Brandt 24.01.1967 Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarats Straßburg - im Wortlaut Herr Präsident, meine Damen und Herren! Über das Ziel einer Politik der europäischen Entspannung und Aussöhnung, Zusammenarbeit und Einigung wird es hier kaum Meinungsverschiedenheiten geben. Der Europarat verdankt sein Mandat dem Streben nach der Einheit Europas - einem der fruchtbarsten und hoffnungsvollsten der politischen Konzepte unserer Zeit - fruchtbar und hoffnungsvoll gerade auch unter dem Aspekt der Sicherung des Friedens. Die Beratende Versammlung hat sich wiederholt zu den Prinzipien bekannt, auf denen eine dauerhafte europäische Friedensordnung aufbauen muß. Die Zusammenarbeit und die Einigung ist auch in den Teilen Europas, die hier vertreten sind, nicht rasch und umfassend genug vorangekommen. Außerdem erfahren wir nur zu oft, daß unser Kontinent erst dann die erstrebte umfassende Friedensordnung finden wird, wenn es gelingt, den Graben zu überwinden, der Ost und West voneinander trennt. Die Teilung Europas hemmt die Entfaltung seiner geistigen und wirtschaftlichen Kräfte, schwächt seine Rolle und seine Möglichkeiten in der modernen Welt. Die Teilung verursacht viel menschliches Leid. Das erleben wir am stärksten dort, wo der Trennungsstrich so verläuft, daß er - wie in Deutschland - eine Nation zerreißt. Solche willkürliche und widernatürliche Trennung bleibt eine Quelle der Unsicherheit und des Unfriedens. Sie muß schon aus diesem Grund überwunden werden. Wille zum Frieden und zur Völkerverständigung Die europäischen Völker und Staaten wären kaum im Stande, eine durchgreifende Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses zu erreichen, wenn nicht auch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich weltpolitisch in diese Richtung bewegen würden. Was die europäischen Völker und Staaten in diesem Zusammenhang unternehmen, hat jedoch nicht nur eine komplementäre Wirkung. Es stellt weltpolitisch eine eigene Qualität dar Für die deutsche Regierung ist der Wille zum Frieden und zur Völkerverständigung erstes Wort und Grundanliegen ihrer Außenpolitik. Ich möchte heute in erster Linie darlegen, wie wir diese Haltung in unserer Politik gegenüber Osteuropa in die Tat umsetzen wollen. Doch auch die enge Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Westen, Süden und Norden soll dabei nicht übergangen werden. Wir Deutsche sind uns bewußt, daß ein immer stärkerer Zusammenschluß der Völker Europas dringend erforderlich ist: weil unsere Völker entschiedener als bisher Mitverantwortung für die Bewahrung des Weltfriedens übernehmen müssen: weil nur die Verbindung der begrenzten Kräfte der einzelnen Völker es ihnen ermöglicht, diese Aufgabe zu erfüllen und Europa den ihm gebührenden Platz in der heutigen Welt zu sichern. Die wirtschaftliche und politische Einigung Europas ist daher eines der großen Ziele, auf die die deutsche Politik sich richtet. Daß ich heute hier stehe, mag auch als ein Zeichen dafür gelten, welche Bedeutung wir dabei dem Europarat zumessen. Ausbau und Ausweitung der europäischen Gemeinschaften Die Förderung der bestehenden europäischen Gemeinschaften ist seit deren Gründung eine Konstante der deutschen Politik. Die Gemeinschaft der Sechs soll nach unserer Überzeugung allen europäischen Staaten offenstehen, die sich zu ihren Zielen bekennen. Daß wir die Teilnahme Großbritanniens und anderer EFTA-Staaten begrüßen würden, brauche ich nicht zu betonen. Es liegt in der Natur unserer Vorstellungen von einer möglichst umfassenden Kooperation und entspricht außerdem unseren eigenen Interessen. Die enge deutsch-französische Zusammenarbeit, der für die Zukunft Europas eine entscheidende Rolle zufällt, ohne in die Rechte anderer einzugreifen, ist neu belebt. Die Feststellung schließlich, daß die deutsche Regierung