Adenauer 10.12.1951 Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarates "Straßburger Appell" - im Wortlaut Die europäische Politik der Bundesregierung ist oft in Entschlüssen und Handlungen zum Ausdruck gekommen. Es ist dennoch nicht überflüssig, die Linie dieser Politik heute noch einmal darzulegen. Soviel auch an der gegenwärtigen Verfassung des Europarates Kritik geübt wird, und soviel auch im einzelnen an dieser Kritik berechtigt sein mag - wir wollen doch nicht vergessen, daß das Vorhandensein dieser europäischen Organisation, auch so wie sie ist, einen außerordentlichen politischen Wert hat. Es bedeutet viel für die politische Entwicklung Europas, daß wir hier in den Organen des Europarats eine Plattform haben, auf der sich die Repräsentanten Europas regelmäßig begegnen, ihre Sorgen und Nöte, ihre Wünsche und Hoffnungen austauschen, gemeinsame Kriterien für die Bewertung Ihrer Bedürfnisse zu entwickeln versuchen und überhaupt in einem Geiste der Fairness und der guten Nachbarschaft zusammenarbeiten - mit anderen Worten: Wir haben hier das europäische Gewissen. Es bedeutet viel, daß hier eine Stätte ist, an der nahezu das ganze Europa sich zusammenfindet, ungeachtet all der Differenzierungen, die sonst bei unseren Bemühungen um einen engeren organisatorischen Zusammenschluß auftreten. Ihre letzten Impulse wird die europäische Politik in jedem Lande aus dem gemeinsamen Willen der europäischen Völker empfangen. Nirgends aber drückt sich dieser Wille als gemeinsamer Wille so sichtbar aus als im Europarat. Die entscheidende Funktion des Europarates Es ist zuzugeben: Der Europarat ist nicht der einzige Rahmen, in dem sich europäische Politik vollzieht und in dem europäische Realitäten geschaffen werden. Es gibt daneben die Politik der Regierungen, die in mehr oder minder großen Vollständigkeit, gestützt auf ihre nationalen Parlamente Schritte zur Verwirklichung der europäischen Gemeinschaft tun. Ich denke an die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit und an andere Pläne. Erst wenn wir alle diese Bemühungen zu dem hinzufügen, was hier in Straßburg geschieht, gewinnen wir ein vollständiges Bild des europäischen politischen Geschehens. Ein europäisches Bewußtsein und einen Willen zur europäischen Gemeinschaft wachzuhalten, ist die entscheidene Funktion des Europarates. Im gegenwärtigen Zeitpunkt scheinen die Initiative der Einzelregierungen und die des Europarates nicht genügenden Zusammenhang zu haben. Bei der Beratung des wichtigsten und aktuellsten Plans, des Plans einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, hat sich, wie Herr Außenminister Schuman soeben so eindrucksvoll dargelegt hat, die Notwendigkeit ergeben, ein politisches Organ vorzusehen, das die im Rahmen der europäischen Verteidigungsgemeinschaft sich ergebenden politischen Entscheidungen zu treffen hat. Politische Fragen ergeben sich im Zusammenhang mit dem europäischen Budget, das durch die finanzielle Seite des europäischen Verteidigungsaufwandes notwendig gemacht wird. Hier drängt sich das Problem einer europäischen Kontrolle der gemeinschaftlichen Finanzpolitik auf. Alle diese Fragen erheben sich in einem Augenblick, in dem auch im Europarat die Überlegungen bei recht konkreten Entwürfen einer politischen Organisation Europas angelangt sind. Es ist daher schwerlich ein glücklicherer Zeitpunkt für ein Gespräch zwischen den Vertretern von Regierungen und den Mitgliedern dieser Hohen Versammlung denkbar als der gegenwärtige. Dies um so mehr, als - was die konkreten Fragen anlangt, auf die ich anspielte - die Zeit drängt. Sie wissen alle, daß die Weltlage in bezug auf das Problem der Verteidigungsgemeinschaft keinen Aufschub duldet und daß deshalb die Bemühungen der hieran beteiligten Regierungen gerade in diesen Tagen in ein akutes Stadium treten. Ich habe den Eindruck, daß die Diskussion überall darunter leidet, daß die Fragestellung in Form von schroffen Alternativen vorgetragen wird. Es wird ein brüskes Entweder-Oder proklamiert. Nicht immer legt man sich angesichts solcher Problemstellungen die Frage vor, ob es nicht eine "dritte Lösung" gibt. Das gilt vor allem für zwei Fragen, die man sich angewöhnt hat, in sehr