Eppler 09.07.1973 Rede Alternativen für eine humane Gesellschaft Evangelische Akademie Tutzing - im Wortlaut Vor knapp 15 Monaten hat sich auf Einladung Otto Brenners ein Kongreß der IG Metall in Oberhausen mit dem Thema Lebensqualität beschäftigt. Daß der Begriff Lebensqualität sich seither mit ungeahnter Geschwindigkeit durchsetzte, zeigt, daß er weniger Ursache als Ausdruck eines neuen Denkens ist. Niemand kann heute sagen, ob der Begriff Lebensqualität mehr Bewußtseinsveränderung signalisiert oder bewirkt hat. Noch ehe er eindeutig definiert war, liefen in ihm Einsichten zusammen, deren Zeit reif geworden war: - daß wirtschaftliches Wachstum kein Maßstab für die Humanisierung einer Gesellschaft sein kann, - daß die Fortschreibung bestehender Wachstumstrends keine humane Zukunft mehr ergibt, - daß wir daher gezwungen sind, neue Maßstäbe und Ziele zu suchen. Eben weil dieser Begriff dies alles signalisierte, hat er seine eigene Dynamik entfaltet. Ein Begriff ist politisch soviel wert, wie er bewirkt. Nie hat jemand den Begriff "Glück" zufriedenstellend definieren können, und doch hat er ganze Klassen und Generationen in Bewegung gesetzt. Der Begriff Lebensqualität war zuerst einmal ein Postulat: Wenn Wirtschaftswachstum kein Maßstab für humanen Fortschritt ist, dann muß ein neuer Maßstab gesucht werden. Wir nennen ihn Lebensqualität. Daß schon das Suchen danach vieles in Bewegung brachte, enthebt uns nicht der Pflicht zu sagen, was damit positiv gemeint ist, wie dieser Begriff anwendbar, operational, in politisches Handeln übersetzbar wird. Dabei stehen wir vor einer doppelten Frage: 1. Wie soll Lebensqualität inhaltlich definiert werden? 2. Auf welchem Wege und durch wen soll sie definiert werden? Wenn wir Freiheit und Teilhabe an Entscheidungen für einen Bestandteil von Lebensqualität halten, dann ist die Methode, wie wir Lebensqualität bestimmen, schon ein Bestandteil von Lebensqualität. Anders gesagt: Der demokratische Prozeß zur Findung und Durchsetzung von Lebensqualität ist Ausübung von Lebensqualität. Umgekehrt: Wo immer Lebensqualität elitär ermittelt und autoritär durchgesetzt werden soll, wird sie im Ansatz zerstört. II. Ich möchte schon an dieser Stelle warnen vor einem Abweg der Diskussion. Es ist ein Kurzschluß, im Namen der Lebensqualität das Nullwachstum zu fordern. Das Bruttosozialprodukt ist ein klar, aber willkürlich definierter Begriff. Man kann sehr wohl fragen, warum das Gemetzel auf unseren Straßen das Bruttosozialprodukt erhöht und also Wachstum bewirkt. Das ist zwar kurios, aber solange kein Argument, wie wir Wachstum als statistische Feststellung, nicht als Wertmaßstab verstehen. Daß der Bau einer Kläranlage zum Wachstum beiträgt, nicht aber das Produkt dieser Kläranlage, der etwas weniger schmutzige Fluß, mag eine weitere Kuriosität sein, zeigt aber nur, daß in die Rechnung nur eingeht, was einen bezifferbaren Preis hat. Wenn ein Betrieb mit weniger Arbeitnehmern dieselbe Gütermenge erzeugt, die andern für Dienstleistungen im Erziehungs- oder Gesundheitswesen freigesetzt werden, ist dies statistisch auch Wachstum. Kurz, Wachstum, wie es heute definiert wird, besteht aus den verschiedensten Komponenten. Wer gegen das herkömmlich definierte Wachstum kämpft, tut diesem Begriff zuviel Ehre an. Statistische Zahlen nimmt man zur Kenntnis, man kämpft nicht dafür oder dagegen. Wer Verhinderung wirtschaftlichen Wachstums zum politischen Ziel erhebt, erweist sich als Gefangener eines Denkens, das nicht dadurch fruchtbarer wird, daß man es mit negativem Vorzeichen versieht. Es kommt darauf an, daß wir im Begriff der Lebensqualität einen Maßstab erhalten, von dem aus entschieden werden kann, was ökonomisch sinnvoll ist, wo wir Wachstum wollen, wo nicht. Während bisher Lebensqualität im Guten wie im Bösen eine Funktion des Wachstums war, muß jetzt Wachstum zu einer Funktion der Lebensqualität werden. III. Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, Lebensqualität genauer zu definieren. Die Ausfüllung des Begriffs Lebensqualität geht in vier Phasen vor sich. 1. Die negative Definition. 2. Die positive politische Formel. 3. Die Quantifizierung durch Kennziffern. 