bestrebt ist, mit jedem ihrer befreundeten Nachbarn auch bilateral vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, soll das Bild abrunden. Auf allen diesen Wegen streben wir demselben Ziel zu: der Einigung Europas. Diese Einigung liegt zunächst im Interesse jener europäischen Völker, die unmittelbar daran mitwirken. Doch hoffen wir, eines Tages werde auch in Osteuropa, nicht zuletzt in der Sowjetunion, die Erkenntnis zum Durchbruch kommen, daß ein solch einiges Europa ein entscheidendes Element der von uns erstrebten stabilen Friedensordnung in der Welt bilden kann und soll. Es geht also einmal um den inneren Ausbau und die Ausweitung der europäischen Gemeinschaften. Zum anderen geht es um die Verstärkung der wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen, kulturellen und - wo es möglich ist - auch politischen Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Völkern und Staaten. Solche Zusammenarbeit ist der Prüfstand für Entspannung in unserem Teil der Welt. In der Tat zeichnet sich der Beginn einer gesamteuropäischen Interessengemeinschaft ab. Sie geht über das allen gemeinsame Interesse an der Vermeidung eines selbstmörderischen Krieges hinaus. Sie drückt sich in praktischer Zusammenarbeit aus. Auf gewissen Gebieten und zwischen verschiedenen Partnern in Ost- und Westeuropa wird ein Ausgleich der Interessen erprobt. Politik der Entspannung In Europa Diesen noch beschränkten Raum auszufüllen ist Aufgabe einer europäischen Entspannungspolitik. Praktische Erfolge können Entwicklungen in Gang setzen, die eines Tages einen Interessenausgleich auch auf Gebieten ermöglichen, auf denen er heute noch nicht zu erreichen ist. Die deutsche Regierung ist entschlossen, diesen Weg zu gehen. Wir werden die Politik einer Entspannung in Europa nicht mit Vorbedingungen belasten. Sie ist gegen niemand gerichtet, vor allem nicht gegen die Sowjetunion, den Verbündeten der anderen ost- und südosteuropäischen Staaten. Wir orientieren uns -- unbeschadet der ungelösten nationalen Probleme - am Generalnenner der Friedenssicherung. Wir verfolgen die Politik der Entspannung, um das gemeinsame Ziel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa zu erreichen. Dabei gilt es nüchtern zu erkennen, daß die Politik der Entspannung nicht das Ziel selbst ist. Damit will ich sagen: 1. Entspannung ist kein Zauberwort. Der Begriff selbst läßt die Spannungen und die Gegensätze zwischen Ost und West nicht verschwinden. Auch Entspannungspolitik ist Politik in dem Sinne, daß um den Ausgleich gegensätzlicher Ziele und Interessen gerungen wird. 2. Entspannung ist kein Selbstzweck. Sie soll einen Interessenausgleich ermöglichen, der die Grundlagen für eine dauerhafte europäische Friedensordnung schafft, Entspannungspolitik ist keine Kapitulation und keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern der Versuch, zunehmend Gebiete gemeinsamen Interesses und der Zusammenarbeit zu finden. 3. Entspannung ist ein umfassendes Vorhaben. Natürlich sind nicht alle Probleme auf einmal zu lösen. Man muß anfangen, wo es möglich ist. Mit kleinen Schritten, wo große noch nicht möglich sind. Aber der Blick muß stets auf größere Lösungen gerichtet sein. Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten Die Bundesregierung will ihren Beitrag zur Entspannung in Europa leisten. Die Probleme Europas wie die Probleme Deutschlands lassen sich nicht in einem Klima des Kalten Krieges regeln. Wir streben deshalb eine umfassende Verbesserung unserer Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten an. Wir streben einen umfassenden wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch an. Wir hoffen, diplomatische Beziehungen aufnehmen zu können. Wir haben Gespräche und Verhandlungen eingeleitet. Es wird zu persönlichen Kontakten mit Repräsentanten osteuropäischer Regierungen