Scheel 29.05.1962 Rundfunkrede über die Gefahr eines sozialen Weltkonflikts - im Wortlaut Mehr als sechs Millionen neuer Arbeitsplätze wurden von 1951 bis 1961 - der Laufzeit der beiden ersten indischen Fünfjahrespläne - in Indien geschaffen. Dieser Erfolg des nationalen indischen Entwicklungsprogramms, Ergebnis der partnerschaftlichen Zusammenarbeit eines nur wenig industrialisierten Landes mit den hochindustrialisierten Staaten, ist um so eindrucksvoller, wenn man bedenkt, daß die Wirtschaft der Bundesrepublik zur Eingliederung von 13 Millionen deutscher Heimatvertriebener und Flüchtlinge - das aber bedeutet die Schaffung von knapp fünf Millionen neuer Arbeitsplätze - annähernd die gleiche Zeit, nämlich mehr als zehn Jahre benötigt hat. Sechs Millionen neuer Arbeitsplätze in zehn Jahren! In der gleichen Zeit betrug aber der Geburtenüberschuß in Indien acht Millionen: in einem Jahr: sechs Millionen Arbeitsplätze - 80 Millionen Menschen mehr: das ist die Wirklichkeit in einem der wichtigsten Staaten Asiens, der als Gegenspieler Chinas für die anderen Entwicklungsländer als Musterbeispiel für den Versuch gilt, die nationale Wirtschaft ohne kommunistische Zwangsmaßnahmen aufzubauen. Die Bevölkerung Indiens wächst jährlich um acht Millionen Menschen, die Chinas um 15 Millionen. Dabei ist der Geburtenüberschuß dieser beiden Staaten im Vergleich zu dem anderer Entwicklungsländer noch relativ gering, in Indien 1,5 v. H., in Rotchina, für das genaue Angaben nicht vorliegen, etwa 2 v. H. Die lateinamerikanischen Staaten dagegen haben eine Zuwachsrate von etwa 3 v. H. Der Geburtenüberschuß beträgt in der Bundesrepublik 0,6 v. H., in Schweden 0,3 v. H., in den Vereinigten Staaten von Amerika dagegen 1,5 v. H. Nach einer Statistik der Vereinten Nationen leben heute etwa drei Milliarden Menschen auf der Erde, im Jahre 2000 werden es mehr als 6,5 Milliarden sein. Sie werden mich fragen, meine Hörerinnen und Hörer, warum ich Sie zu Beginn meiner Ausführungen mit diesen Zahlen konfrontiere, die schockieren müssen. Sie werden wissen wollen, welchen Sinn unsere Entwicklungshilfe denn überhaupt haben kann, wenn es bei dem gegenwärtigen Bevölkerungszuwachs in den Entwicklungsländern trotz der erheblichen Aufwendungen der Industrienationen noch nicht einmal möglich scheint, den derzeitigen Lebensstandard zu sichern, geschweige denn, ihn zu verbessern. Sie werden vielleicht geneigt sein, in dieser Feststellung eine weitere Bestätigung für die angebliche Nutzlosigkeit unserer Anstrengungen zu sehen, die Entwicklungsvölker bei der Überwindung ihrer bittersten Not zu unterstützen. Ich würde meine Verantwortung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, auch gegenüber dem deutschen Steuerzahler verkennen, wenn ich versuchen wollte, Ihnen ein romantisch verklärtes, durch die Einseitigkeit der Darstellung unehrliches Bild von den eigentlichen Problemen der Entwicklungspolitik zu entwerfen. Nicht Schönfärberei, nicht das Vertuschen bestehender - und wahrlich ernster - Schwierigkeiten, nicht missionarischer Eifer, werden unser Interesse und unser Verständnis für die Not in den Staaten Afrikas, Asiens und Südamerikas verstärken, sondern ausschließlich die nüchterne, vorurteilsfreie, ehrliche Bereitschaft, die Sorgen dieser Länder mit all ihren Eigenarten zu erkennen. Die Probleme der Entwicklungsländer sind andere wie die der Industrienationen, die Menschen, die Anschauungen, die Überlieferungen und die Verhaltensweisen gleichen einander nicht. Wir müssen uns von der lieb gewordenen Gewohnheit lösen, alle Völker und deren Sorgen, nationale Eigenheiten und besondere Denkkategorien mit deutschen Augen zu sehen. Auf der anderen Seite können wir jedoch auch von den Entwicklungsländern erwarten, daß sie sich von klischeehaften Vorstellungen über Deutschland und die Deutschen, über die Industrienationen und deren Lebensweise schlechthin, trennen. Die wirtschaftlich hochentwickelten Staaten können den Entwicklungsländern nur dann wirksam helfen, wenn beide Seiten bereit sind, auch "Tabus" aufzugreifen und zu diskutieren. Ein solches Tabu - eines der vielen in einer Welt, die häufig von Tabus geprägt, von Verdrängungen beherrscht scheint - ist das Problem der Bevölkerungsvermehrung. Und gerade hier wird erkennbar, welche heute noch unabsehbare Folgen sich aus dem Ignorieren bestimmter Entwicklungen ergeben können. Das nahezu explosionsartige Anwachsen der Entwicklungsvölker, das durch die im Rahmen der Entwicklungshilfe geförderte Verbesserung des Gesundheitswesens in diesen Staaten entscheidend begünstigt wird, droht, den Hunger und die Armut in den Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas noch zu vervielfachen, droht die sachlichen und finanziellen Anstrengungen der Industrienationen wirkungslos zu machen. Für die ausreichende Versorgung der Bevölkerung in den Entwicklungsländern mit Nahrungsmitteln, für die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, für die Steigerung der Rohstoff- und Energieerzeugung, für die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, für die Sicherung einer funktionierenden öffentlichen Verwaltung ergeben sich neue, zunächst unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten. Und doch müssen wir uns auch dieser Herausforderung stellen, wenn schon nicht aus humanitären, dann aus sozialpolitischen, wirtschaftspolitischen und außenpolitischen Gründen. Das Problem des "wachsenden Hungers" - an dessen Bewältigung die Entwicklungsländer selbst durch eine vernünftige Geburtenkontrolle mitwirken müssen: auch hier gilt es, sich im Interesse der leidenden Menschheit von einem Tabu zu trennen - kann nur durch eine weltweite Zusammenarbeit in der hochindustrialisierten mit den nicht oder nur gering industrialisierten Staaten gelöst werden. Die Bevölkerungsvermehrung in den Entwicklungsländern vergrößert noch den sozialen Abstand zwischen "armen" und "reichen" Staaten, verstärkt noch die Gefahr eines sozialen Konflikts, vor dessen möglichem Ausmaß der Ost-West-Konflikt verblassen müßte.