4. Die Wertung und Gewichtung der Kennziffern. Zuerst konnten wir nur sagen, was Lebensqualität mindert, also negativ beschreiben. Wo es an frischer Luft, sauberem Wasser, unvergifteten Lebensmitteln fehlt, leidet die Qualität des Lebens. Daß dies nicht ausreicht, ergab sich sofort, als der Begriff - übrigens nicht auf meinen Wunsch - in das Dortmunder Wahlprogramm der SPD einging. Dort findet sich ein Passus, über den wir viele Wochen diskutiert haben. Dieser Versuch, Lebensqualität politisch zu definieren, markiert die zweite Phase. Er lautet: "Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität setzt Freiheit voraus, auch Freiheit von Angst. Sie ist Sicherheit durch menschliche Solidarität, die Chance zur Mitbestimmung und Selbstverwirklichung zum sinnvollen Gebrauch der eigenen Kräfte in Arbeit, Spiel und Zusammenleben, zur Teilhabe an der Natur und den Werten der Kultur, die Chance, gesund zu bleiben oder zu werden. Lebensqualität meint Bereicherung unseres Lebens über den materiellen Konsum hinaus. Die Verantwortung für die Qualität seines Lebens kann niemandem abgenommen werden. Aber es liegt in der Verantwortung der Politik, positive Bedingungen für die Lebensqualität zu schaffen." Dies ist eine politische Definition, und, wie jede Definition dieser Art, auch eine ideologische. Damit sind für unsere Gesellschaft Richtpunkte gesetzt, die wichtig werden in der dritten Phase, in der wir heute stehen. In dieser dritten Phase wird versucht, Indikatoren, Kennziffern für Lebensqualität zusammenzustellen. So schwierig es ist, Qualitäten meßbar zu machen, so fragwürdig alle Ergebnisse bleiben müssen, so unerläßlich ist der Versuch. Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kennziffern hat schon seit 1965 Jan Drewnowski von UNRISD (United Nations Research Institute for Social Development) geleistet. Er entschied sich zuerst für ein System nichtmonetärer Indikatoren, mit denen er die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse messen wollte. Seine Arbeit war Grundlage des japanischen "Weißbuchs zum Lebensstandard", das schon 1969 erschien. Dort arbeiten die Japaner mit 35 Indikatoren, die alle wichtigen Lebensbereiche abdecken sollen, und sie teilen diese 35 Indikatoren auf in 13 Gruppen, sieben für das, was sie den "individuellen", sechs für das, was sie den "sozialen" Lebensstandard nennen. Das geht vom Eiweißverbrauch pro Kopf über die Lebenserwartung, den Anteil der Studenten an der Bevölkerung bis zur Zahl der Unfalltoten und der Quadratmeterzahl der Grünanlagen pro Kopf der Bevölkerung. Im Mai dieses Jahres haben zwei junge deutsche Nationalökonomen, Hauser und Lörcher, den japanischen Ansatz für die deutschen Verhältnisse leicht abgewandelt und ihn mit der gängigen Bruttosozialprodukt-Rechnung verglichen. Dabei ergab sich zum Beispiel, daß der Abstand zwischen der Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts und des durch Kennziffern definierten "Lebensstandards" - wir würden hier also von Lebensqualität sprechen - immer größer wird. Bedeuteten von 1955 bis 1960 10 Prozent Wachstum des Bruttosozialprodukts noch 7,4 Prozent mehr "Lebensstandard", so waren es 1960-1965 noch 5,8 Prozent, 1965-1970 noch 4,7 Prozent. Das heißt, auch wenn man überwiegend materielle Kriterien nimmt, so nähert sich der Vorteil, den der einzelne vom Wachstum des Bruttosozialprodukts hat, rasch der Nullgrenze. An diesem Punkt setzen jetzt übrigens die Forscher des Starnberger Instituts an. Sie wollen herausfinden, ob es einen Punkt gibt, an dem das herkömmlich definierte Wirtschaftswachstum völlig absorbiert wird durch den sozialen Aufwand, der zu seiner Bewältigung nötig ist. Sollte dies gelingen, so wäre das von eminenter Bedeutung, nicht nur für die Neuformulierung des Langzeitprogramms der SPD. Ich habe Ihnen diesen knappen Einblick in die wissenschaftliche Diskussion zugemutet, um zu zeigen, daß heute mit Energie und Erfolg an den verschiedensten, hier meist nicht erwähnten Stellen über Kennziffern gearbeitet wird, daß der Begriff Lebensqualität auch von daher Konturen annimmt. Bisher kenne ich allerdings kein System von Indikatoren, das auch nur einigermaßen die Lebensqualität bestimmen könnte, die in der Dortmunder Formel anvisiert wird. Aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß dies unmöglich sein sollte. Daher möchte ich mir noch zwei Anregungen für diese Arbeit erlauben: Mich interessieren weniger die sogenannten Input- als die Output-Kennziffern. Mich interessiert weniger die Zahl der Ärzte pro 1000 Einwohner als der Gesundheitszustand der Menschen. Mich interessiert erst recht nicht die