antithetischer Form zu diskutieren: Für die Fragestellung "Funktionalismus oder Föderalismus" und die Fragestellung "Klein-Europa oder Groß-Europa". Ich halte beide Alternativen für falsch gestellt. Wir haben zur praktischen Verwirklichung europäischer Lösungen Wege eingeschlagen, die manche unserer Kritiker funktionalistisch nennen. Das heißt: Wir haben gewisse Vergemeinschaftungen auf wirtschaftlichem Gebiet in Aussicht genommen, von denen die wichtigste der Schumanplan ist. Wir haben auf dem Gebiet der europäischen Verteidigung dieselbe Methode verfolgt. Wir haben das aber immer in dem Bewußtsein getan, durch solche Lösungen am wirksamsten und am raschesten einer politischen Lösung nahe zu kommen. "Klein- oder Groß-Europa?" Zwei Dinge haben wir immer wieder in den Verhandlungen um diese Sonderlösungen ausgesprochen: Einmal, daß diese Sonderlösungen nicht als separate Einzellösungen für sich sinnvoll sind, d. h., daß sie der Ergänzungen im Sinne einer umfassenden politischen Organisation bedürfen, und zweitens, daß gerade durch Inangriffnahme der speziellen Objekte eine Beschleunigung der Bewegung auf die Einheit Europas zu verstärkt wird. Ich könnte dafür viel mehr Beispiele anführen. Ich will mich auf eines beschränken. Wenn wir die europäische Verteidigung schaffen, so fangen wir an mit einem Instrument, nämlich den Verteidigungskräften. Wir stellen also den Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft eine einheitliche Armee zur Verfügung. Im Zusammenhang damit können wir aber der Frage gar nicht ausweichen, welches Organ über den Einsatz dieses Instruments entscheidet. Dies ist jedoch eine politische Entscheidung. Die Verfolgung des militärtechnischen Plans selbst also hat uns in die Notwendigkeit versetzt, zur eigentlich politischen Integration Europas etwas Entscheidendes beizutragen. Eine ähnliche Problematik ergibt sich bei den Fragen des europäischen Verteidigungshaushalts. In beiden Fällen stellt sich auch unabweisbar die Frage nach einer europäischen parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Man sieht: Wir kommen auf diese Weise unmittelbar und sehr rasch in die Sphäre der politischen Integration hinein. Ebenso scheint mir die Antithese "Klein-Europa oder Groß-Europa" in der Diskussion stark überspitzt zu sein. Der Fehler der Betrachtung scheint mir hier darin zu liegen, daß man unterstellt, es gäbe zur Verwirklichung der europäischen Gemeinschaft nur eine einzige, also eine ausschließliche Organisationsform. Die Wirklichkeit wird indessen aller Voraussicht nach auch bei günstigem Verlauf der europäischen Anstrengungen anders aussehen. Auch ich gehe davon aus, daß eine möglichst umfassende Beteiligung aller europäischen Länder an der politischen Dauerorganisation Europas das höchste und letzte Ziel unserer Anstrengungen sein muß. Aber ich glaube, daß diese Zielsetzung sich sehr wohl damit verträgt, daß es innerhalb Groß-Europas gewisse engere Verbindungen kleinerer Kreise gibt. Es wird, glaube ich, gewisse Gemeinschaften geben, die sich in einer besonders intensiven und dichten Weise zusammenschließen. Das sind diejenigen Staaten, die schon jetzt bereit sind, Teile ihrer Souveränität an eine aus ihnen gebildete Gemeinschaft abzugeben. Dies ist ja die Grundidee des Schumanplans und des Plans für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft. Keine dieser Organisationen ist aber je von uns oder den anderen Regierungen, die mit uns darüber beraten, als exklusive Organisation gedacht worden. Vielmehr werden wir nie aufhören zu sagen, daß diese Gemeinschaften nicht nur dem Beitritt aller europäischen Staaten offen sind, sondern auch daß wir es für möglich halten und daß wir wünschen, daß Staaten, die diesen Gemeinschaften nicht im vollen Sinne des Wortes als Mitglied angehören sollen, sich mit ihnen in einer etwas loseren Weise assoziieren. Noch eine andere Form der Erweiterung eines besonders intensiv zusammengeschlossenen engen Kreises ist denkbar und auch bereits entwickelt. Ein Beispiel hierfür ist die Zugehörigkeit der europäischen Verteidigungsgemeinschaft als solcher zu der atlantischen Gemeinschaft. Hier wird die kleinere Gemeinschaft als Mitglied in die größere