Kiesinger 30.05.1968 Bundestagsrede zur Verabschiedung der Notstandsverfassung - im Wortlaut Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Artikel 38 unseres Grundgesetzes bestimmt, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Manche Kritiker des Grundgesetzes halten diese Bestimmung für obsolet. Wenn der Deutsche Bundestag es je vor dem ganzen Volk deutlich gemacht hat, daß diese Vorschrift eben kein Stück Papier, sondern lebendige demokratische Wirklichkeit ist, dann geschah dies bei diesen Beratungen des Hohen Hauses, in den Fraktionen, in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestages. Was sich hier begab, war eine große Bewährungsprobe unserer parlamentarischen Demokratie. Respekt vor verantwortungsvollen Entscheidungen Es war aber auch - erlauben Sie mir dies zu sagen - eine große Bewährungsprobe dieser Regierungskoalition. Ich weiß sehr wohl, daß es unser Koalitionspartner bei diesen Beratungen und Entscheidungen schwerer hatte als meine eigene Fraktion. Um so mehr respektiere ich das mühevolle verantwortungsbewußte Ringen um die endgültige Entscheidung, das in der sozialdemokratischen Fraktion stattgefunden hat. Derselbe Respekt hat mich dazu bestimmt, nachdem die Entwürfe dieser Gesetze von der Bundesregierung verabschiedet worden waren, bis zu dieser Stunde in die Debatten des Parlaments nicht einzugreifen. Nun, am Schluß der Beratungen, erlauben Sie mir ein kurzes Wort. Ich bin mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei der Meinung, daß diese seit vielen Jahren beratenen Gesetze zu viele Emotionen ausgelöst haben. Denn es handelt sich schlicht um eine pflichtgemäße Vorsorgeregelung, ohne die kein Staat auskommt und die auch in allen anderen Ländern getroffen worden ist. Mehr demokratische Freiheit als im Osten Den Machthabern im anderen Teil Deutschlands, die von diesen Gesetzen heuchlerisch als von Kriegsgesetzen zu sprechen wagen, kann ich im Namen dieses freien Staates nur entgegensetzen: Ein Regime, das selbst in normalen Zeiten keine Meinungs-, keine Versammlungs-, keine Pressefreiheit gibt, kein Streikrecht gewährt und jede Kritik mit schweren Strafen bedroht, hat kein Recht, eine Gesetzgebung zu verleumden, die selbst für den äußersten Notfall größere demokratische Freiheit und rechtsstaatlichen Schutz garantiert, als es selbst in normalen Zeiten zuzugestehen wagt. Auch in der Sowjetunion wird leider davon gesprochen, diese Vorsorgegesetze legten es auf die Herbeiführung einer politischen und militärischen Diktatur an. Der Herr Außenminister hat diese Behauptung schon zurückgewiesen. Meine Damen und Herren, nach Art. 49 der Verfassung der UdSSR kann das Präsidium des Obersten Sowjets, also die Exekutive, für einzelne Gegenden oder für die ganze UdSSR den Kriegszustand im Interesse der Verteidigung der UdSSR oder der Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und der staatlichen Sicherheit erklären. Ich frage mich, welches Echo wir wohl aus der Sowjetunion erhalten hätten, wenn wir statt unserer behutsamen Regelung ganz einfach diese Bestimmung in unsere Verfassung übernommen hätten. Wann endlich wird die Sowjetunion unseren Willen zur Verständigung und zum Frieden ernst nehmen? Wann wird sie endlich aufhören, die Verleumdung als ein taugliches Mittel der auswärtigen Politik zu gebrauchen? In Moskau gibt es nicht weniger intelligente Beobachter als in anderen Ländern. Darum kann auch ihnen nicht entgangen sein, daß unsere Gesetzentwürfe genau das Gegenteil von dem erstreben, was die sowjetische Propaganda zu befürchten vorgibt. Nicht eine politische oder militärische Diktatur, sondern ihre Verhinderung auch für den Fall der äußeren Gefahr ist doch das Ziel dieser Gesetze! Vorsorgeregelung nach dem Geist und Sinn des Grundgesetzes