Strauß 11.09.1987 Ansprache beim Mittagessen zu Ehren Honeckers in München - Auszug im Wortlaut ... Mit Ihrem heutigen Besuch haben Sie, Herr Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär, Ihre Absicht verwirklicht, die Sie bei unserem Gespräch anläßlich der Leipziger Frühjahrsmesse am 15. März angekündigt haben. Damit konnten wir heute die von Realismus getragenen, der Unterschiede und Gegensätze ebenso wie der Gemeinsamkeiten und Abhängigkeiten bewußten Gespräche fortführen, die wir am 24. Juli 1983 am Werbellinsee begonnen haben. Weil diese Gespräche mit Augenmaß und Verantwortungsbewußtsein, ohne Pathos und Selbsttäuschung geführt worden sind, haben sie, wo es möglich war, gute Ergebnisse gezeitigt. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern einerseits und der Deutschen Demokratischen Republik andererseits hat sich seit 1983 eine sachbezogene Zusammenarbeit entwickelt, an der ich gerne mitgewirkt habe und weiterhin mitwirken werde. Wir kennen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den beiden Staaten und die zum Teil unvereinbaren unterschiedlichen Rechtspositionen. Wir wissen, wo die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten für politisches Handeln liegen. Diese Möglichkeiten wollen wir im Interesse der Menschen und im Dienste am Frieden nutzen. Wir betreiben auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und Vereinbarungen eine Politik, die berechenbar und glaubwürdig ist, die auf Entspannung und gute Nachbarschaft hinzielt. Als Ergebnis dieser Politik konnten seit 1983 Fortschritte erreicht werden, die den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik nützen und die wir anerkennen. Mit besonderer Genugtuung erfüllt mich, daß in dieser Zeit die Reisemöglichkeiten verbessert wurden. Die Praxis der Grenzabfertigung ist wieder störungsfrei, die Zahl der Reisen hat erfreulich zugenommen. Es ist auch gelungen, viele Problemfälle in der Familienzusammenführung zu lösen. Auch das Verhältnis zwischen uns belastende Einrichtungen an der Grenze wurden gemäß Ihrer Zusage und unserer Absprache beseitigt. Dabei muß ich zugeben, daß Sie in einem wichtigen Fall weitergingen, als Sie anfangs zugesagt hatten. Vor einigen Monaten wurde das Kulturabkommen unterzeichnet. Im Rahmen Ihres Besuchs wurden die Unterschriften unter die Abkommen über Zusammenarbeit im Umweltschutz und im Strahlenschutz sowie über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit gesetzt. Damit wurden die Grundlagen für ein Zusammenwirken auf wichtigen Gebieten gemeinsamer Interessen geschaffen. Aber die Bürger erwarten auch weitere mutige und entschlossene Schritte, die es den Menschen erleichtern, zueinander zu kommen. Es ist ein selbstverständliches menschliches Verlangen, daß Verwandte, Freunde, Bekannte einander besuchen wollen. Es ist ein ebenso verständlicher Wunsch, daß Bewohner der Bundesrepublik Deutschland die großen historischen und kulturellen Stätten von Leipzig und Dresden bis Rostock besuchen und die landschaftlichen Schönheiten vom Thüringer Wald bis zur Mecklenburgischen Küste erleben möchten. In gleicher Weise möchten Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik auch einmal Nürnberg oder München, die Schönheiten des Maintales oder der Alpen kennenlernen. Sie, Herr Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär, haben im Rahmen Ihrer Reise, die heute zu Ende geht, auch einen starken persönlichen Schwerpunkt gesetzt. Sie haben Ihren Geburtsort und die Stätten Ihrer Kindheit und Jugend aufgesucht, sind am Grab Ihrer Eltern gestanden und haben mit Ihrer Schwester gesprochen. Gerne würden wir dies als Zeichen Ihres Verständnisses dafür nehmen, wenn solche Wünsche von unseren Landsleuten diesseits und jenseits von Thüringer- und Frankenwald vorgebracht werden. Ich bin zuversichtlich, daß es auch in Zukunft möglich sein wird, Barrieren abzubauen und zu weiteren Erleichterungen für die Menschen in Deutschland zu gelangen. Ich bin ebenfalls zuversichtlich, daß es möglich sein wird, zahlreiche technische Probleme vom Verkehr bis zum Umweltschutz einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Wie ich heute vormittag schon betont habe, werde ich mich mit aller Kraft und mit allen meinen Möglichkeiten dafür einsetzen. Es muß jedoch um