Breschnew 21.05.1973 Fernsehansprache an die Bevölkerung der Bundesrepublik anlässlich seines Besuchs in Bonn - im Wortlaut Sehr geehrte Bürger der Bundesrepublik Deutschland! Es freut mich, daß ich bei meinem ersten Besuch in Ihrem Lande zu Ihnen sprechen kann. Meine Reise hierher auf Einladung des Herrn Bundeskanzlers Brandt, unsere Verhandlungen, all das ist an sich ein Beweis dafür, daß sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern erfolgreich entwickeln. Meine ersten unmittelbaren Kontakte mit Herrn Bundeskanzler Brandt waren mit einem großen Ereignis in der Geschichte der Beziehungen zwischen unseren Ländern und - das kann man mit Recht sagen - in der politischen Entwicklung Europas verbunden. Zum ersten Male haben wir uns 1970 in Moskau aus Anlaß der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik getroffen. Mit ihrer Unterschrift unter einem Dokument, in dem realistische Anerkennung der gegenwärtigen Lage in Europa enthalten ist, und nach Übernahme einer feierlichen Verpflichtung, gegenseitig keine Gewalt anzuwenden oder anzudrohen, haben die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland einen neuen Weg in ihren gegenseitigen Beziehungen eingeschlagen. Ich möchte ganz offen sagen, daß es dem Sowjetvolk und somit auch seiner Führung nicht so leicht war, diese neue Seite in unseren Beziehungen aufzuschlagen. Zu lebendig sind noch für Millionen von Sowietbürgern die Erinnerungen an den vergangenen Krieg, an schwere Opfer und schreckliche Zerstörungen, die uns die Hitler-Aggression zugefügt hat. Wir haben es vermocht, uns über die Vergangenheit in den Beziehungen zu Ihrem Lande hinwegzusetzen, weil wir keine Rückkehr zu dieser Vergangenheit wollen. Mit dem sozialistischen deutschen Staat, mit unserem Bündnispartner, der Deutschen Demokratischen Republik, ist die Sowjetunion schon seit langem durch Bande der allerherzlichsten, aufrichtigen und uneigennützigen Freundschaft verbunden. Auch in unseren Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland lassen wir uns von gutem Willen und von dem Bestreben zur Bewahrung des Friedens leiten. Wir sind aufrichtig zu einer Zusammenarbeit bereit, die, wie wir überzeugt sind, für beide Staaten und für die allgemeine Sicherheit von großem Nutzen sein kann. Wir wünschen einen dauerhaften Frieden und glauben, daß auch die Bundesrepublik Deutschland am Frieden interessiert ist und ihn braucht. Wir wissen, daß es auch für die Regierung des Herrn Bundeskanzlers Brandt nicht einfach war, sich zu diesem Vertrag durchzuringen. Der Kalte Krieg besitzt ein eigenes Beharrungsvermögen, dessen Überwindung nicht ohne gewisse Anstrengung möglich ist. Dies um so mehr, als Anhänger einer gefährlichen Konfrontation zwischen zwei Welten keineswegs aus dem politischen Leben verschwunden sind. Deshalb weiß man in der Sowjetunion den Realismus, den Willen und die Voraussicht zu schätzen, die von den führenden Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland und vor allem von dem Herrn Bundeskanzler Willy Brandt im Kampf für den Abschluß und das Inkrafttreten der Verträge mit der Sowjetunion und mit der Volksrepublik Polen an den Tag gelegt wurden, die den Beginn neuer Beziehungen Ihres Landes zum sozialistischen Europa bedeuteten. In diesem Zusammenhang möchte ich allen Anhängern der gutnachbarlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion die Würdigung aussprechen, die sie verdienen. Viele von ihnen, die den Kampf gegen den Faschismus durchgestanden hatten, haben keine Mühe im Kampfe für den Frieden, für die Freundschaft zwischen unseren Völkern gescheut. Die Sowjetunion weiß ihren Beitrag zu dieser edlen Sache sehr hoch zu schätzen. Ein Meilenstein auf dem Wege der erfolgreichen Entwicklung unserer Beziehungen, der durch den Moskauer Vertrag vorgezeichnet wurde, war unsere Begegnung mit Herrn Kanzler Brandt im Herbst 1971 in Oreanda. In einer ruhigen und sachlichen Atmosphäre, frei von der Tyrannei des diplomatischen Protokolls, konnten wir die weiteren Aussichten für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland vorzeichnen und bestimmte Bereiche einer möglichen Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern auf internationaler Ebene abstecken. Wir können jetzt mit Zuversicht sagen, daß die Entwicklung von friedlichen und beiderseits vorteilhaften, auf Zusammenarbeit