kommen. Schwierigkeiten und Enttäuschungen werden uns nicht entmutigen. Das zum Teil verständliche Mißtrauen und die Schatten einer unheilvollen Vergangenheit werden der Einsicht weichen, daß man mit Deutschland als einem vertrauenswürdigen Partner in der Gemeinschaft der europäischen Völker rechnen kann. Eine solche Politik erfordert Offenheit gegenüber allen Beteiligten. Nur sie kann Reserven abbauen und jenes Vertrauen schaffen, das im Verhältnis der Völker unseres Kontinents zueinander erforderlich ist. Das gilt natürlich gerade auch für das Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Man macht es uns nicht leicht; aber wir werden keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß es unser Wunsch ist, mit Moskau ins Gespräch zu kommen, Auf den Gebieten des Handels, der Kultur und der Wissenschaft können sich Bausteine für den Ausbau der Beziehungen linden. Ich weiß, die Regierung der Sowjetunion will bis auf weiteres nicht über die Einheit Deutschlands sprechen. Aber ich denke, sie will über den Frieden in Europa sprechen. Wir wollen es auch. Die Meinungen dazu mögen im einzelnen noch beträchtlich auseinandergehen. Aber niemand, der sich die Mühe der Auseinandersetzung mit uns macht, wird den billigen Vorwurf aufrechterhalten können, wir seien Militaristen und Revanchisten. In Wirklichkeit haben wir unseren östlichen Nachbarn Gewaltverzichtserklärungen vorgeschlagen, und wir haben die Sowjetunion wissen lassen, daß wir bereit sind, die Problematik der deutschen Teilung in diesen Gewaltverzicht einzubeziehen. Es trifft also nicht zu, wenn man uns propagandistisch unterstellt, wir wollten uns die Tür zu gewaltsamen Veränderungen offenhalten. Ebensowenig trifft es zu, wenn man uns vorwirft, wir wollten uns den anderen Teil Deutschlands "einverleiben'. Wir wollen auch unsere 17 Millionen im anderen Teil Deutschlands nicht isolieren, sondern wir tragen schwer daran, daß sie isoliert gehalten werden. Was die Beschuldigung des Militarismus angeht, so darf ich auch hier darauf aufmerksam machen, daß die Bundesrepublik Deutschland. wie kaum ein zweiter Staat, ihre Bereitschaft bewiesen hat, auf nationale Hoheitsrechte zu verzichten. wenn das einer dauerhaften Friedensordnung dient. Unser Einsatz für die europäische Integration ist bekannt. Ebenso ist bekannt, daß unsere Streitkräfte - nach denen unser Volk sich nicht gedrängt hat - in einem gemeinschaftlichen Rahmen eingegliedert sind. Der Verzicht auf die Produktion nuklearer Waffen entspricht unserer Überzeugung, und dieser Verzicht unterliegt einer wirksamen internationalen Kontrolle ebenso wie die friedliche Verwendung spaltbaren Materials. Die Bundesrepublik hat, was die Nichtverbreitung nuklearer Waffen angeht, keine Sonderinteressen, sondern die natürlichen Interessen, die es mit anderen nichtnuklearen Staaten teilt. Entkrampfung der innerdeutschen Lage Ungeachtet der bis heute negativen Haltung der Behörden in Ostberlin wird die Bundesregierung auch ihre Bemühungen fortsetzen. die innerdeutsche Lage zu entkrampfen. Entspannung in Europa muß unserer Überzeugung nach Entspannung in Deutschland einschließen. Mir ist durchaus nicht daran gelegen, ein propagandistisches Zerrbild des kommunistisch beherrschten Teiles meines Vaterlandes zu zeichnen. Ohne jeden Zweifel hat man dort zum Beispiel bedeutende Fortschritte im wirtschaftlichen Wiederaufbau machen können. Dies ist meinen Landsleuten, die dort leben, nicht leicht gefallen. Sie hegen einen verständlichen Stolz auf das Erreichte. Dennoch kommt niemand daran vorbei. Die Mauer in Berlin steht, der Todesstreifen von der Ostsee bis zur tschechoslowakischen Grenze besteht, und wir können nicht den Blick vor dem Unrecht verschließen oder uns daran gewöhnen oder uns damit abfinden. Wir werden dennoch oder besser: gerade deshalb den politisch