Zahl der Rechtsanwälte pro 1000 Einwohner, sondern die Frage, welcher Anteil der Bürger glaubt, man könne in diesem Staat sein Recht finden. Ich habe auch meine Zweifel, ob die sogenannten "objektiven" Kennziffern, die man durch die Statistik gewinnt, ausreichen. Ist die Zahl der Telefone pro tausend Einwohner wirklich das Maß der Kommunikation in einer Gesellschaft? Mich würde interessieren, welcher Teil unserer alten Menschen sich überflüssig oder gar ausgestoßen vorkommt, welcher Teil unserer Kinder nur mit Widerwillen zur Schule geht und bei wievielen sich dieser Widerwille bis zur Neurose steigert. Und vor allem muß der Politiker wissen, was dem einzelnen seine Arbeit bedeutet, warum sie ihm Last, Langeweile, Ekel oder Freude bereitet. Für all dies gibt es das Instrument der Meinungsumfragen. Was da ein Team von Wissenschaftlern für das amerikanische Gesundheitsministerium herausgefunden hat (Work in America), trifft bei uns auf eine immer heftigere Diskussion um die Humanisierung des Arbeitslebens. Daß die Aufteilung der Arbeit in einzelne, bis zum Überdruß wiederholte Handgriffe etwas mit Lebensqualität zu tun hat, hat unsere Gesellschaft allzulange verdrängt. Jetzt müssen wir wieder lernen, daß die Qualität des Lebens mit der Qualität der Arbeit beginnt, daß zur Qualität der Arbeit das Mitdenken, Mitentscheiden gehört. Wir werden nachzudenken haben über das Wort Hegels, daß der Mensch sich durch seine Arbeit selbst produziere, und über die These von Marx, daß sich an der Arbeit die Entfremdung des Menschen ebenso entscheide wie ihre Aufhebung. Hier liegt ein Schwerpunkt für die künftige Arbeit. Die schwierigste Phase der Begriffsbestimmung wird die vierte sein. In dieser Phase wird es darauf ankommen, aus den nahezu beliebig vielen Kennziffern die wichtigsten auszuwählen und ihnen ihren Stellenwert zuzumessen. Wo gewichtet wird, ist immer ein Element der Entscheidung, der Wertung, der Ideologie im Spiel. Wissenschaftler werden von einem Element der Willkür sprechen. Hier beginnt die politische Aufgabe. Wer von der Dortmunder Formel ausgeht mit ihren Stichworten Freiheit, Solidarität, Selbstbestimmung, Teilhabe an Natur und Kultur, sinnvoller Gebrauch der eigenen Kräfte in Arbeit, Spiel und Zusammenleben, wird zu anderen Wertungen kommen als jemand, der, wie Franz-Josef Strauß, Lebensqualität auf jene beiden Vokabeln reduziert, die seit 100 Jahren dem deutschen Besitzbürger teuer sind: Besitz und Bildung. An dieser Stelle muß und wird gestritten werden. Das wird dazu führen, daß für den Bürger die Wertsysteme ihrer Politiker besser erkennbar werden. Vieles, was bislang als ideologisches Vorurteil unbewußt praktiziert wurde, muß reflektiert und erklärt werden. IV. Dabei wird auch der Begriff der Leistung und der Leistungsgesellschaft neu durchdacht werden müssen. Es ist ja etwas komisch, wenn erwachsene Menschen sich darüber streiten, ob sie für oder gegen Leistung seien. Mir ist der Begriff der Leistungsgesellschaft zum erstenmal begegnet in einer Rede von Fritz Erler vor gut zehn Jahren. Erler gebrauchte ihn als Gegensatz zu einer Gesellschaft der Privilegierten. Nicht Vorrechte, Geld, Beziehungen sollten zählen, sondern die Leistung. Das ist auch heute noch nicht überholt. Wer gegen die Leistung als Maßstab ist, muß dann auch sagen, welches der bessere Maßstab sein soll. Wenn ich richtig sehe, ist das Leistungsprinzip bei uns vor allem aus zwei Gründen ins Gerede gekommen: einmal durch den an einigen Stellen wachsenden Leistungsdruck, zum anderen durch einen mehr als fragwürdigen Leistungsbegriff. In einer Gesellschaft, in der wirtschaftliches Wachstum Norm und Ziel ist, wird Leistung primär daran gemessen, was sie zur Produktion beiträgt, zum Wachstum. Viele hier erinnern sich an die Begründung, die noch vor wenigen Jahren von den Bildungspolitikern für ihre Forderungen gegeben wurde: nur mehr Bildung könne das Wirtschaftswachstum garantieren. Und von da ist es nur ein Schritt zu der These, die Bildung sei um so wertvoller, je mehr sie zum Wachstum beitrage. Auch hier müssen wir eine Wende vollziehen: Wachstum ist um so wertvoller, je mehr es der geistigen und ästhetischen Bereicherung der Gesellschaft dient. Der Leistungsbegriff einer Gesellschaft läßt sich am leichtesten ablesen an ihren Gehalts- und Einkommensstrukturen. Wenn ich einen Geschäftsführer suche für eine Institution, die Privatinvestitionen