Wuermeling 21.12.1956 Rundfunkansprache im Süddeutschen Rundfunk Die Familie in der industriellen Gesellschaft - im Wortlaut In der täglichen Hetze unseres Industriezeitalters wird den wenigsten Menschen bewußt, welch revolutionäre Umgestaltung des Familienlebens der technische Fortschritt, die Arbeitsteilung und die Industrialisierung in den letzten drei Menschenaltern mit sich gebracht haben. Bis zum Beginn des technischen Zeitalters waren die Formen menschlichen Zusammenlebens in erster Linie von der Familie her bestimmt. Aber die Arbeitsteilung entzog den Vater als Familienhaupt fast den ganzen Tag der Familie, neuerdings in zunehmendem Maße sogar die Mutter, so daß die erzieherischen Wirkungsmöglichkeiten in der Familie wesentlich eingeengt wurden. Die mit der Industrialisierung verbundene Verstädterung löste den Menschen meist vom eigenen Boden und eigenen Heim, so daß auch diese wichtige Grundlage eines freien unabhängigen Lebens der Familie immer mehr entfiel. Noch vor hundert Jahren lebte die große Mehrzahl unserer Familien auf landwirtschaftlicher oder handwerklicher Grundlage im Familienbetrieb. Familienleben und Berufsleben waren der gleiche Lebenskreis, sie förderten, ergänzten einander. Kinder bedeuteten hier - auch rein wirtschaftlich gesehen - Nutzen, da sie wirtschaftliche Mitträger des landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betriebes wurden, die Eltern im Alter versorgten usw. Andererseits machten Kinder damals verhältnismäßig wenig Kosten. Die Ernährung wuchs zumeist aus Feld und Garten zu, die Milch lieferte der Stall, die Mutter webte, nähte, strickte weithin die bescheidene Kleidung. Bei allem spielte es wirtschaftlich keine entscheidende Rolle, ob die Familie drei, fünf oder sieben Kinder hatte. Heute hingegen arbeiten 80 v. H. der Schaffenden im fremden Betrieb zum sogenannten Leistungslohn, der fast überall für jeden gleich ist und nicht berücksichtigt, wieviel Familienmitglieder davon leben sollen. Diesen Leistungslohn hat der Ledige zumeist für sich allein, aber für den Familienvater dividiert er sich durch vier, sechs, acht oder mehr Köpfe, für die er heute vier-, sechs-, achtmal jede Schnitte Brot, jedes Gramm Fett, jedes Liter Milch und jeden Lebensbedarf mit barem Gelde kaufen muß. Jeder Eingeweihte weiß, daß da mit "im Dutzend billiger" nicht viel zu machen ist. So bedeuten Kinder heute, wenn wir einmal bei der rein wirtschaftlichen Betrachtung bleiben dürfen, für die Familie nicht wirtschaftlichen Vorteil, sondern eine vielfach sehr erhebliche wirtschaftliche Belastung. Diese führt dazu, daß unsere Familienväter wirtschaftlich mit ihren Berufskollegen "nicht mehr mitkönnen", daß der wirtschaftliche und kulturelle Lebensstand ihrer Familie um so stärker heruntergedrückt wird, je mehr Kinder sie haben, daß sie von den Lebensbedingungen der sozialen Schicht, in die sie sich durch Fleiß und Leistung heraufgearbeitet haben, ausgeschlossen werden. Die Tatsache dieser sozialen Verstoßung unserer Familien mit mehreren Kindern hat dazu geführt, daß die Familien nicht nur unseres Volkes, sondern überhaupt in Westeuropa, die Zahl ihrer Kinder radikal eingeschränkt haben, so eingeschränkt haben, daß nach wissenschaftlichen Feststellungen der zahlenmäßige Fortbestand unseres Volkes nicht mehr gesichert ist. Ein wesentlicher Grund dafür war nachweislich der, daß die Familien eine solche soziale Deklassierung weder