher moralisch und finanziell nicht genügend gefördert worden ist. Notwendig ist ein umfassendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen und eine Abstimmung von Arbeitszeiten und Familienzeiten, die der Familie und vor allem den Kindern zugute kommt. Deshalb brauchen wir flexiblere Arbeitszeiten, Arbeitszeitverkürzung und mehr Teilzeitarbeit. Wir wollen aber auch denen helfen, die sich eine Zeit lang ganz der Erziehung der Kinder, einem behinderten Kind oder der Betreuung der eigenen Eltern widmen. Wir werden diesen Männern und Frauen helfen, damit sie sich nach der Erziehungs- oder Pflegephase wieder im Berufsleben zurechtfinden. Ziel der Regierung ist es, daß solche Phasen finanziell ausgeglichen und in die Anrechnung von Rentenzeiten einbezogen werden. Die Lastenverteilung in dieser Gesellschaft, und das heißt auch in der Familie, ist oft ungleich. Wenn der Grundwert der Gleichheit konkret werden soll, dann reicht es nicht aus, daß so viele Frauen im Arbeitsleben stehen und daraus auch ein Mehr an Selbstbewußtsein ableiten, sondern dann müssen unsere Frauen auch die gleichen Aufstiegschancen, die gleiche Bezahlung, überhaupt gleiche Chancen in allen Berufen haben. Die Gleichstellung im Beruf darf nicht auf dem Rücken der Frauen selbst verwirklicht werden. Zur Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft werden wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen, d. h. in den Kommunen, in den Ländern und beim Ministerrat, Beauftragte einsetzen, die darauf achten, daß die Gleichstellung auch im Alltag von Betrieben und Verwaltungen Wirklichkeit wird. Wir brauchen soziale Sicherungssysteme, die die Bürger als Arbeitslose, Kranke und Alte vor materieller Not schützen. Wir brauchen aber nicht den einen Wohltäter, ganz gleich, ob er FDGB oder anders heißt. Die zentralistische Verwaltung der Sozialversicherung beim FDGB entspricht nicht den Erfordernissen eines demokratischen Sozialstaates. Eine Neuorganisation ist notwendig: - Die Sozialversicherung muß aus dem FDGB und der Staatlichen Versicherung herausgelöst werden; - Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung sind künftig zu trennen; - für alle Aufgaben der Krankenversicherung muß ein kassenartenneutraler Träger geschaffen werden. Schließlich zahlen wir doch alle unsere Beiträge und haben damit auch einen Rechtsanspruch auf die Leistung. Es wird in Zukunft selbstverwaltete, voneinander getrennte Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen geben. Meine Damen und Herren! Der Krisenzustand in unserem Gesundheitswesen ist hinlänglich bekannt. Wir brauchen mehr Ärzte, mehr Krankenschwestern und Krankenpfleger. Wir brauchen eine medizinische Behinderten- und Altenhilfe und eine Neugestaltung der medizinischen Rehabilitation. Wir müssen die medizinische Ausstattung der Krankenhäuser verbessern und viele Krankenhäuser, viele Pflegeheime und Feierabendheime rekonstruieren. Dabei muß auch für die eindeutige Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlich-technischen Infrastruktur gesorgt werden. Das gewachsene System von Polikliniken und Einrichtungen des betrieblichen Gesundheitswesens ist sinnvollerweise zu erhalten sowie die Niederlassungsfreiheit für Fachärzte zu sichern. Im Zusammenhang mit der Gesundheit kommt dem Sport eine besondere Bedeutung zu. Wir wollen weg von der einseitigen Förderung des Leistungssports und hin zu einer verstärkten Förderung des Breiten- und Behindertensports. Dazu muß die freie Wahl der sportlichen Betätigung möglich sein. Deshalb werden wir die Kommunen in Fragen der regionalen Entwicklung des Sports unterstützen. Das schließt aber eine besondere Förderung des Leistungssports nicht aus. In Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland sollte darauf hingewirkt werden, daß zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona eine gesamtdeutsche Mannschaft entsandt wird. Wir unterstützen von ganzem Herzen den Gedanken, innerhalb der nächsten zehn Jahre Olympische Spiele in Berlin, der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands, abzuhalten. Dies