eingefügt und dadurch eine organische Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten der engeren Gemeinschaft und denen der weiteren hergestellt. Die Stellung Großbritanniens Ich mache diese Bemerkung insbesondere im Hinblick auf Großbritannien, das eine Beteiligung an supranationalen Organisationen aus bestimmten politischen Gründen für unmöglich erklärt hat. Ich lege Wert darauf, auch hier zu sagen, was ich an anderer Stelle wiederholt ausgesprochen habe: daß wir eine Teilnahme Großbritanniens an den europäischen Organisationen auf das innigste wünschen. Wir wollen und können beim Aufbau Europas auf die politische Kraft und das politische Talent Großbritanniens nicht verzichten. Wir empfinden auch die geschichtliche Zugehörigkeit Englands zu Europa, seine kulturelle, wirtschaftliche und politische Verflechtung mit dem europäischen Schicksal zu stark, als daß wir uns damit abfinden könnten, daß Großbritannien an dem europäischen Geschehen nicht in der intensivsten ihm möglichen Weise teilnimmt. Deshalb ist uns die Zustimmung Großbritanniens zum Schumanplan und zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft die in aller Form in den Washingtoner Beschlüssen ausgesprochen und kürzlich durch die neue englische Regierung im britischen Parlament wiederholt worden ist, als eine wesentliche Ermutigung unserer Politik von besonderem Wert. Aber für die erwünschte Teilnahme Großbritanniens gibt es ja eben nicht nur den Weg der vollen Mitgliedschaft in den engsten Gemeinschaften, die wir herstellen wollen. Es gibt die Assoziation mit diesen Gemeinschaften, es gibt die Eingliederung der kleinen Gemeinschaften in die größeren, die Kooperation in der Organisation für die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, es gibt die Zusammenarbeit im Europarat, um nur die wichtigsten Möglichkeiten zu nennen. Ich glaube also nicht, daß die Tatsache, daß Großbritannien sich der vollen Mitgliedschaft in jenen engeren Gemeinschaften zur Zeit versagt, für uns ein Grund sein sollte, die Bemühungen um diese Gemeinschaften einzustellen. Die Grundhaltung der Bundesregierung Nach diesen Vorbemerkungen ist die Grundhaltung der Bundesregierung in den Fragen der europäischen Politik leicht zu umschreiben. Unsere Europapolitik ist positiv, aktiv und konkret. Sie ist positiv. Das ganze deutsche Volk - von verschwindenden Ausnahmen abgesehen - bekennt sich zu den Werten Europas und dazu, daß die Einheit Europas in einer politischen Form Ausdruck findet. Eine bittere, lebensgefährliche Erfahrung hat unser Volk gelehrt, daß alle Kräfte zur Erhaltung, Entwicklung und Verteidigung der abendländischen Kultur angespannt werden müssen, wenn diese Kultur überleben soll. Wir sind uns auch der Tatsache zutiefst bewußt, daß die Einheit Europas auf weiten Gebieten des gesellschaftlichen Lebens der beteiligten Völker, nicht nur auf dem Gebiet der Kultur, längst eine Realität ist. Diese Tatsache kommt zu einem mehr als symbolischen Ausdruck in dem Katalog der Menschenrechte, der unlängst unter den Auspizien des Europarats erarbeitet worden ist und auf den sich die Regierungen verpflichtet haben. Nicht minder offenbar ist die Notwendigkeit einer Integration auf wirtschaftlichem Gebiet. In einer glänzenden Zusammenfassung, die in Deutschland einen tiefen und dauerhaften Eindruck hinterlassen hat, hat vor einigen Monaten der Präsident dieser Hohen Versammlung im deutschen Bundestag in Bonn die Gründe für die Zusammenfassung der wirtschaftlichen Kräfte Europas dargelegt. Er hat darauf hingewiesen, wie in den letzten Jahrzehnten der Anteil Europas an der wirtschaftlichen Gesamtproduktion der Welt und die Produktivität Europas zurückgegangen sind - so sehr, daß etwa seit dem Ende des ersten Weltkrieges dieses Europa wirtschaftlich nur lebensfähig erhalten worden ist durch die großzügige Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Marshallplan, so hat er mit Recht ausgeführt, ist nur eine neue Form, eine neue Einkleidung für diese alte Tatsache. Diese dauernd gewordene Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von den verlorenen Zuschüssen der Neuen Welt kann nur beseitigt werden, wenn Europa sich zu einer großräumigen Vereinigung