steuern soll, dann muß ich dafür etwa das Dreifache dessen rechnen, was ein Geschäftsführer beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) bekommt. Warum eigentlich? Einfach, weil sich der eine überwiegend mit dem sachgemäßen Einsatz von Geld, der andere überwiegend mit dem sachgemäßen Einsatz von Menschen zu beschäftigen hat. In einer Gesellschaft, die sich Wachstum zum Ziel gesetzt hat, werden im allgemeinen die Leistungen unterbewertet, die unmittelbar mit Menschen zu tun haben. Man überläßt sie gerne den Frauen, die ohnehin mit wenig zufrieden sind: der Krankenschwester, der Verkäuferin, der Köchin, der Lehrerin, der Arzthelferin, der Kindergärtnerin und vor allem der Hausfrau. Obwohl wir wissen, daß in achtzig Jahren nicht nachzuholen ist, was eine Mutter in den ersten drei Jahren, an ihrem Kind versäumt hat, wird die Leistung einer Mutter nicht honoriert, im Gegenteil, in der Rentenversicherung wird noch im Alter bestraft, wer sich um seine Kinder gekümmert hat. Auch eine Gesellschaft, die nicht auf Wachstum versessen ist, braucht Leistung. In einer Dienstleistungsgesellschaft ist noch unmittelbarer als in der industriellen Produktionsgesellschaft die Leistung des einen die Lebensqualität des andern, das Versagen des einen der Ärger und das Leid des andern. Leistung ist, was das Leben der andern, aber auch das eigene, humaner, erfüllter, freier, solidarischer macht. V. Wo es um Lebensqualität geht, stellt sich die Frage nach der politischen Willensbildung dringlicher als je zuvor, und zwar aus zwei Gründen: Erstens weil die Methode der Bestimmung von Lebensqualität schon ein Bestandteil von Lebensqualität ist. Zweitens weil bei diesem Denkansatz der Problemdruck sichtbar wird, der auf den politischen Entscheidungsträgern, also auf uns allen lastet. Weil mehr als je zuvor politisch zu entscheiden ist, wird es immer wichtiger, wie politisch entschieden wird. Solange wir uns - und das haben wir noch vor wenigen Jahren getan - die Zukunft der Industrieländer vorstellten als Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens in jeweils 7 oder 10 oder 15 Jahren, die Zukunft der Entwicklungsländer als das erfolgreiche Bemühen, Anschluß zu finden bei dieser Reise ins Glück, waren die politischen Entscheidungsmechanismen wenig gefordert. Man war sich im Grunde einig. Wo es darum geht, Lebensqualität zu verbessern, noch mehr, wo es gilt, Gefährdungen der Lebensqualität zu begegnen, brechen Konflikte auf, die sich mit den herkömmlichen Formen der Willensbildung kaum mehr austragen lassen. Pierre Viansson-Ponte hat in "Le Monde" am 2. April 1971 die Frage gestellt, ob in hochentwickelten Industriegesellschaften Politik noch möglich sei, wenn man unter Politik ein vorausschauendes und planvolles Handeln versteht, das zwischen verschiedenen Alternativen eine rational begründete Auswahl trifft. Obwohl in Frankreich die Vollmachten des Präsidenten weiter reichen und die Mehrheitsverhältnisse klarer sind als in den meisten Industrieländern, kommt Viansson-PontI zu dem Schluß, daß Politik in Frankreich technisch unmöglich geworden sei: "Die Regierung hat ihren Ort am geometrischen Ort der nationalen Widersprüche, der einander entgegengesetzten Pressionen, der Gefährdungen und der Zwangslagen. Sie trifft keine rationale Auswahl und besitzt keine wirkliche Voraussicht, sondern muß sich damit begnügen, standzuhalten und, so gut es geht, zu reagieren." Viansson-Ponte schließt seinen Aufsatz mit der Frage, ob wir noch in diesem Jahrzehnt den Tod der Politik erleben werden. Es stimmt nicht, daß Regierungen immer nur reagieren. Gerade in der Bundesrepublik gäbe es eine Reihe von Gegenbeispielen. Trotzdem: Wenn ich überlege, wieviel Zeit und Kraft die Regierungen, denen ich nun 4 1/2 Jahre lang angehört habe, mit der Reaktion auf internationale Währungskrisen verbracht haben, und wenn ich damit die Zeit vergleiche, die etwa auf Umweltschutz, Gastarbeiter oder Entwicklungshilfe verwendet wurde, dann ahne ich, was Viansson-PontI meint. Aber wenn man heute unsere Bürger fragt, was sie an ihrer Regierung auszusetzen haben, dann ist es eine verschwindende Minderheit, die ihr ankreidet, sie habe vor lauter Stabilitätspolitik entscheidende Zukunftsaufgaben vernachlässigt. Im Gegenteil: die meisten werfen ihr vor, daß es ihr nicht gelungen ist, den deutschen Wagen vom Zug der internationalen Inflation abzuketten. Solange