wäre ein weithin sichtbares Zeichen ihrer neugewonnenen Funktion als Bindeglied zwischen den Völkern in Ost und West. Ein katastrophales Erbe übernehmen wir von der SED-Herrschaft auch im Bildungswesen. Besonders in den letzten Jahren haben sich große Probleme und Fehler angestaut. Es gilt, das bürokratisch-zentralistische System staatlicher Leitung zu beseitigen und zu einem ausgewogenen Verhältnis von staatlicher Verantwortung und gesellschaftlicher Initiative zu kommen. Die in den letzten Jahrzehnten zementierte Einheitlichkeit muß durch ein differenziertes und flexibles Bildungswesen ersetzt werden, das auch alternative Modelle nicht ausschließt. Die Regierung stellt sich das Ziel, durch strukturelle Veränderungen jene Freiräume zu schaffen, in denen sich ein verantwortliches Zusammenwirken aller in der Bildung Tätigen entfalten kann. Die Kommandostruktur muß durch transparente Entscheidungsprozesse ersetzt werden. Für die allgemeinbildende Schule erfordert dies rechtlich geregelte Formen, in denen sich das Recht und die Aufgabe der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, die fachliche und pädagogische Autorität einer kompetenten Lehrerschaft und die partnerschaftliche Hinführung der Kinder und Jugendlichen zu eigenverantwortlichem Handeln wechselseitig ergänzen. Dies bezieht sich auch auf das Sonderschulsystem, das zudem in vielen Bereichen besonderer Förderung und Fürsorge bedarf. Im Vorfeld der Schule muß der Vorschulbereich durch die gemeinsame Anstrengung aller beteiligten staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräfte in seinem Bestand gesichert und in seiner pädagogischen Bedeutung weiter entwickelt werden. Die auf die allgemeinbildende Schule folgende Fach- und Berufsausbildung muß in Dauer, Niveau und Gestaltung viel stärker der realen Vielfalt beruflicher Anforderungen entsprechen. Das Hochschulwesen bedarf eines Rahmenrechts, das jenen Grad an Gemeinsamkeit und Übereinstimmung sichert, der im Interesse von Forschung, Lehre und Studium liegt, zugleich aber den Universitäten und Hochschulen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Eigenverantwortung garantiert. Die Leitungs- und Entscheidungsgremien müssen die legitimierte Teilhabe der verschiedenen Personengruppen, die an den Universitäten und Hochschulen tätig sind, ermöglichen. Dabei wird einerseits die besondere Verantwortung und Sachkompetenz des Lehrkörpers und andererseits das existentielle Interesse der Studenten an hochwertigen und verwendungsfähigen Kenntnissen und Fähigkeiten sorgfältig zu beachten sein. Die Freiheit von Lehre und Forschung und der Wettstreit um Ideen und Qualität sind die bewegenden Momente akademischen Lebens. Die Forschungs- und Technologiepolitik hat die folgenden Ziele: - die Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu erhalten, - die Lebensbedingungen zu verbessern, - die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und - das menschliche Wissen zu vertiefen. Für die Wissenschaften den rechtlichen Rahmen und die finanzielle Grundlage zu sichern, ist Aufgabe des Staates, wobei die Förderung der Forschung auch ein Anliegen der Wirtschaft sein sollte. Grundsätzlich hat jedoch der Staat die Finanzierung der Grundlagenforschung an staatlichen wissenschaftlichen Institutionen abzusichern. Nicht zuletzt gilt den Lebensbedingungen der Schüler, Lehrlinge und Studenten und ihren beruflichen Aussichten die Sorge der Regierung. Wir wollen eine offene Jugendarbeit als Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft. Neu entstehenden Jugendorganisationen müssen Möglichkeiten der Arbeit eingeräumt werden. Dabei ist zu sichern, daß bisher bestehende staatliche Jugendeinrichtungen auch weiterhin für die Jugendarbeit zur Verfügung stehen. Auf dem Gebiet der Kultur werden wir eine Politik verfolgen, die ein von jeglicher Reglementierung befreites, ungehindertes kulturell-künstlerisches Schaffen gewährleistet und sich allen geistigen Schätzen unseres Volkes, Europas und der Welt öffnet. Die Regierung betrachtet es als ihre Pflicht, Kultur und Kunst zu schützen