Gorbatschow 12.06.1989 Ansprache beim Abendessen zu seinen Ehren bei seinem Besuch Bonn-Bad Godesberg - im Wortlaut Sehr geehrter Her Bundeskanzler, sehr verehrte Frau Kohl, meine Damen und Herren, Genossen! Wir sind zu Ihnen praktisch direkt vom Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR gekommen, vom Ereignis, das vor Augen der ganzen Welt mit beispielloser Offenheit Dimensionen der Perestrojka in unserem Lande offengelegt hat. Der Kongreß ist der größte Meilenstein in der Geschichte der Perestrojka. Als solcher wird er für immer im Gedächtnis des Volkes eingeprägt sein. Ja, die Perestrojka ist unsere interne Angelegenheit. Wir kapseln uns aber von der Weltgemeinschaft, von Problemen und Entwicklungen, die das Antlitz der Zivilisation des XXI. Jahrhunderts prägen, nicht ab. Im Gegenteil, wir betrachten die Perestrojka als einen Bestandteil der zunehmenden Demokratisierung der Weltordnung. Wir öffnen uns der Welt und rechnen damit, daß auch die Welt darauf mit Gegenseitigkeit antwortet. Dies ist meines Erachtens die festeste und zuverlässigste Grundlage für internationale Zusammenarbeit im Interesse des Überlebens der Menschheit und ihres Fortschrittes. Der Volksdeputiertenkongreß hat Grundlagen und Prinzipien der Außenpolitik des Sowjetstaates im Einklang mit dem neuen politischen Denken gesetzlich festgelegt und die Außenpolitik unter Kontrolle des Volkes gestellt. Dadurch haben wir uns, unseren Verbündeten sowie allen, mit denen wir es auf dem Schauplatz des internationalen Geschehens zu tun haben, eine Garantie ausgestellt, daß unser außenpolitischer Kurs berechenbar, klar, auf Frieden und Zusammenarbeit ausgerichtet sein wird. Wir sind gewillt, den Ideen-, Menschen- und Erfahrungsaustausch mit allen Mitteln auszubauen, wir sind bereit zu Kontakten auf allen Ebenen und in allen Sphären mit allen Staaten - fernen und nahe liegenden, großen und kleinen. Das betrifft in vollem Maße die Bundesrepublik Deutschland, mit der wir unsere Beziehungen aufrichtig ausbauen und vertiefen, mit neuen Ideen und konkreten Tatsachen bereichern wollen. In diesem Geiste sprachen wir mit Ihnen, Herr Kohl, früher in Moskau. Und nun bestätige ich erneut eben ein solches Herangehen. Meine Damen und Herren, wir sind zu Ihnen kurz nach dem gekommen, als der NATO-Rat eine Deklaration in Brüssel verabschiedete, in der Politik dieses Bündnisses für die Gegenwart und auf die Perspektive festgelegt ist. Einen Bestandteil der Deklaration bilden die Vorschläge des Präsidenten G. Bush zur Reduzierung der Rüstungen und der Streitkräfte in Europa, die eine Antwort auf die neue große Initiative von uns und von unseren Verbündeten im Warschauer Vertrag darstellen. In diesem Dokument sind Zeichen der Zeit sichtbar, obgleich es sowohl im Text, als auch zwischen den Zeilen noch vieles an Zielsetzungen und Herangehensmethoden gibt, die von der Periode der Konfrontation geerbt sind, die aber - es sei erwähnungswert - bei direkten Kontakten auf höchster und anderer Ebenen zwischen den Vertretern sozialistischer und kapitalistischer Staaten fast völlig verschwunden sind. Was die Probleme der Abrüstung angeht, so stellen wir mit Genugtuung fest, daß sich die Vereinigten Staaten und die NATO endlich mit der Reduzierung des Personalbestandes der Truppen in Europa einverstanden erklärt haben. Ermutigend ist die Tatsache, daß man die Bereitschaft an den Tag gelegt hat, Rüstungsreduzierungen auch auf eigene Offensivmittel auszudehnen, und dies nicht nur von uns zu verlangen. Wir haben auch den Umstand zu schätzen gewußt, daß man einen Teil unseres Vorschlages hinsichtlich der Verhandlungen über taktische Nuklearwaffen akzeptiert hat, obwohl die dabei aufgestellten Bedingungen aufhorchen lassen. Wir sind auch darauf aufmerksam geworden, daß unsere große Abrüstungsinitiative zum ersten Male nicht auf Verdacht und Kritik aus dem Stegreif, sondern auf eine seriöse und konkrete Antwort gestoßen ist. Das bedeutet, daß sich die Einsicht darin vertieft, daß es nun an der Zeit ist, den Prozeß rückläufig zu machen, in dessen Ergebnis Europa zu einer am meisten militarisierten, mit Rüstungen und Streitkräften überfüllten Region der Welt geworden ist. Es gibt nun mehr Grund anzunehmen, daß