möglichen Rahmen innerdeutscher Kontakte voll auszunützen versuchen, damit die beiden Teile unseres Volkes sich nicht weiter auseinanderleben. Wir streben ein geregeltes Nebeneinander in Deutschland an, das geeignet sein kann, weitergehende Lösungen der Deutschlandfrage vorzubereiten. Ich bin davon überzeugt, daß die kommunistischen Führer in Ostberlin unseren zähen und illusionslosen Bemühungen auf die Dauer um so weniger werden ausweichen können, je mehr unsere Freunde in Europa die besondere Lage Deutschlands und deren europäische Wirkungen im Auge behalten. Wer von Entspannung in Europa spricht, darf natürlich nicht so tun, als ob es den kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands nicht gäbe. Es gibt ihn. Und wir haben festzustellen - nicht als überflüssige Polemik, sondern als Tatsache - daß Ostberlin bisher allen Bemühungen um eine Entspannung ausweicht, entweder mit Vorwänden oder mit unerfüllbaren Forderungen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Zurückweichen vor dem Versuch, im vorigen Jahr zu einem offenen Austragen der politischen Argumente in beiden Teilen Deutschlands zu gelangen. Ich denke auch an die ungeheuren Schwierigkeiten, die das SED-Regime bei den Passierscheinen in Berlin macht, einer Sache, die klein wirkt im Vergleich zu den an sich zu regelnden Fragen und die für die betroffenen Menschen doch so wichtig ist. Die deutsche Einheit bleibt unser Ziel Deutschlands Schicksal ist in besonderer Weise durch die Spaltung Europas geprägt. Wir, die wir in dieser Zeit für die deutsche Politik verantwortlich zeichnen, wollen uns mit allen Kräften für eine Politik einsetzen, die die Teilung Europas überwindet und die Grundlagen für eine dauerhafte europäische Friedensordnung legt. Eine dauerhafte europäische Friedensordnung wird auch ein vereinigtes Deutschland einschließen. Es ist eine historische Erfahrung, daß eine erzwungene Spaltung den Willen des Volkes zu nationaler Einheit nicht bricht. Unsere osteuropäischen Nachbarn haben hierfür große Beispiele gegeben. Staatsmännische Weisheit wird sich darauf einstellen, daß auf die Dauer ein großes Volk in der Mitte Europas nicht geteilt bleiben kann, wenn wir Spannungen beseitigen, Krankheitsherde gesunden lassen und über ein friedliches Nebeneinander zu einem konstruktiven Miteinander der europäischen Völker kommen wollen, Ich weiß, der Weg zu diesem Ziel ist lang. Er führt über das, was uns hier als Entspannungsthema beschäftigt. Deutschland bejaht diese Orientierung. Sie liegt im Interesse des Friedens, sie liegt im Interesse Europas. Sie liegt auch in unserem nationalen Interesse, denn auf diesem Wege können wir hoffen, unsere Selbstbestimmung - wenn auch nicht automatisch, sondern nur durch zusätzliche Anstrengungen - zu verwirklichen. Wir werden auf diesem Wege keine Barrieren aufrichten, sondern aktiv daran mitwirken, ihn zu ebnen, ihn gangbar zu machen. Die deutsche Einheit bleibt unser Ziel. Aber ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß es uns ein Ziel ist, das wir als Ergebnis einer sicher nicht ganz kurzfristigen und auch nicht widerspruchsfreien Entwicklung anstreben. Ein Ziel zudem, das sich nicht gegen die Interessen irgendeiner anderen Nation richtet, sondern das wir mit unseren Freunden, unseren Verbündeten und unseren Nachbarn, anstreben und einvernehmlich erreichen müssen. Ein Ziel schließlich, für das wir Unterstützung bekommen werden, wenn es identisch ist mit der Gesundung unseres Kontinents, der Überwindung des Grabens, der heute Ost und West trennt und der Entwicklung eines Europa, das ein entscheidend wichtiger, in sich selbst ruhender Faktor des Weltfriedens wird. Dank für moralische und praktische Hilfe Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit allen europäischen Freunden danken, die in den hinter uns