dies so bleibt und solange der jeweilige Finanzminister sich dem Druck einer öffentlichen Meinung ausgesetzt sieht, die an der Zuwachsrate des Bundeshaushalts den Willen zur Stabilität meint ablesen zu sollen, steht der Spielraum für Politik in der Tat in keinem Verhältnis zum Problemdruck. Wer in einem Kabinett sitzt, das sich als handlungsfähiger erwiesen hat als die meisten Regierungen dieser Erde, wer trotzdem jeden Tag niedergedrückt wird von der Einsicht, daß die Entscheidungen dieses Kabinetts weit hinter dem Notwendigen zurückbleiben, der ist geneigt, Klaus Müller recht zu geben, der gegen Ende seines aufrüttelnden Buches (Die präparierte Zeit, 1972) zu dem Ergebnis kommt: "Was eigentlich vom heutigen Menschen gefordert wäre, ist ein solches Übermaß, an planvollem, verantwortlichem Handeln, wie es ein endliches Wesen, das er ist, gar nicht leisten kann. Unter ethischem Aspekt ist es daher unsere Endlichkeit, die in die Krise gelangt ist: Wir haben in einem dreihundert Jahre währenden, weithin blinden Anlauf eine Welt entworfen und gestaltet, deren verantwortliche Steuerung ein Maß an Überblick und Voraussicht erfordert, welches mit der aktuellen Endlichkeit unseres Wissens und Könnens kollidiert." Von hieraus stellt Müller mit Recht die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik: "Die Exekutive krankt heute daran, daß sie a) neue Grundeinsichten zu spät oder gar nicht gewinnt; b) die Fülle der möglichen Alternativen nicht oder zu spät erfährt, weil zu wenig Menschen, die über diese Fragen schon einmal nachgedacht haben, in den Entscheidungsprozeß integriert sind." Ich fürchte, die Sache ist noch komplizierter, als Müller sie sieht. Wer gelegentlich versucht, einem qualifizierten Wissenschaftler Antworten auf politisch relevante Fragen zu entlocken, wird immer wieder enttäuscht sein. Er wird hören, daß man darüber gerade angefangen habe nachzudenken, daß man darüber vielleicht, in ein paar Jahren, möglicherweise aber, niemals Genaues werde sagen können. Der Politiker aber muß heue entscheiden. Was stimmt nicht im Verhältnis von Wissenschaft und Politik? 1. Meist sind Politik und Verwaltung nicht in der Lage, rechtzeitig präzise Fragen an die Wissenschaft zu richten. 2. Die Wissenschaft interessiert sich häufig gar nicht dafür, was für die politische Entscheidung relevant ist, sie gibt häufig auf irrelevante Fragen irrelevante Antworten. 3. Da auch in die wissenschaftliche Arbeit notwendige ideologische Vorurteile und gelegentlich sogar massive Interessen einfließen, ist das Vertrauen des politischen Entscheidungsträgers in wissenschaftliche Unterlagen begrenzt. Was wir brauchen, sind erstens kleine Zirkel, wo Verantwortliche aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft gemeinsam die relevanten Fragen formulieren, und zweitens Wissenschaftler, die bereit sind, abseits von allem Perfektionismus Antworten darauf zu suchen, auch wenn sie dabei Vorbehalte machen und auf mögliche Fehlerquellen hinweisen müssen. Der Graben zwischen Wissenschaft und Politik war immer schon ärgerlich. In Zukunft kann er lebensgefährlich werden. Aber wir leiden ja nicht nur darunter, daß Politiker selten exakt artikulieren, was sie wissen wollen, daß Wissenschaftler oft nicht wissen, was sie wissen sollen, sondern vor allem darunter, daß es zunehmend schwieriger wird, gesicherte Einsichten politisch durchzusetzen. Die Ursache dafür liegt einmal in der Schwerfälligkeit der Apparate. Ein Beispiel: Schon auf dem Steuerparteitag 1971 wurde im Prinzip eine Bodenwertzuwachs teuer beschlossen. Der Parteitag von Hannover hat 1973 diesen Beschluß weiter präzisiert. Diese Steuer setzt aber ein neues Bewertungsrecht voraus. Also wird in dieser Legislaturperiode ein neues Bewertungsgesetz vorbereitet und, wenn alles gut geht, verabschiedet. Dann muß die Steuerverwaltung auf Grund dieses Gesetzes neu bewerten. Das bedeutet, daß diese Steuer, die hier und heute zur Ordnung des Bodenmarktes nötig wäre, frühestens gegen Ende des Jahrzehnts wirksam werden kann. Niemand weiß, ob sie dann noch ein angemessenes Mittel sein wird. Die zweite Ursache liegt im Verhältnis zwischen Politik und öffentlicher Meinung. Eine Regierung kann immer nur einen Schritt vor der öffentlichen Meinung sein, wo sie zwei Schritte voraus ist, gefährdet sie ihre Existenz. Wo es um Lebensqualität geht, sind Konflikte mit mächtigen Interessengruppen