für sich, noch für ihre Kinder in Kauf nehmen wollten. Die bisherige Behandlung unserer Familien mit Kindern ergibt sich klar aus folgenden in einer Denkschrift des Familienministeriums wissenschaftlich festgestellten erschütternden Tatsachen: 1. Die große Mehrheit unserer Familien muß dann an der Grenze des Existenzminimums (etwa zu Fürsorgesätzen) oder darunter leben, wenn sie drei oder mehr Kinder hat. 2. Die große Mehrheit unserer Familien mit drei oder mehr Kindern steht damit vor der schweren Gewissensfrage, entweder zu Fürsorgesätzen zu leben, oder die Mutter außerhalb des Heimes im fremden Betrieb erwerbstätig werden zu lassen. 3. In mittleren und höheren Einkommensschichten hat das Großziehen mehrerer Kinder den Abstieg in ganz andere soziale Schichten zur Folge, wirkt sich also auch hier als soziale Bestrafung aus, wenn die Mutter nicht auch hier erwerbstätig werden soll. Andererseits erwachsen aus unseren wenigen Familien mit drei oder mehr Kindern über zwei Drittel der kommenden Generation. Sie sind also die eigentlichen volkserhaltenden Familien. Zur Frage der Erwerbstätigkeit der Mutter mehrerer Kinder möchte ich folgendes sagen: Wir alle wissen, daß Hunderttausende von Müttern sich heute aus echter wirtschaftlicher Not gezwungen sehen, entgegen ihres Herzens Regung den ganzen Tag über Heim und Kinder zu verlassen und um des täglichen Brotes willen im fremden Betrieb zu arbeiten. Jeder Arzt bestätigt uns, daß kaum eine Mutter diese Überbeanspruchung durch gleichzeitige Ausübung zweier Hauptberufe ohne ernste gesundheitliche Schäden durchhalten kann. Auch Mutterberuf ist Hauptberuf, heute in unserer kultur- und liebelosen Zeit mehr denn je! Wenn wir daneben die schweren Gefahren für die Erziehung der Kinder - und wahrlich nicht nur der kleinen - sehen, die weithin der so vielfältigen ständigen Mutter-Kind-Beziehung und der Nestwärme entbehren, wird jedem von uns klar: Unsere Wirtschaft sollte wirklich eher auf ausländische Arbeitskräfte zurückgreifen als - in völlig falscher Überbewertung des Wirtschaftlich-Materiellen - ausgerechnet unsere Mütter als sogenannte Arbeitskraftreserve aus unseren Familien holen. Die kommunistischen Machthaber des Ostens fordern die Mütter an den Schraubstock. Im freien Westen haben wir das Recht des Kindes auf die Mutter und das Recht der Mutter auf das Kind zu schützen. Ich wende mich damit gewiß nicht gegen berufstätige Frauen; denn niemand denkt daran, unseren Frauen und Müttern die von ihnen zu treffende Entscheidung abzunehmen, ob sie berufstätig sein wollen oder nicht, aber wir müssen unseren Müttern wieder die Möglichkeit geben, sich für Heim und Kinder als ihren Lebensbereich zu entscheiden. Nicht zuletzt darum treiben wir ja Familienpolitik mit dem Ziel einer Verbesserung auch der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen unserer Familien - durch Kindergeld und Steuererleichterungen -, weil wir unsere Mütter von dem Gewissenszwang befreien wollen, sich gegen ihren Wunsch und Willen ihrer hohen Mutteraufgabe zu entziehen, in der sie im Grunde unersetzlich sind. Ich möchte über die Folgen der vorher erwähnten Einschränkung der Kinderzahl, die auch mit der Berufstätigkeit so mancher Mütter zusammenhängt, noch ein anderes sagen: Die Kinder von heute erarbeiten später das Sozialprodukt von morgen, von dem die Eltern, die heute Schaffende sind, im Alter leben müssen. Jede Generation lebt