basierenden Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik keine abstrakte Hypothese, kein theoretischer Plan oder emotioneller Wunsch mehr ist, wie es noch vor kurzem zu sein schien, sondern etwas völlig Reales, das besteht, sich entwickelt und festigt. Es versteht sich, daß die Möglichkeiten für die Entwicklung solcher Beziehungen zwischen unseren Staaten noch lange nicht ausgeschöpft sind. Wir stehen erst am Anfang dieses Weges. Unsere bisherigen Gespräche mit dem Bundeskanzler Brandt bestätigen, daß gute Aussichten für die Zukunft bestehen - darunter auch für die wirtschaftlichen Beziehungen. Über die Erweiterung des konventionellen Handels hinaus besteht die Möglichkeit, langfristige Geschäfte großen Ausmaßes abzuschließen, die von der wirtschaftlichen Kooperation zwischen unseren Ländern ausgehen und auf bedeutende gemeinsame Vorhaben ausgerichtet sind. Ihrem Charakter nach sind solche Geschäfte weder kurzlebig noch konjunkturbedingt noch zufällig, sondern sie öffnen den Weg zum gemeinsamen Handeln in wichtigsten Bereichen der Wirtschaft, was beiden Seiten für die Dauer von vielen Jahren gesicherten Nutzen bringen wird. Das bedeutet unter anderem, daß die Produktion wirtschaftlicher organisiert und selbstverständlich auch die Beschäftigung der Arbeiter in Ihrem Lande gewährleistet werden kann. Besonders wichtig ist es dabei, daß eine solche Zusammenarbeit dazu beiträgt, eine feste Grundlage gutnachbarlicher Beziehungen zwischen unseren Ländern zu schaffen. Die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland sind Staaten mit einem hohen Entwicklungsstand der Wissenschaft, Technik und Kultur. Was sich unsere Wissenschaftler gegenseitig in fachlichen Kontakten zu zeigen und mitzuteilen haben, kann sich durchaus sehen lassen. Ich bin überzeugt, daß die Bevölkerung unserer beiden Länder die besten Werke der Literatur, der Musik, des Theaters, der bildenden Künste des anderen Landes mit großem Interesse kennenlernen wird. Die Beachtung, die Ihre Öffentlichkeit den zur Zeit in Dortmund stattfindenden Tagen der Sowjetunion schenkt, ist ein überzeugender Beweis dafür. Über die Fragen der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen sowie über den Luftverkehr sind dieser Tage, wie Ihnen bekannt ist, konkrete Abkommen zwischen unseren Ländern unterzeichnet worden, die gegenseitige Verständigung und auf beiden Seiten Bereitschaft zur Zusammenarbeit zum Ausdruck bringen. Wie wichtig gute Beziehungen für unsere beiden Staaten, für unsere Völker auch sein mögen, nicht weniger wichtig ist es, daß die Herstellung und Entwicklung dieser Beziehungen heutzutage zu einem umfassenderen Prozeß einer gründlichen Gesundung des internationalen Lebens in Europa und nicht nur in Europa gehört. Es vollzieht sich der Übergang von einem Vierteljahrhundert des Kalten Krieges zu Beziehungen des Friedens, der gegenseitigen Achtung und Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Ost und West. Eben darauf ist die Politik der friedlichen Koexistenz gerichtet, die von der Sowjetunion gegenüber den Staaten mit entgegengesetztem Gesellschaftssystem vertreten wird. Ihre vollständigste Verkörperung hat diese Politik gegenwärtig in dem Friedensprogramm, das vom XXIV. Parteitag der KPdSU gebilligt wurde und heute schon weltweit bekanntgeworden ist, sowie in den Dokumenten des Plenums des ZK der KPdSU vom April dieses Jahres gefunden. Es heißt dort unter anderem, daß sich unser Land zum Ziel gesetzt hat, eine entscheidende Wende zur Entspannung und zum Frieden auf dem europäischen Kontinent herbeizuführen. Seien Sie überzeugt: Die Sowjetunion, ihre Kommunistische Partei, unser ganzes Volk werden tatkräftig und konsequent dieses Ziel anstreben. Jenes Europa, welches wiederholt zum Herd aggressiver Kriege gemacht wurde, die riesige Zerstörungen und den Tod von Millionen Menschen verursacht haben, muß für immer der Vergangenheit angehören. Wir wollen, daß hier ein neuer Kontinent entsteht - ein Kontinent des Friedens, des Vertrauens und der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen allen Staaten. Zu den positiven Bestandteilen der gegenwärtigen Entwicklung in Europa gehört ohne Zweifel auch die allmähliche Verbesserung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarn - zu Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und anderen sozialistischen Staaten Europas. Große Bedeutung messen wir dem