unvermeidlich. Um so nötiger sind Initiativen der Bürger selbst. Die Polemik, dem Bürger solle von der Obrigkeit seine Lebensqualität zugeteilt werden, geht weit an der Realität vorbei. Das Gegenteil ist richtig: der Bürger wird die Arbeitswelt, die natürlichen Lebensgrundlagen, die Mitbestimmung haben, die er sich, im Verein mit politischen Kräften, erkämpft. Er wird von keiner Regierung sehr viel mehr bekommen, als er von ihr verlangt. Demokratie heißt heute, den Bürger für die Gemeinschaftsinteressen zu mobilisieren, damit die politischen Entscheidungen nicht hoffnungslos hinter den Erfordernissen dreinhinken. Nicht nur auf der äußersten Linken hören wir die Frage, ob denn die parlamentarische Demokratie mit alldem nicht überfordert sei. Wenn damit eine Demokratie gemeint sein sollte, wo die Bürger alle vier Jahre zur Urne gehen und dann warten, was die Regierung ihnen zu bieten hat, dann ist sie sicher überfordert. Trotzdem ist unsere Verfassungsordnung besser als jede andere geeignet, jenen Austausch von Information, jene Diskussion, jene Mobilisierung von politischem Willen möglich zu machen, ohne die in keinem System das politische Räderwerk auf die Geschwindigkeit zu bringen ist, die dem Problemdruck unserer Zeit entspricht. Ob dabei das imperative Mandat weiterhelfen kann, möchte ich bezweifeln. Ich kann mir nur mit Schaudern den Typus des Mandatsträgers vorstellen, der sich als Briefträger für imperative Mandate zur Verfügung stellt. Was wir brauchen, ist der ständige Dialog zwischen Mandatsträgern und Bevölkerung, es ist die Mobilisierung des Sachverstandes, wo immer er zu finden ist. Wer zum Beispiel sollte besser über die Humanisierung des Arbeitsplatzes mitreden können als der Arbeiter selbst? Und sicher müssen wir die Scheu verlieren vor der Ausnutzung der plebiszitären Möglichkeiten in Ländern und Gemeinden, und wo sie nicht ausreichen, sollten wir neue schaffen. Als Herr Strauß in Reutlingen Demokratisierung und Freiheit als unversöhnliche Gegensätze darstellte, war ich zuerst geneigt, an einen Druckfehler zu glauben. Denn Demokratisierung steht zwar nicht in einem Gegensatz zu Freiheit, wohl aber zur Freiheit all derer, die irgendwo Macht ausüben. Demokratisierung bedeutet zuerst Aktivierung von Energien. Und wer die Gefahr an die Wand malt, die Gewerkschaften könnten im Rahmen der Mitbestimmung die Freiheit bedrohen, vergißt ganz, daß der Demokratisierungsprozeß die Gewerkschaften längst erreicht hat, daß die Gewerkschaften hier ein Apparat wären, der sich von einer Schaltzentrale aus steuern ließ und daß sie dies heute weniger sind als je zuvor. Demokratisierung bedroht nicht, sie garantiert Freiheit, weil sie Freiheitsräume schafft. VI. Sie erwarten von mir eine Antwort auf die Frage, was der Denkansatz Lebensqualität für unsere Wirtschaftsordnung bedeute. Ehe ich sie versuchen will, sehr subjektiv und wohl auch sehr vorläufig, möchte ich etwas zu dem Versuch von Professor Giersch sagen, das Thema Lebensqualität ökonomisch auf den ohnehin fälligen "wachstumsgerechten Strukturwandel" zu reduzieren. Giersch geht, natürlich mit Recht, davon aus, daß Wachstum in hochindustrialisierten Ländern überwiegend im tertiären, im Dienstleistungsbereich stattfinden wird, da wir in den Industrieländern schon zuviel Nahrungsmittel und fast genug industrielle Konsum- und Investitionsgüter erzeugen. Und er hat recht mit der Feststellung, daß wir in Zukunft mehr geistiges Kapital, Bildung und moderne Dienstleistungen konsumieren. Dafür sollen die Entwicklungsländer uns mehr und mehr mit Industriewaren beliefern. So richtig das ist und so wenig es austrägt, wenn ich bezweifle, daß damit die Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern allmählich verschwinden werde: Was bedeutet dies für die Lebensqualität in unserem eigenen Land? Auch wenn es wirklich so kommt, wie sein Institut errechnet hat, daß in der Bundesrepublik bis 1980 200000 bis 500000 Arbeitsplätze durch die Importe aus Entwicklungsländern überflüssig werden, so ändert das nichts an der Zersiedlung unserer Landschaft, am Verkehrschaos in unseren Ballungsräumen, an der Inhumanität unserer Arbeit, an den überfüllten Klassenzimmern, der vergifteten Nahrung, und erst recht nichts am Unbehagen über die Verteilung der Lebens- und auch der Mitbestimmungschancen in unserem Land. Wenn 1 bis 2 Prozent unserer Arbeitsplätze überflüssig