Diese Gesetze sind daher nicht nur für uns selbst eine notwendige Vorsorge für den Notfall, sondern eine Garantie der Freiheit und des Rechts in gefährdeten Zeiten, an der auch unseren Nachbarn gelegen sein muß. Denn jedes Land hat ein dringendes Interesse daran, daß Chaos oder Willkür im Haus des Nachbarn vermieden werden. Ich will mich, meine Damen und Herren, nach so vielen überzeugenden Beiträgen in dieser Debatte nicht mehr mit der Problematik der einzelnen Vorschriften dieser Vorsorgegesetze befassen. Auch ich habe mit Aufmerksamkeit die Diskussion außerhalb des Parlaments verfolgt, und es gab kein Argument, das mir mündlich oder schriftlich vorgetragen wurde, welches ich achtlos beiseite geschoben hätte. Freilich, ich muß es gestehen, war ich oft genug erschüttert über die naive und uninformierte, voreingenommen emotionale Stellungnahme gerade von solchen Leuten, die es hätten besser wissen können. Was heute hier entschieden werden wird, wird das Ergebnis eines langen und verantwortungsvollen Ringens um die richtige, um die von uns für notwendig erachtete Entscheidung sein. Es ist nicht wahr, daß diese Entwürfe dem Geist und Sinn des Grundgesetzes widersprächen. Wahr ist vielmehr, daß sie eine notwendige Ergänzung des Grundgesetzes aus seinem Geist und Sinn darstellen. Es ist nicht richtig, daß die bisherige Regelung des Grundgesetzes allein für die denkbaren Notfälle ausgereicht hätte. Diese Regierung und dieser Bundestag hätten es sich wahrlich nicht so schwergemacht, wenn die bisherige Regelung, die aus der Situation des Jahres 1949 zu erklären ist, genügt hätte. Es ist auch nicht richtig, daß - wie manche Kritiker und unsere Opposition meinen - die Entwürfe über das gebotene Maß einer Vorsorgegesetzgebung hinausgingen und daß der Exekutive zu viel Entscheidungsmacht eingeräumt worden sei. Richtig scheint mir vielmehr, daß im Interesse demokratischer und rechtsstaatlicher Sicherung viele ursprünglich als zweckmäßig empfundene Regelungen geändert wurden, weil man in der Interessenabwägung zwischen praktischer Zweckmäßigkeit und demokratisch-rechtsstaatlichem Schutz dem letzteren durchgängig den Vorrang gab. Geradezu empörend empfinde ich aber das Argument, Notstandsregelungen gebe es zwar in anderen Ländern, aber dem deutschen Volk fehle dafür die demokratische Reife. Verpflichtung zum Schutz der parlamentarischen Demokratie Daß jene Kräfte, die nicht die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie, sondern ihre revolutionäre Zerstörung wollen, gegen diese vorsorglichen - vorsorglichen! - Gesetze Sturm laufen, ist nur zu gut verständlich. Aber gerade die Angriffe dieser kleinen, jedoch äußerst aktiven revolutionären Gruppen sollten diejenigen redlichen Kritiker der Gesetzentwürfe, deren Sorge ich respektiere und denen es um die parlamentarische Demokratie geht, nachdenklich stimmen. Meine Damen und Herren, ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß die große Mehrheit unseres Volkes die Entscheidung des Bundestages als eine notwendige Vorsorgemaßnahme billigen wird. Es steht leider nicht in unserer Macht allein, den Zustand der Gefahr zu vermeiden, denn wir leben in einer unruhigen Zeit und Welt. Aber was an uns liegt, an uns allen, denen dieses Volk und seine Freiheit lieb ist, das wollen wir mit äußerster Wachsamkeit tun, damit eine Anwendung dieses Gesetzes niemals nötig wird. Nun noch eines. Es ist für den Bundeskanzler und für die Bundesregierung - für den Bundeskanzler insbesondere, dem in Zeiten höchster Gefahr ein besonders hohes Maß an Verantwortung zufällt - gut, zu wissen, daß er dann nicht auf eine kaum zu tragende Last persönlichen Ermessens angewiesen ist, zu wissen, daß auch für den äußersten Fall die Herrschaft des Rechts gesichert bleibt.