und zu fördern. Sie erkennt die Notwendigkeit der Subventionierung von Kultur und Kunst an. Für die Unterstützung kultureller Aufgaben von überregionaler Bedeutung regen wir einen zentralen Kulturfonds durch eine gesamtdeutsche Kulturstiftung an. Die Regierung wird die Voraussetzungen zur Dezentralisierung und Föderalisierung von Kultur und Kulturpolitik schaffen und den Aufbau der Kulturhoheit der Länder vorbereiten. Die Regierung wird dafür Sorge tragen, Kultur- und Kunstschaffende in ein differenziertes Netz sozialer Maßnahmen einzubinden. Wir werden den urheberrechtlichen Schutz der Kunstwerke garantieren, das Versicherungssystem für Kulturschaffende aufrechterhalten und auf eine kunstfreundliche Steuergesetzgebung hinwirken. Wohl nirgends war in der Vergangenheit der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit so kraß wie in unserer Medienlandschaft. Die neue Regierung erklärt: Presse, Rundfunk und Fernsehen sind frei. Eine demokratische Ordnung setzt unabhängige Medien und den Wettbewerb der Meinungen voraus. Die Abkehr von dem früheren Informations- und Meinungsmonopol der SED und die Zuwendung zu einer pluralistischen Medienstruktur dürfen jedoch weder dem Selbstlauf überlassen noch der Gefahr neuerlicher Monopolbildungen ausgesetzt werden. Mit der Einrichtung eines Ministeriums für Medienpolitik will die Regierung helfen, unterschiedliche Bemühungen zusammenzuführen und den Weg in eine freie und vielfältige Medienlandschaft zu bahnen. Die Ausarbeitung eines Mediengesetzes ist unter Berücksichtigung späterer Länderkompetenzen bald abzuschließen. Bis zu seiner Verabschiedung schlagen wir der Volkskammer vor, das Mandat des Medienkontrollrates zu erneuern. Angesichts des Konkurrenzdrucks bundesdeutscher Printmedien scheint es geboten, schnellstmöglich kartellrechtliche Bestimmungen zu erlassen. Ebenso dringend ist eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen. Frau Präsidentin, verehrte Abgeordnete, mir persönlich liegt die Rechtsstaatlichkeit besonders am Herzen. Das bisherige Rechtswesen diente im wesentlichen der Absicherung der bestehenden Machtstrukturen und sorgte dafür, daß jegliche oppositionelle Regung kriminalisiert und im Keim erstickt wurde. Mit welcher Unerbittlichkeit und Härte dabei vorgegangen wurde, das haben Tausende Bürger am eigenen Leibe erfahren. Die Rehabilitierung von Bürgern, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt und arbeitsrechtlich benachteiligt wurden oder andere Nachteile zu Unrecht erlitten, wird ein wesentliches Anliegen neuer Rechtspolitik sein. Die Regierung wird dafür Sorge tragen, daß das Justizwesen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen umgestaltet und das Prinzip der Gewaltenteilung durchgesetzt wird. Insbesondere halten wir folgende Maßnahmen für erforderlich: 1. Bildung eines Verfassungsgerichts, 2. schrittweise Schaffung gesonderter Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichte, zunächst im Rahmen ordentlicher Gerichtsbarkeit, 3. Umgestaltung der Vertragsgerichte in ordentliche Gerichte, 4. Eingliederung der Militärgerichte sowie der Militärstaatsanwaltschaften in das zivile Justizwesen, 5. Stärkung der Rechtsanwaltschaft. Hinsichtlich der Gewährleistung des Personen- und Datenschutzes werden wir uns am entsprechenden Recht der Bundesrepublik orientieren. Dem Parlament unterbreiten wir den Vorschlag, einen Datenschutzbeauftragten einzusetzen. In Zukunft wird es in unserem Land keine Geheimpolizei mehr geben. Eine Verfassungsschutzbehörde - auch dies ist eine Lehre der Vergangenheit darf keine polizeilichen bzw. strafprozessualen Befugnisse erhalten. Die Angehörigen der Deutschen Volkspolizei müssen alles in ihren Kräften Stehende tun, gemeinsam mit den Bürgern ihren Dienst am Gemeinwohl, für die Freiheit und Würde der Bürger zu leisten. Loyalität zur Regierung, Gesetzestreue, Orientierung an den Grund- und Menschenrechten und bürgernahe Arbeitsweise sind Kernpunkte der demokratischen Erneuerung. Die Volkspolizei ist eine zivile Ordnungskraft. Sie darf nur auf der Grundlage von Gesetzen zum