werden, fällt dies nicht einmal für die Zuwachsrate des Energiebedarfs fühlbar ins Gewicht. Strukturwandel ist nötig, man muß ihn fördern - aber er ist kein Patentrezept für Lebensqualität. Es geht sicher auch nicht nur um eine Verschiebung von privatem Wohlstand zu öffentlichen Leistungen und Investitionen. Daß Lebensqualität mit Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Turnhallen und öffentlichen Verkehrsmitteln zu tun hat, ist inzwischen den meisten Bürgern einsichtig geworden. In einer Umfrage neuesten Datums wurde gefragt, ob es wichtiger sei, daß der einzelne seinen privaten Wohlstand mehrt oder daß der Staat genügend Geld für Gemeinschaftsleistungen habe. Bei 11 Prozent Enthaltungen sprachen sich 21 Prozent für den privaten Wohlstand 68 Prozent für mehr öffentliche Leistungen aus. Gefragt, ob der Staat nicht besser auf Reformen verzichte, als daß die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt werde, antworteten 54 Prozent mit nein, 27 Prozent mit ja, 19 Prozent enthielten sich. Das sind Zahlen, die wir uns vor drei Jahren noch nicht vorstellen konnten. Die Bürger sind also klüger als manche Politiker, die an ihren Egoismus appellieren. Ich kann mir eine funktionierende Wirtschaft in einem hochindustrialisierten Land nicht vorstellen ohne einen freien Markt, der in weiten Bereichen Angebot und Nachfrage von Gütern über den Preis reguliert. Dies gilt sogar da, wo ein Teil oder gar die Gesamtheit der Produktionsmittel in Gemeineigentum sind. Ich kann mir eine hochspezialisierte Wirtschaft auch nicht vorstellen ohne das, was man im Osten verschämt materielle Interessiertheit, bei uns Gewinn nennt. Eine staatskapitalistische Zentralverwaltungswirtschaft wäre für uns kein Schritt nach vorn, sondern einer zurück. Ich glaube nicht, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln die Freiheit garantiere. Aber es leuchtet mir auch nicht ein, warum das Gemeineigentum an Produktionsmitteln diese segensreiche Wirkung haben sollte. Für beides gibt es keinen historischen Beweis. Hier muß wohl von Fall zu Fall nachgewiesen werden, welche Regelung im Interesse der Gemeinschaft günstiger ist. Wichtiger wird es sein, die Rechte, die aus dem Eigentum, vor allem an Produktionsmitteln und am Boden, fließen, neu, das heißt in manchen Fällen, restriktiver zu formulieren. Es hat immer Bereiche gegeben, in denen marktwirtschaftliche Prinzipien sich als nicht oder nur partiell anwendbar erwiesen, zum Beispiel das Bildungs- oder das Gesundheitswesen. In den letzten Jahren mehren sich die Bereiche, wo Marktwirtschaft nicht mehr funktioniert, wo staatliche Eingriffe unvermeidlich werden. Ich nenne ein paar Beispiele: 1. Grund und Boden Das Gesetz- von Angebot und Nachfrage, auf den Bodenmarkt in Ballungsräumen angewandt, führt, wie wir heute wissen, zur Zerstörung unserer Städte. 2. Energie Es ist abzusehen, daß wir noch in diesem Jahrzehnt in Schwierigkeiten geraten, wenn wir uns an die im Augenblick billigste Energie, das Öl, halten und die Kohleproduktion entsprechend drosseln. Also wird auch hier der staatliche Eingriff, ein wahrscheinlich sehr teurer Eingriff, unerläßlich. 3. Verkehr Wollten wir daran festhalten, daß der Autofahrer für die Wegekosten der Straße, der Eisenbahnbenutzer für die Wegekosten der Bahn aufkommt, so wäre der Augenblick nicht fern, wo die Bahn ihre Tore schließen müßte, während das Chaos auf den Straßen perfekt würde. Schon heute muß der Steuerzahler 7 Milliarden DM aufbringen, damit noch Züge fahren. Der Staat wird die Wettbewerbsbedingungen zwischen Schiene und Straße verändern müssen, und zwar ohne Rücksicht auf Wegekostenberechnungen. 4. Landwirtschaft Daß hier schon lange der Preis nicht von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, bezeugen die irrsinnigen Geschäfte, die nötig sind, damit die Butterberge nicht in den Himmel wachsen. Ich halte es für unmöglich, die Leistung des Landwirts für die Allgemeinheit, die ja nicht nur in der Produktion von Lebensmitteln besteht, auf die Dauer über den Preis seiner Produkte zu honorieren, zumal eine solche Agrarpolitik dazu führen müßte, wesentlich mehr aufzuforsten, als dies unserer Landschaft gut tut. 5. Arzneimittelmarkt Dieser Markt lebt heute davon, daß die Medizin es bisher versäumt hat, eine Teildisziplin aufzubauen, die sich mit dem Gesamtbereich der Nebenwirkungen von Medikamenten befaßt. Sobald dies geschieht - und dies würde die Lebensqualität sicher erhöhen -, wird man den Gesetzgeber tadeln, daß er nicht früher und härter eingegriffen hat. Das wichtigste Beispiel aus meiner Sicht ist unser Verhältnis zu den Entwicklungsländern. Wenn wir darauf beharren wollten, gegenüber der Dritten Welt nur die Gesetze des Marktes gelten zu lassen, so ist der Elendszirkel in diesen Ländern nicht zu durchbrechen. Der ungesteuerte Marktmechanismus hat für uns, die Stärkeren, sehr angenehme, für die Entwicklungsländer, die Schwächeren, verheerende Folgen. Der Schnittpunkt zwischen der Lebensqualität in Entwicklungsländern und bei uns wird übrigens in den nächsten Jahren, für alle spürbar, das Heer der Gastarbeiter sein. Wenn rund um das Mittelmeer, in Schwarzafrika und im Mittleren Osten, die Arbeitslosigkeit im gegenwärtigen Tempo zunimmt, wird auf die Länder der EG ein Druck entstehen, dem wir uns nicht werden entziehen können, es sei denn mit den Methoden des Polizeistaats. Das wird beginnen mit der Türkei, auf deren Wartelisten für die Bundesrepublik heute schon 1,2 Millionen Menschen stehen, die eines nicht allzu fernen Tages, spätestens 1986, auf Freizügigkeit pochen können. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir Deutschland zu einem riesigen Ballungsgebiet machen wollen, das alle Welt mit Exportgütern versorgt. Unsere Lebensqualität wird davon abhängen, wieviel Arbeitsplätze wir in diesen Entwicklungsländern schaffen helfen. Wo wirtschaftliches Wachstum Ziel von Ökonomie und Politik ist, sind Investitionsentscheidungen, bestimmt durch Absatzchancen und Gewinnerwartung. Wo Lebensqualität Ziel politischen Handelns wird, kommen zunehmend andere Kriterien mit ins Spiel: Zersiedlung der Landschaft, Schädigung der Natur, Verkehrsbelastung durch Anfahrt von Arbeitskräften, Belästigung der Anwohner, Belastung der kommunalen Infrastruktur. In anderen Worten: Investitionsentscheidungen werden immer mehr gesellschaftliche Entscheidungen. Daher sollten wir nicht erschrecken vor dem Wort Investitionslenkung: Schließlich war der ruinöse Wettbewerb der Gemeinden um Gewerbesteuer schon eine Art von Investitionslenkung, allerdings eine miserable. Heute sind es Bürgerinitiativen, die auf ihre Weise versuchen, Investitionen zu lenken. Jetzt geht es darum, für gesellschaftliche Entscheidungen auch gesellschaftliche Entscheidungsmechanismen zu schaffen, die den gesellschaftlichen Wert einer Produktion abwägen gegen die gesellschaftlichen Kosten. Niemand hat heute ein Patentrezept für Investitionslenkung. Ich hoffe, die neue Langzeitkommission wird einen ersten Vorschlag machen. VII. Manche von Ihnen sind hierhergekommen, um zu erfahren, ob wir seit Oberhausen weitergekommen sind. Wir sind weitergekommen: 1. Vieles, was in Oberhausen noch revolutionär klang, ist inzwischen selbstverständlich geworden. Lebensqualität ist zum Postulat geworden. 2. Daß Lebensqualität mehr von öffentlichen Leistungen abhängt als von Steigerung des privaten Konsums, wird heute von der Mehrheit der Bevölkerung eingesehen. 3. Lebensqualität kann nicht mehr Funktion von Wirtschaftswachstum sein. Wirtschaftswachstum muß Funktion von Lebensqualität sein. 4. Lebensqualität ist definierbar. Sie ist in Dortmund politisch definiert worden. Verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern bemühen sich um Quantifizierung durch Kennziffern. 5. Die Methode der Bestimmung von Lebensqualität ist schon Bestandteil von Lebensqualität. 6. Definition und Durchsetzung von Lebensqualität erfordert ein konstruktiveres Verhältnis von Wissenschaft und Politik. 7. Wo Lebensqualität zum Programm wird, wird ein Problemdruck sichtbar, der neue Formen politischer Willensbildung nötig. macht. 8. Die Bereiche, die sich nicht mehr marktwirtschaftlich ordnen lassen, werden zahlreicher. Neue Formen der Investitionslenkung müssen erprobt werden. 9. Der Schnittpunkt zwischen Lebensqualität in Industrieländern und Entwicklungsländern, das Gastarbeiterproblem, ist stärker in unser Bewußtsein getreten. 10. Lebensqualität ist nicht möglich ohne Leistung. Beim Leistungsbegriff selbst muß sich der Akzent verlagern auf das, was unmittelbar den Menschen dient. Vielleicht werden Sie sagen, das sei nicht viel. Ich meine, selten hat sich unser Bewußtsein so rasch verändert wie in den letzten 15 Monaten. Der Begriff Lebensqualität ist nicht die Ursache, aber er ist ein Zeichen dafür.