eine Einigung in Wien wesentlich schneller, als früher erwartet, erreicht werden kann. Wir wissen die Position der Regierung der Bundesrepublik Deutschland gebührend zu schätzen, die zum Zustandekommen der in Brüssel gefaßten Beschlüsse beigetragen hat, die unseren Vorschlägen und einseitigen Maßnahmen entgegenkommen. Unbestreitbar sind Verdienste unserer Verbündeten, befreundeter Staaten, darunter der Deutschen Demokratischen Republik in der Schaffung der Voraussetzungen für eine Wende in der europäischen Entwicklung. Das für die DDR bezeichnende Bewußtsein der Sonderverantwortung für die Geschicke der Welt und des Fortschrittes ist ein stabiler und zunehmender Faktor des Helsinki-Prozesses. Die Brüsseler Deklaration läßt selbstverständlich einige Fragen offen, die einer Klärung bedürfen. Es ist hier nicht angebracht, ins Detail einzugehen. Wir haben vor, die NATO-Gegenvorschläge mit unseren Verbündeten auf der bevorstehenden Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages zu erörtern. Aber schon jetzt kann ich nicht unerwähnt lassen, was uns besonders Sorge bereitet. Das ist das Bestreben, die Politik der nuklearen Eindämmung und dadurch auch die nukleare Gefahr zu verewigen. Eine Friedensordnung in Europa bedarf keiner nuklearen Eindämmung, sondern einer Eindämmung oder noch besser einer Eliminierung der nuklearen Waffen. Die Frage über die vollständige Beseitigung der taktischen Nuklearmittel darf nicht von der Tagesordnung gestrichen werden. Wir sind überzeugt: es besteht kein Grund, die Verhandlungen über die taktischen Nuklearwaffen aufzuschieben. In einer neuen Atmosphäre, die bereits zur Realität der internationalen Beziehungen geworden ist, erscheinen uns Argumente bei weitem nicht überzeugend, die unseren Vorschlag über parallel laufende Verhandlungen über diese Waffen und konventionelle Rüstungen ausschlagen. Das würde zur schnellsten Überwindung des militärischen Gegenüberstehens in Europa beitragen, welches schon heute zu einem Anachronismus geworden ist, zur Reduzierung von Militärpotentialen der Blöcke und Staaten bis zum Niveau der defensiven Hinlänglichkeit. Darin besteht eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Realisierung der Idee des gemeinsamen Europäischen Hauses. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich glaube, wir alle begreifen, welch großen Einfluß der Stand der sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungen auf die Lage in Europa und über seine Grenzen hinaus, ja auf die gesamte internationale Situation ausübt. Das ist eine offensichtliche Tatsache, die sowohl durch die Geschichte, als auch durch die Ereignisse letzter Jahre bestätigt wurde. Die Tragödie, die unsere Völker und die ganze Welt im Ergebnis des vom Nazi-Deutschland entfesselten Krieges erlebt hatten, veranlaßt uns, in Verbeugung unserer Häupter im Andenken an die Kriegsopfer daraus eine Lehre zu ziehen. Und die Hauptlehre besteht darin, daß in zwischenstaatlichen Beziehungen Ideen des gegenseitigen Respekts, der Gleichheit, unbedingter Anerkennung freier Wahl den Vorrang haben sollten. Die Übereinstimmung in diesem Hauptsächlichen hat uns erlaubt, die Frage über eine neue Seite in den sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungen aufzuwerten. In Moskau, Herr Bundeskanzler, hatten wir den gegenseitigen Wunsch zum Ausdruck gebracht, ihnen einen qualitativ anderen Charakter zu verleihen. Heute können wir bereits feststellen, daß wir begonnen haben, die ersten Seiten eines "neuen Kapitels" in unseren Beziehungen umzublättern. Wir ziehen den Strich unter der Nachkriegsperiode. Und das, unseres Erachtens, wird jedem von unseren beiden Ländern ermöglichen, noch einen, entscheidenden Schritt aufeinanderzu zu machen. Eben in einem solchen Kontext betrachte ich das Gemeinsame politische Dokument, das wir mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, morgen unterschreiben werden. Seinen Wert sehe ich vor allem darin, daß wir in diesem Dokument die Ideen und Auffassungen des Moskauer Vertrages wesentlich weiterentwickeln. Das ist wohl das erste Dokument von einem solchen Charakter und einer solchen Dimension, in welchem sich zwei große europäische Staaten, die zu den unterschiedlichen Systemen