Wohle des Gemeinwesens tätig werden. Sie unterliegt öffentlicher und parlamentarischer Kontrolle. Die Angehörigen der Organe des Ministeriums für Innere Angelegenheiten, die ihren Dienst für die Öffentlichkeit vornehmlich in der Öffentlichkeit versehen, müssen durch ihr Auftreten und Einschreiten die demokratische Erneuerung und Rechtsstaatlichkeit glaubhaft verkörpern. Mit Einführung der Länder wird die Polizeihoheit im wesentlichen bei den Ländern liegen. Das bietet für die Effizienz und Akzeptanz der Polizei neue, günstigere Bedingungen. Je enger die Polizei mit dem Gemeinwesen verbunden ist, desto besser kann sie ihre soziale Funktion mit wirklicher Bürgernähe im Interesse des Gemeinwohls wahrnehmen. Demokratie bedarf neben der Rechtsstaatlichkeit einer weiteren Bedingung: Dezentralisierung der Macht. Bisher ging alle Macht von Berlin aus. In Berlin wunde entschieden. Ausgehend davon, daß nach der Wahl demokratisch legitimierter Volksvertretungen auf der Ebene der Kreise, Städte und Gemeinden am 6. Mai 1990 die Bezirkstage die einzigen Vertretungskörperschaften sein werden, die nicht aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind und deren Zusammensetzung damit nicht der tatsächlichen politischen Kräftekonstellation im jeweiligen Territorium entspricht, sollte das Präsidium der Volkskammer den Bezirkstagen empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. Im Interesse der Regierbarkeit des Landes werden wir darauf hinwirken, daß die Räte der Bezirke bis zur Länderbildung nur noch als Verwaltungsorgane, als Bindeglied im Sinne einer Auftragsverwaltung tätig bleiben. Wir werden die Macht dezentralisieren. 1991 soll es wieder Länder geben. Die Wahlen dazu sollen im Spätherbst dieses Jahres stattfinden. Die Länderstruktur ist eine Grundbedingung für die deutsche Einheit, eine Grundbedingung für Demokratie und eine Bedingung für eine erfolgreiche Umstrukturierung unserer Wirtschaft. Wirtschafts- und Steuerreform müssen der Länderreform vorausgehen, denn neben historischen und kulturellen Gesichtspunkten ist die Eigenfinanzierung der Länder unter Beachtung des Finanzausgleichs ein Grundpfeiler des Föderalismus. Zur Herausbildung der kommunalen Selbstverwaltung werden gegenwärtig eine Kommunalverfassung und ein Länder-Einführungsgesetz erarbeitet. Was in den Ländern vor sich geht, einschließlich der Wahl der Landeshauptstadt, bestimmt dann jedes Land selbst. Wir haben in der DDR eine Vielzahl offener Gabietsfragen, die zum Teil vor der Länderbildung geregelt werden müssen. Die Menschen in den betroffenen Gebieten müssen dazu gehört werden. Fast 2000 Briefe mit geschichtlichen Abhandlungen und Unterschriftensammlungen ganzer Kreise sind dabei zu berücksichtigen. Ich komme zum letzten Schwerpunkt meiner Regierungserklärung. Unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten friedlichen Europa. Wir sind in der Regierung für 16 Millionen Bürger verantwortlich, und das wird das Handeln dieser Regierung bestimmen. Alle Deutschen haben eine gemeinsame Geschichte, die am Ende des 2. Weltkrieges durch die Teilung Europas nur scheinbar unterbrochen wurde. Beide deutsche Regierungen sind sich einig darin, daß das Ziel der Verhandlungen nicht eine geschäftliche Partnerschaft sein kann, sondern eine wirkliche Gemeinschaft. Das wird den Geist der Verhandlungen bestimmen. Die Einigung muß aus dem Wunsch der Menschen und nicht aus den Interessen von Regierungen entstehen. Deutschland liegt in der Mitte Europas, aber es darf sich nie wieder zum Machtzentrum Europas erheben wollen. Wir wollen nicht zwischen den Stühlen der Völker Europas sitzen, sondern ein Pfeiler sein für eine Brücke der Verständigung. Deutschland muß ein Faktor des Friedens sein. Die Vereinigung Deutschlands soll die Stabilität in Europa festigen und die Schaffung einer gesamteuropäischen Ordnung des Friedens, der Demokratie und der Zusammenarbeit fördern. In die deutsche Einheit wollen wir unsere Erfahrungen der Bedeutung eines inneren Friedens in der Gesellschaft einbringen. Wir wissen, daß wir dafür zuerst mit unserer Geschichte ins reine kommen müssen. Es darf nicht mehr den einen Teil geben, der an allem schuld war, und den anderen, der sich seine Unschuld vor der Geschichte angeblich bewahrt hatte. Auch wir haben uns zu der gemeinsamen Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur bekannt. Die Einheit Deutschlands soll die Gemeinschaft der Europäer stärken. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist die Garantie der Grenzen in Europa. Dafür ist auch grundlegend, daß sich unsere Nachbarn ihrer Grenzen mit Deutschland sicher sind. Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, wie sie im Görlitzer Vertrag der DDR mit Polen und im Warschauer Vertrag der Bundesrepublik mit Polen beschrieben ist, ist unverzichtbar. Mit Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten soll die künftige deutsche Verfassung u. a. den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten. Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben. Die Einigung ist möglich geworden im Zusammenhang mit der weltweiten Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Die Teilung war Ausdruck dieses Konfliktes. Die Entspannung steht im Zeichen der Menschenrechte und der Abrüstung. In dieser Phase der Entspannungspolitik sind Verteidigungspolitik und Abrüstungspolitik untrennbar miteinander verbunden. Auch in diesem Punkt besinnen wir uns auf die Wurzeln der demokratischen Erneuerung in unserem Land. Ein wesentliches Fundament dieser Erneuerung ist die Friedensbewegung. Es ist die Aufgabe der Regierung der DDR, eine Politik zu verfolgen, die den Prozeß der Ablösung der Militärbündnisse mittels bündnisübergreifender Strukturen als Beginn eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems fördert. Ein europäisches Sicherheitssystem mit immer weniger militärischen Funktionen ist dabei unser Verhandlungsziel. Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs auf die Bereiche der Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Wissenschaft und Technologie halten wir für ein Gebot der Stunde. Auf dem heutigen Gebiet der DDR wird sich für eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA befinden, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist. Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sich für uns unter anderem darin zeigen, daß wir die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen stets berücksichtigen. Die Regierung der DDR strebt eine drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte an. Die DDR verzichtet auf Herstellung, Weitergabe, Besitz und Stationierung von ABC-Waffen und strebt Entsprechendes im geeinten Deutschland an. Sie tritt außerdem ein für ein globales Verbot chemischer Waffen noch in diesem Jahr. Der nukleare Abrüstungsprozeß muß fortgesetzt werden. Wir erhoffen uns noch in diesem Jahr einen positiven Abschluß der START-Verhandlungen über eine 50 %ige Verringerung der strategischen Nuklearwaffen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Mit einer Ordnung des Friedens und der Sicherheit in Europa können Voraussetzungen geschaffen werden für die Ablösung der Rechte der Alliierten des 2. Weltkrieges für Berlin und Deutschlang als Ganzes. Die Regierung der DDR setzt sich dafür ein, daß diese Ablösung im Rahmen der ZWEI-PLUS-VIER-Gespräche erfolgt. Auch sie gehören in den Gesamtrahmen des KSZE-Prozesses zur Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Die KSZE hat für uns eine besondere Bedeutung. Insbesondere tritt die Regierung der DDR dafür ein, daß eine KSZE-Sicherheitsagentur zur Verifikation der Abrüstungs- und Umstrukturierungsvereinbarung geschaffen wird. Sie ist auch für ein KSZE-Organ zur Streitschlichtung und für die Bildung eines ständigen gemeinsamen Rates der Außen- und Verteidigungsminister. Die Regierung der DDR will beim Abrüstungsprozeß eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir werden sofort Maßnahmen einleiten, um die Kriegswaffenproduktion und den Export von Waffen zunächst einzuschränken und in einem überschaubaren Zeitraum ganz einzustellen. Die Rüstungsexporte in Krisengebiete haben generell