seiner Märkte und einer Wirtschaftspolitik entschließt, sowie das in einer beispielhaften Weise für die Grundindustrien im Schumanplan versucht wird. Nur so wird ein Wirtschaftsfonds von einer Größe geschaffen, die eine moderne, rationale, nach dem wirtschaftlichen Prinzip verfahrende Wirtschaftspolitik möglich macht. Ähnlich zwingend sind die Erwägungen, die die Zusammenfassung der Verteidigungskräfte begründen. Eine einheitliche und straffe Organisation wird den Wert der Streitkräfte erhöhen. Eine Standardisierung der Ausrüstung wird die Nationalisierung der Rüstungsproduktion erleichtern - ganz abgesehen von den außerordentlichen Verurteilen, die wir uns von dem Zusammenwachsen der Bevölkerung verschiedener Nationen in einer einheitlichen Armee versprechen. Alles das sind nur Beispiele. Sie lassen sich beliebig mehren. Man denke an die Probleme des Verkehrs, auch des Luftverkehrs, an die Fragen der Elektrizitätswirtschaft, der Landwirtschaft, an wissenschaftliche Zusammenarbeit und verschiedenes Andere. Das Bekenntnis Deutschlands zu Europa hat aber nicht nur die Bedeutung einer Proklamation oder eines unverbindlichen Programms. Die Bundesregierung ist vielmehr auf die Verfolgung einer Politik, die diesem Bekenntnis entspricht, ausdrücklich verpflichtet. Schon das Grundgesetz der Bundesrepublik enthält eine Bestimmung, die die Übertragung von Souveränitätsrechten auf größere Gemeinschaften vorsieht, und darin liegt zugleich ein Auftrag an die Bundesregierung. Diesen grundsätzlichen Auftrag hat der deutsche Bundestag vor anderthalb Jahren noch einmal in aller Form bekräftigt. Und schließlich ist noch jüngst, kurz vor der gegenwärtigen Tagung dieser Hohen Versammlung, im Bundestag ein Beschluß zustande gekommen, der die hier teilnehmenden deutschen Abgeordneten zu einer weitgehenden Mitwirkung an den Vereinigungsbemühungen ermächtigt. Die Frage, wie wir uns zu der Vereinigung Europas verhalten, ist also nicht mehr offen. Die Antwort darauf ist in einer verbindlichen Form gegeben. Für schöpferische Eigeninitiative Europas selbst Die europäische Politik der Bundesregierung ist ferner, sagte ich, aktiv. Die Bundesregierung ist entschlossen, in der europäischen Frage nicht nur die Initiative anderer Länder auf sich zukommen zu lassen und ihr keinen Widerstand entgegenzusetzen, sondern sie nimmt an den Bemühungen einen handelnden Anteil. Man begeht, glaube ich, überhaupt einen Fehler, wenn man die europäische Frage nur unter dem Gesichtspunkt eines von außen auf uns eindringenden schicksalhaften Zwanges sieht und nicht als eine Angelegenheit einer schöpferischen Eigeninitiative Europas selbst. Gewiß ist es richtig, daß die von außen kommenden Bedingungen, die Europa veranlassen müssen, eine moderne und großräumige politische Organisation zu schaffen, von einer vitalen Bedeutung sind. Die äußere Bedrohung Europas ist deshalb so groß, weil das Potential, das gegen uns eingesetzt zu werden droht, praktisch in einer Hand zusammengefaßt ist. Wir sind zwar weit entfernt davon, daraus die Folgerung zu ziehen, daß die Verfassung Europas im Stil eines Einheitsstaates entworfen werden müßte. Aber zwischen diesem Extrem und demjenigen, das der gegenwärtige Zustand Europas aufweist, gibt es Zwischenlösungen, die ebensosehr dem Bedürfnis nach Einheit genügen, wie sie die überkommene Vielfalt der Bedingungen, Gewohnheiten und legitimen Sonderinteressen in den Einzelstaaten schonen. Das ist es eben, was wir eine Föderation nennen. Noch können wir kein exaktes Bild dieser Föderation zeichnen. Wir wissen nur, daß es eine Zusammenfassung sein wird, die diejenigen Teile staatlicher Aktivität zusammenfaßt, die die Vereinigung zulassen und fördern, dabei aber den Mitgliedstaaten auf den anderen Gebieten ein uneingeschränktes Eigenleben gestattet. Ich sage: Es ist wahr, daß diese von außen kommende Bedrohung uns mit schmerzlicher Schärfe bewußt macht, wie nötig und wie eilig die europäische Zusammenfassung ist. Aber es wäre doch ganz falsch, in diesem äußeren Zwang das alleinige oder auch nur das entscheidende Motiv der europäischen Bemühungen zu sehen. Die tieferen und stärkeren Gründe für dieses europäische Vereinigungsstreben sind innere