der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit willen auch ausgesprochen werden, daß es Gegensätze gibt, die derzeit nicht überbrückbar sind. Die Bundesrepublik Deutschland hält an den rechtlichen Grundsatzpositionen, die sich aus internationalem und innerstaatlichem Recht ergeben und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag bekräftigt wurden, unverbrüchlich fest, wonach das Deutsche Reich 1945 juristisch nicht untergegangen ist, die deutsche Frage offen bleibt, die Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und für Berlin fortbesteht. Wir bekennen uns zur Präambel des Grundgesetzes, wonach das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das Ziel unserer Politik bleibt es, daß alle Deutschen und alle Völker Europas in freier Selbstbestimmung über ihre Zukunft entscheiden können. Wir wollen die Einheit der deutschen Nation erhalten. Deshalb ist es unser Bestreben, daß die Menschen ungehindert zueinander kommen und miteinander sprechen können. Wir wollen Kommunikation und nicht Abschottung. Tausend Jahre gemeinsame Geschichte und Kultur können auch durch ideologische Schranken nicht ungeschehen gemacht werden. Wir werden deshalb alles tun, damit das Bewußtsein von der Einheit der deutschen Nation bewahrt wird. Die Mauer in Berlin, ein fast vollkommenes Netz von Sperrmaßnahmen, ein Rechtssystem, das den illegalen Grenzübertritt als Verbrechen einstuft - mit der juristischen Folge des Schießbefehls -, der Zwang behördlicher Genehmigung für den Besuch von Eltern, Geschwistern und Verwandten, all das paßt nicht mehr in die neue Phase weltpolitischer Entwicklung, in die wir hoffentlich eingetreten sind. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit Ihre frei gesprochenen Worte, die Sie gestern in Ihrer saarländischen Heimat zweimal geäußert haben, verfolgt. Wir leiten daraus keine utopischen und phantastischen Schlußfolgerungen ab, sehen in Ihren Worten aber hoffnungsvolle Anzeichen für einen besseren Weg in eine gesicherte Zukunft. Angesichts der hoffentlich endgültig feststehenden Tatsache, daß heute in Europa geschichtliche Veränderungen nicht mehr durch Kriege und Revolutionen geschaffen werden können, angesichts der durch Wissenschaft und Technik hervorgerufenen wirtschaftlichen Sachzwänge, angesichts der durch die modernen Medien herbeigeführten immer engeren Informationsmöglichkeiten und der damit auch verbundenen Verständigungsmöglichkeiten können wir annehmen, daß die Bedeutung der Grenze immer mehr in den Hintergrund tritt, daß sie mehr Verwaltungseinheiten abgrenzen als politische Fronten schaffen werden. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde die politische Landschaft Europas entscheidend verändert. Aber der Krieg darf niemals das letzte Wort haben. Wer dem Frieden dienen will, kann sich nicht ewig auf die Ergebnisse von Kriegen berufen. Freiheit nach innen, Friede nach außen schaffen Vertrauen, das auch die Frage der Abrüstung lösbar macht. Ich habe immer wieder betont und weise auch bei dieser Gelegenheit mit allem Nachdruck darauf hin: Eine europäische Friedensordnung des Rechtes und der Freiheit kann nur mit friedlichen Mitteln geschaffen werden. Aufgrund der historischen Erfahrungen und angesichts der Zerstörungskraft moderner, auch konventioneller Waffen scheidet Krieg als Mittel zur Lösung politischer Meinungsverschiedenheiten aus. Ein Krieg darf in Europa nicht mehr denkbar, nicht mehr kalkulierbar, nicht mehr führbar erscheinen. Deshalb ist und bleibt es auch Ziel unserer Abrüstungspolitik, nicht die Folgen eines Krieges zu begrenzen, sondern Kriege überhaupt unmöglich zu machen. Die Absage an den Krieg als Mittel der Politik ist für uns eine Selbstverständlichkeit, die wir nicht ununterbrochen aufs neue beschwören müssen und die von niemanden in der Welt in Zweifel gezogen werden sollte. Eine dauerhafte Friedensordnung kann aber nur zustandekommen, wenn über Abrüstungsvereinbarungen hinaus die Ursachen von Spannungen abgebaut werden. Wenn es gelingt, dieses Ziel zu erreichen, lösen sich alle Rüstungs- und Abrüstungsprobleme von selbst. Dann ist ein Dialog möglich, der weit über militärische Fragen hinausgeht und das gesamte Spektrum der politischen Probleme einschließlich der wissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit einbezieht. ...