zu unterbleiben. Wir werden eine Umstrukturierung der Volksarmee und einen schrittweisen Abbau der militärischen Verpflichtungen der DDR einleiten. Die politische Zusammenarbeit im Rahmen des Warschauer Vertrages dagegen soll intensiviert werden. Dazu wird die Regierung in allernächster Zeit den Kontakt zu den Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten aufnehmen. Die DDR will ihre besondere Verbindung zu den Völkern Osteuropas auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet entwickeln und vertiefen. Die Verbindungen zur EG werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Regierung der DDR würde eine baldige stufenweise Erweiterung der EG begrüßen. Die Schaffung der Einheit Deutschlands ist verbunden mit der Durchsetzung von Menschenrechten. Der neue Patriotismus soll daher Ausdruck dafür sein, daß wir für Grund- und Menschenrechte eintreten. Deshalb werden wir der europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Wir werden auch um die Teilnahme der DDR an den Beratungen des Europarates ersuchen. Bis zur Vereinigung Deutschlands wird die DDR-Regierung über die Ausdehnung der EG auf die heutige DDR verhandeln. Dabei wird es unser Ziel sein, die Festlegung von Fristen bis zur vollen Übernahme der Vertragsverpflichtungen und -rechte zu erreichen. Dies ist besonders wichtig für unsere Landwirtschaft, für das Steuersystem und im Bereich der sozialen und ökologischen Normen. Für die bestehenden Außenhandelsverpflichtungen der DDR, insbesondere mit der Sowjetunion, müssen Lösungen zur Garantie der Vertragstreue der DDR gefunden werden, die vor allem zu einer Stabilisierung und Stärkung der Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa beitragen. Ich möchte dies hier noch einmal ausdrücklich betonen: Unsere Außenhandelsverpflichtungen mit der Sowjetunion werden strikt eingehalten und im Sinne der Vertragstreue in ein geeintes Deutschland einfließen. Ein vereintes Europa muß Friedens- und Verständigungsprozesse in der Welt fördern. Ein geeignetes Mittel dafür sind die Beratungen im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Wir werden den Antrag stellen, an diesen Beratungen teilzunehmen. Wir wollen zu einem Friedensprozeß im Nahen Osten beitragen, der das Selbstbestimmungsrecht aller dort lebenden Völker achtet. Die Beendigung des Ost-West-Konfliktes macht sichtbare Fortschritte. Dies verpflichtet uns, dem Nord-Süd-Konflikt unsere volle Aufmerksamkeit zu widmen. Sicher haben wir Probleme, aber sie sind klein im Vergleich zu den Sorgen und Nöten der Menschen in den Entwicklungsländern. Wir fühlen uns solidarisch mit den Menschen in der Dritten Welt und hoffen auf ein partnerschaftliches Miteinander. Gerade nach den hinter uns liegenden Ereignissen ist es für uns von besonderer Bedeutung, die Botschaft von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie auch in den Ländern zu unterstützen, mit denen wir schon bisher zusammengearbeitet haben. Daher haben für uns wirtschaftliche, medizinische und soziale Projekte den Vorrang. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der DDR wird sich überall auf der Welt in einer zunehmenden Kooperation mit ähnlichen Projekten und Stellen der Bundesrepublik Deutschland entwickeln. Parallel zum Vereinigungsprozeß der beiden Staaten in Deutschland wird es zu einer Verschmelzung des deutsch-deutschen Engagements in den Ländern der Dritten Welt kommen. Unser Ziel muß langfristig eine gerechte Weltwirtschaftsordnung sein, die allen Menschen eine wirtschaftliche Zukunft und eine soziale Perspektive gibt. Meine Damen und Herren! Das Programm dieser Regierung der demokratischen Mitte ist anspruchsvoll. Wir wissen, daß wir einen mühsamen Weg vor uns haben. Keine Regierung kann Wunder vollbringen, aber wir werden das Mögliche mit aller Kraft anstreben. Wenn wir das uns Mögliche erkennen und mit Nüchternheit und Umsicht Schritt für Schritt verwirklichen, dann können wir die Grundlagen für eine bessere Zukunft der Menschen in unserem Land legen. Wir bauen dabei auf die Unterstützung, den Mut und die Tatkraft aller Bürger.