Gründe. Es ist der ursprüngliche Wunsch der europäischen Völker, ihr politisches Schicksal künftig gemeinsam zu gestalten. Es ist ihre Überzeugung, daß die historische Stunde gekommen ist, um die entscheidenden Schritte zu tun. Es ist ihre Einsicht, daß das Zeitalter des Nationalismus sich seinem Ende zuneigt und daß eine Entwicklung zu neuen größeren Einheiten angebrochen ist. Der Zwang zu einer europäischen Vereinigung ist also nicht ein Schicksal, das Europa erleidet. Es ist vielmehr ein schöpferischer Impuls, der der Größe der europäischen Tradition würdig ist, und darum wird er auch die akute Gefahr überdauern. Schritt für Schritt Schließlich ist die Europapolitik der Bundesregierung konkret. Wir beobachten mit allem Respekt und mit Bewunderung die Größe der Konzeption, den Schwung der Idee und die sachliche Leidenschaft, mit der man am Werke ist, um auf einmal und sogleich die ganze große Lösung des Problems der Einheit Europas zu entwerfen. Solche Unbedingtheit der Forderung ist auch in unseren Augen das sicherste Symptom für die Stärke der europäischen Idee. Aber als praktische Politiker glauben wir, daß wir uns bescheiden müssen. "Die Politik ist die Kunst des Möglichen", sagt man. Das heißt, sie muß mit einem gesunden Realismus ihre Handlungen den Gegebenheiten anpassen. Sie muß, wenn das Ganze nicht erreichbar ist, den Teil davon verwirklichen, der möglich ist, und darf im übrigen der Kraft der Entwicklung vertrauen. Ein Politiker würde falsch handeln, der das Gute nicht tut, weil das Bessere noch nicht erlangbar ist, oder der den Schritt, der heute möglich ist, unterläßt, weil er glaubt, daß ihm der größere Schritt wohl morgen gelingen wird. Schritt für Schritt vorgehen scheint uns also auch in der europäischen Frage die richtige Maxime. So haben wir bisher gehandelt. Wir haben uns nicht gescheut, in den Europarat in einem Zeitpunkt einzutreten, in dem uns die Vollmitgliedschaft noch versagt war. Wir haben uns an der Gestaltung des Schumanplans beteiligt. Wir haben nicht gezögert, an den Arbeiten einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft teilzunehmen, obwohl gerade bei dieser Teillösung ihre Ergänzungsbedürftigkeit nach der politischen Seite hin besonders deutlich zutage liegt. Und ebenso haben wir uns in bezug auf alle anderen Pläne verhalten, sei es, daß die Initiative dazu dem Schoße des Europarats entstammt, sei es, daß sie von einzelnen europäischen Regierungen ausging. Ich habe schon dargelegt, daß wir uns nicht deshalb so verhalten haben, weil wir Stückwerk einer abgerundeten Gesamtlösung vorziehen. Wir haben es vielmehr getan, weil wir glauben, daß diese induktive Methode den Vorteil größerer Sachnähe hat, also praktisch brauchbare Lösungen verbürgt, und weil wir weiter davon überzeugt sind, daß mit einer Notwendigkeit, die ich beinahe naturgesetzlich nennen möchte, all diese Einzellösungen auf eine Koordinierung, ja Verschmelzung hindrängen. Das sind die wesentlichen Züge unserer Europapolitik. Die Bundesregierung ist entschlossen, auf diesem Wege fortzufahren, ja sie ist entschlossen, die Energie zu verdoppeln, die auf diese Politik verwendet wird. Denn - und mit diesem Hinweis lassen Sie mich diese Darlegungen schließen - wir haben keine unbegrenzte Zeit für die Verwirklichung unseres Programms. Die Dinge sind an einem Punkt angelangt, wo die Völker mit Ungeduld reale Ergebnisse von uns fordern. Müssen wir uns nicht fragen, ob wir wirklich immer alles uns Mögliche getan haben, ob wir wirklich zuerst an das Ganze, an unser gemeinsames europäisches Interesse gedacht haben, ob wir wirklich unsere Sonderinteressen so haben zurücktreten lassen, wie der Geist einer echten Gemeinschaft es erfordert? Wir müssen uns diese Fragen immer wieder vorlegen, und vor allem müssen wir uns bewußt sein, daß die Gunst der geschichtlichen Stunde nicht wiederkehrt. Fassen wir alles zusammen, was die gegenwärtige Lage kennzeichnet: den äußeren Zwang, den Reifegrad der politischen Diskussion, wie er sich vor allem in den Verhandlungen dieser Hohen Versammlung dokumentiert, die Bereitschaft der Regierungen, so kann die Losung nur lauten: Handeln wir! Handeln wir rasch! Morgen könnte es zu spät sein!