liegenden Jahren so viel Verständnis für unsere besonderen Probleme gezeigt und uns in schwierigen Situationen beigestanden haben. Ich erinnere mich des Januar 1959, als ich hier vor der Beratenden Versammlung für das bedrängte Berlin zu sprechen hatte. Wir werden die moralische und praktische Hilfe, die uns danach und später zuteil wurde, nicht vergessen. Sie war auch eine westliche und europäische Selbsthilfe. Meinem Dank füge ich eine Bitte hinzu. Die Bitte nämlich, die Intentionen unserer Ostpolitik und den deutschen Beitrag zur europäischen Entspannungspolitik mitvertreten und gegen Fehldeutungen absichern zu helfen. Ich wäre auch sehr verbunden, wenn unsere Freunde es weiterhin nicht unwidersprochen zuließen, daß durch feindselige Propaganda ein Zerrbild der Bundesrepublik gezeichnet wird. Lassen Sie mich in aller Offenheit sagen: Es ist, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges, kein Ausdruck eines rückwärtsgewandten Nationalismus, wenn wir uns selbstbewußt und würdig zu Wort melden, um unsere Interessen zu vertreten. Dies ist unser Recht und unsere Pflicht. Erfüllten wir sie nicht, gefährdeten wir den Prozeß der Gesundung in unserem Volk. Vertrauen für die deutsche Demokratie Lassen Sie mich weiter sagen: Unser Staat und unser Volk haben Vertrauen verdient. Unbeschadet der Teilung als Volk und Staat haben unsere Menschen Opferbereitschaft für gemeinsame Aufgaben und Notwendigkeiten bewiesen. Unbegründetes Mißtrauen hilft unseren gemeinsamen Widersachern. Es begünstigt aber auch bei uns Kräfte, die unserer Entspannungspolitik mit unbegründeten Zweifeln begegnen oder die die Lektion der Geschichte nicht gelernt haben und auch nicht lernen werden. Solche Leute gibt es nicht nur bei uns, sondern auch anderswo. Es ist verständlich, daß Ansätze extremer Gruppierungen in Deutschland mit besonderer Aufmerksamkeit registriert und beobachtet werden. Ich bagatellisiere die Existenz extremer Gruppen nicht, aber ich möchte davon abraten, sie zu überschätzen. Die demokratischen Kräfte in Deutschland sind stark genug, mit gelegentlichen Schwierigkeiten fertig zu werden. In allen Wahlen im freien Teil Deutschlands in den letzten 16 Jahren haben sich jedesmal mehr als 90 Prozent der Wähler für die demokratischen Parteien entschieden. Einige Kritiker mögen auch dies bedenken: Weit über die Hälfte der heute lebenden Deutschen war bei Kriegsende jünger als 16 Jahre oder noch gar nicht geboren. Sie wird man für das, was unter Hitler geschehen ist, auch moralisch nicht verantwortlich machen können. Für das Unrecht aber und die politischen Folgen, die sich für Deutschland aus dem Krieg und den Taten des Hitlerregimes herleiten, haften auch sie. Es beruhigt mich, wenn sich mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende auch in befreundeten Ländern wieder Stimmen vernehmen lassen, die das deutsche Volk pauschal verurteilen. Solche pauschalen Urteile sind nicht nur falsch, sie sind auch unklug. Brückenschlag zwischen West und Ost Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Politik der deutschen Regierung beruht auf der Erwartung und Hoffnung, daß wir unter gegenseitiger Achtung der verschiedenen Ordnungen und des Prinzips der Nichteinmischung eine Basis gemeinsamer Interessen zwischen den Teilen Europas schaffen können. Die geographische Lage, in der das deutsche Volk lebt, weist ihm dafür eine besondere Verantwortung zu. Deutschland war über Jahrhunderte hinweg eine Brücke zwischen West- und Ost-Europa. Wir wollen uns bemühen, die gesprengte Brücke neu zu bauen. Die damit verbundenen vielfältigen Aufgaben können nur in engem und vertrauensvollem Zusammenwirken mit unseren Freunden und Nachbarn gelöst werden. Wir vertrauen darauf, daß es gelingen wird, auf diesem Wege eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung zu errichten.