und Bündnissen angehören, Mühe gegeben haben, sich philosophisch über den Sinn des zur Zeit von der Weltgemeinschaft erlebten Augenblickes Gedanken zu machen und gemeinsam die Ziele ihrer Politik darzulegen. Das Dokument verlangt weder von Ihnen, noch von uns, auf jeweilige Identität zu verzichten beziehungsweise unsere Bündnisbeziehungen aufzulockern. Ich bin im Gegenteil sicher: das Einhalten dieses Dokuments in unserer Politik wird dazu dienen, den Beitrag jedes von unseren beiden Staaten zum Aufbau europäischer Friedensordnung, sowie zur Herausbildung eines europäischen Bewußtseins zu verstärken. Nach Ihrem Besuch in Moskau haben die Vertreter beider Seiten ihre Kontakte bedeutend intensiviert und sind über bemerkenswerte Projekte der Kooperation vor allem auf dem wirtschaftlichen Gebiet übereingekommen. In diesen Tagen wird diese Arbeit, von der wir praktische Ergebnisse erwarten, fortgesetzt. Wir haben den Kurs auf ein besseres und umfassenderes gegenseitiges Kennenlernen unserer Völker genommen. Dazu dienen zunehmend lebhafte und vielfältige Kontakte zwischen unseren Menschen. Mögen sie Bekanntschaften machen, voneinander lernen, alles Wertvolle und Gute austauschen, was jeder besitzt. Das gilt für unsere Schüler und Studenten, Arbeiter, Bauern und Ingenieure, unsere Geschäftsleute und Kulturschaffenden, Wissenschaftler und gesellschaftlichen Persönlichkeiten. Und sie sind eben das Volk im weitesten und wahrsten Sinne des Wortes. Eben damit wollen wir ein "neues Kapitel" ausfüllen, eben, damit rechnen wir, indem wir eine neue, echt friedliche Etappe in unseren Beziehungen näher bringen. Und noch ein Punkt. Eine lebenswichtige Bedeutung haben für die ganze Welt, für Europa aber insbesondere, die ökologischen Probleme gewonnen. Man kennt, erörtert und verwirklicht bedeutende Vorhaben von internationalem Ausmaß. Mit interessanten Vorschlägen in dieser Hinsicht sind Staatspräsident Mitterrand, sowie Vertreter der SPD und der Grünen, anderer Parteien und Bewegungen aufgetreten. Ich bin der Auffassung, daß das Einbeziehen der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland in den gesamten Rahmen der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet von einer großen Bedeutung sein würde. Ich möchte beispielsweise vorschlagen, folgende Ideen sorgfältig zu prüfen: - über gemeinsame Unternehmungen zur Herstellung von Reinigungsanlagen, von Abfallverarbeitungsanlagen; - über ein System des Erfahrungsaustausches in der Umweltpolitik zwischen Gebieten und Städten der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland; - über gemeinsame Forschungsvorhaben zur Entwicklung umweltfreundlicher Technologien in den für die Umwelt am meisten gefährlichen Industriebranchen und in der Landwirtschaft; - über die Organisation einer dringenden gegenseitigen ökologischen Hilfeleistung im Falle von Naturkatastrophen oder Betriebsunfällen großen Ausmaßes; - über die Bildung einer bilateralen Arbeitsgruppe der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland (die in der Perspektive multilateral werden könnte) zur Gestaltung gesamteuropäischer Umweltpolitik. Meine Damen und Herren, in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland gibt es spezifische Schwierigkeiten, die in den Beziehungen zwischen der UdSSR und anderen westeuropäischem Staaten fehlen. Man kann aber offenbar davon ausgehen, daß wir mit Ihnen einen ausreichend hohen Grad an Verständigung erreicht haben und begreifen, daß es in beiderseitigen Interessen und im Interesse von Europa insgesamt liegt, die vorhandenen Schwierigkeiten nicht zu vertiefen und die Lösung jener oder anderer gemeinsamen Aufgaben nicht in die Richtung von Sackgassen verleiten zu lassen. Wir nehmen also den Kurs darauf, daß es unseren Beziehungen von nun an und für immer Stabilität und Dynamik, moderner Inhalt und stabiles Vertrauen eigen sein sollten. Ich wünsche Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Frau Kohl, Gesundheit und viel Erfolg, dem Volk der Bundesrepublik Deutschland Wohlergehen und Gedeihen! Auf die zunehmende gegenseitige Verständigung und Weiterentwicklung fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland zum Wohle des europäischen und des Weltfriedens!