von der Arbeit der jeweils Schaffenden, auch die, welche etwa durch Ersparnisse oder Versicherung vorgesorgt haben. Denn auch Ersparnisse sind am Lebensabend nur von Wert, soweit sie in das tägliche Brot umsetzbar sind, das von der dann schaffenden Generation hergestellt wird. Die Kinder von heute sind also die Sicherung des Lebensabends auch der Kinderlosen und Kinderarmen. Wir wollen und sollen kein Werturteil fällen über Kinderlose und Kinderarme, denn wir wissen sehr wohl, wie viele schwer unter solchem Schicksal leiden oder wie andere im Dienst höherer Berufung stehen. Aber wir müssen mit Nachdruck ein weit verbreitetes egoistisches Denken in dem Sinne zurückweisen, man könne sich den Kosten des Großziehens von Kindern ruhig entziehen, weil die Kinder der anderen dazu da sind, den Kinderlosen den Lebensabend zu sichern. Daraus folgt: Die in unserer heutigen Ordnung, im Zeitalter der Industrialisierung, untragbar gewordene Belastung des Großziehens von Kindern kann nicht allein unseren Familien mit Kindern aufgebürdet bleiben. Sie muß vielmehr von allen mitgetragen werden, die später von der Arbeit dieser Kinder leben wollen. Kinder haben, darf keine soziale Strafe sein für die verantwortungsbewußten Väter und Mütter unseres Volkes. Es braucht niemand Sorge zu haben, daß Familien mit Kindern mit dem Kindergeld und den Steuerermäßigungen, die sie erhalten, so etwas wie ein Geschäft machen können. Die Opfer werden nur etwas erleichtert, sie werden wieder tragbarer gemacht. Ein kleiner Teil wird von den anderen mitgetragen, während die Hauptlast bei den Eltern verbleibt. Das soll und muß auch so sein, da es zum Wesen der Familie gehört, auch große Opfer für die Kinder zu bringen. Das wollen auch unsere Eltern gern tun für das große Glück und die vielfältige Freude, die Kinder bereiten. Es geht nur darum, diese Opfer auf ein tragbares Maß zurückzuführen. Das aber ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Alle anderen industrialisierten Länder haben daraus längst viel mehr Konsequenzen gezogen als wir, die wir familienpolitisch erst im Anfang stehen. Wenn wir die wirtschaftlichen Lebensvoraussetzungen unserer Familien einigermaßen wiederherstellen und darüber hinaus weiter konsequent und ausdauernd für rechte Familienwohnungen und Familienheime zu tragbaren Mieten und Belastungen sorgen, dann wird die Familie ihre für den einzelnen wie für die Allgemeinheit gleich lebenswichtigen Aufgaben - auch in der industrialisierten Gesellschaft - wieder besser erfüllen können. Die Familie muß uns ja bleiben als Stätte des Friedens und des Freiseins von allem vermassenden Rummel. Sie ist die unentbehrliche Erziehungsstätte für das Leben und die wertvollste Schule sozialen Denkens, gegenseitiger Rücksichtnahme und menschlichen Verstehens. Sie ist unser unverzichtbarer privater Lebensbereich, in dem Liebe und Geduld ebenso beheimatet sind wie andere echte Lebenswerte und nicht zuletzt die Freude an unseren Kindern und Kindeskindern. In diesem Sinne ist der ethische und wirtschaftliche Schutz unserer Familien im Industriezeitalter eine vordringliche Gegenwartsaufgabe, der wir nicht ausweichen können, wenn wir das Glück unserer Menschen und die Zukunft unseres Volkes nicht aufs Spiel setzen wollen. Sittlich und wirtschaftlich gesunde Familien sind Voraussetzung für ein sittlich und wirtschaftlich gesundes Volk, das hoffnungsvoll in die Zukunft blicken kann.