sachlichen, konstruktiven Zusammenwirken bei, das sich zwischen unserem Land und der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen Staaten in einer so wichtigen Frage entwickelt hat, wie es die Vorbereitung der gesamteuropäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit ist. Es gibt in der Welt noch viele brennende und explosive Probleme, die ihrer Lösung zugeführt werden müssen. Bis jetzt ist zum Beispiel der Konflikt im Nahen Osten nicht geregelt, wo arabisches Land immer noch von den Eindringlingen besetzt gehalten wird und eine gefährliche Spannung deswegen weiterbesteht. Auch in anderen Regionen treten die Gegner der Entspannung und Einstellung des Wettrüstens in Erscheinung; aber die Aussichten für die Menschheit werden immer hoffnungsvoller. Der Krieg in Vietnam ist beendet. Die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen entwickeln sich weiterhin günstig. Im großen und ganzen kann man wohl sagen, daß sich unser Planet heute dem Zustand eines dauerhaften Friedens mehr denn je genähert hat, und die Sowjetunion bringt ihren ganzen Einfluß zur Geltung, um diese gute Tendenz zu festigen. Unsere friedliebende Außenpolitik ist ein Ausdruck des grundsätzlichen Inhalts unserer Gesellschaft, ein Ausdruck ihrer ureigensten Notwendigkeiten. Das sowjetische Volk - 250 Millionen Menschen - befaßt sich mit der Verwirklichung gewaltiger Vorhaben im friedlichen Aufbau. Im Norden und im Süden unseres unermeßlichen Landes, in Sibirien und in Mittelasien, bauen wir riesige Kraftwerke, Hunderte von Betrieben und Fabriken, errichten Bewässerungsanlagen für solche Landflächen, die sich ihrer Größe nach mit manchen europäischen Staaten messen könnten. Unser Ziel besteht darin, daß das Sowjetvolk morgen noch besser leben soll als heute. Ergebnisse dieser kollektiven Arbeit wirken sich bereits spürbar zum Wohle der Sowjetbürger aus. Selbstverständlich bedeutet das alles noch nicht, daß alle Probleme bei uns in der Sowjetunion gelöst sind und es keine Schwierigkeiten gibt. Probleme, die man noch in Angriff nehmen muß, existieren. Und es wird sie vermutlich immer und zu allen Zeiten geben. Die Besonderheit der Probleme, vor die wir gestellt sind, besteht aber darin, daß sie sich aus dem stabilen Wachstum unseres Staates, seines wirtschaftlichen und intellektuellen Potentials ergeben und daß wir die Lösung dieser Probleme ausschließlich auf dem Wege des weiteren friedlichen Aufbaus suchen, auf dem Wege der Steigerung der Kultur und des Lebensstandards des Volkes sowie der Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft. Ich möchte hinzufügen, daß unsere Pläne keineswegs auf Autarkie abzielen. Wir verfolgen keinen auf die Isolierung unseres Landes von der Außenwelt gerichteten Kurs - im Gegenteil: wir gehen davon aus, daß eine Entwicklung unter den Bedingungen einer steigenden, allseitigen Zusammenarbeit mit der Außenwelt erfolgen wird - nicht nur mit den sozialistischen Ländern, sondern in bedeutendem Maße auch mit Staaten, die zum entgegengesetzten Gesellschaftssystem gehören. Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, unser Aufenthalt in der Bundesrepublik kann notwendigerweise nur von kurzer Dauer sein; aber auch das wenige, das meine Genossen und ich auf dem westdeutschen Boden sehen konnten, hinterläßt einen angenehmen Eindruck. Es war für uns interessant, Ihre dynamische und dabei so traditionsreiche Hauptstadt kennenzulernen, dieses alte Bonn, wo der geniale Ludwig van Beethoven geboren wurde, an deren Universität der große Schöpfer der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus, Karl Marx, studiert hat. Wir sind dem Herrn Bundeskanzler Willy Brandt, dem Herrn Bundespräsidenten Gustav Heinemann, dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen, Walter Scheel, und allen Repräsentanten der Regierung der Bundesrepublik Deutschland für ihre Gastfreundschaft, für die gute Gestaltung unserer gemeinsamen Arbeit sehr dankbar. Zum Abschluß möchte ich mich von ganzem Herzen bei den Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Kreise Ihres Landes bedanken, bei allen, die uns im Laufe dieses Besuches freundschaftlich begegnet sind. Ich wünsche Ihnen allen, verehrte Zuschauer, dem ganzen Volk der Bundesrepublik Deutschland ein friedliches und glückliches Leben, erfolgreiche Arbeit und Wohlergehen. Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.