Churchill 11.08.1950 Rede vor dem Europarat zur Schaffung einer europäischen Armee Straßburg - im Wortlaut Wir stimmen mit dem Ministerausschuß überein, daß im vergangenen Jahr bestimmte Fortschritte in der Entwicklung des europäischen Begriffs, der durch diese Versammlung vertreten wird, gemacht worden sind. Es gibt jedoch einige wichtige Punkte, die zwischen uns offenstehen. Wir bedauern, daß sie vom Ministerausschuß etwas unüberlegt bis zum Oktober zurückgestellt wurden. Die Versammlung sollte in den Fragen, um die es geht, ihre Meinung durchsetzen. Es besteht wirklich kein Grund, warum beispielsweise eine hier mit Zweidrittelmehrheit angenommene Resolution nicht formell unseren Parlamenten bekanntgemacht und vorgelegt werden sollte, wobei es natürlich klar ist, daß nichts die Regierung oder das Parlament daran hindern kann, nach einer Debatte, je nachdem wie es Regierung und Parlament für wünschenswert erachten, ihre eigenen Entscheidungen über die aufgeworfenen Fragen zu treffen. Es ist für die Zukunft dieser Versammlung von Bedeutung, daß sie in ständig engeren Kontakt nicht nur mit den ausübenden Regierungen gebracht wird, sondern auch mit den repräsentativen Institutionen, auf denen in allen echten Demokratien die ausübenden Regierungen allein gegründet sein können. Was Großbritannien anbetrifft, so kann ich jedoch garantieren, daß alle Resolutionen dieser Versammlung dem Unterhaus zur Erörterung der Hauptpunkte vorgelegt werden, gleichgültig, ob wir mit diesen übereinstimmen oder nicht. Zu diesem Zweck werden wir die Möglichkeiten anwenden, die der offiziellen Opposition zur Verfügung stehen. Ich zweifle nicht daran, daß das Oberhaus ähnliche Maßnahmen ergreifen wird. Ich schlage meinen hier anwesenden Kollegen anderer Länder vor, daß sie die Freiheiten der Verfahrensordnung, die ihre eigenen Parlamente im Überfluß besitzen, für den gleichen Zweck benutzen und daß dies unsere allgemeine Praxis wird, wofern nicht oder bis nicht die hinderlichen Einflüsse des Ministerausschusses überwunden oder verschwunden sind. Es gibt auch noch andere Meinungsverschiedenheiten, die sich als Ergebnis unserer Erörterungen wieder in Ordnung bringen lassen. Ich habe stets die Überzeugung vertreten, daß der Aufbau eines europäischen Parlaments allmählich fortschreiten und auf einer Welle von Tatsachen, Ereignissen und Impulsen vorangetragen werden muß und nicht so sehr durch die Schaffung einer ins einzelne gehenden Verfassung. Entweder beweisen wir Europa unser Würdigsein, unser Gewicht und unseren Wert, oder wir werden versagen. Wir sind nicht dabei, eine Maschine zu konstruieren, vielmehr züchten wir eine lebende Pflanze heran. Zweifellos bedeutet es einen Schritt vorwärts, daß Mr. MacBride, der Vertreter des Ministerausschusses, unter uns weilt, um dessen kollektive Meinung - wenn er eine hat - der Versammlung unmittelbar darzulegen und mündlich Fragen zu behandeln, die wir vielleicht aufwerfen. Wenn wir freilich nicht nur auf die vergangenen zwölf Monate zurückschauen, sondern uns an DenHaag vor zwei Jahren erinnern, dann ist es erstaunlich, den Fortschritt zu sehen, der in dieser kurzen Zeit seit jenem inoffiziellen Zusammentreffen von Enthusiasten gemacht worden ist, die sich für die Sache der Versöhnung und der Wiedergeburt dieses zerstörten Kontinents einsetzten, sowie sich das heutige Bild zu vergegenwärtigen, da wir alle zusammen in unserem eigenen Haus - dem Europahaus - unter den Flaggen von fünfzehn geschichtlichen Staaten und Nationen versammelt sind und unser Einfluß und die Achtung vor uns ständig wächst. In allem, was wir tun und sagen, dürfen wir die Hoffnung und den Glauben von Millionen und aber Millionen von Männern und Frauen nicht nur in den freien Ländern Europas, sondern auch in den Ländern, die sich noch in der Knechtschaft befinden, nicht enttäuschen. Die Botschaft des gemeinsamen Thrones - wenn ich den Ministerausschuß einmal so bezeichnen darf - hat unsere Aufmerksamkeit auf den Schuman-Plan zur wirksamen Zusammenschließung der Grundindustrien der westlichen Nationen gelenkt und uns aufgefordert, unsere Meinung hierzu zu äußern. Wir sind durchaus bereit, das zu tun, und es mag sogar in unserer Macht liegen, einige Mißverständnisse und Vorurteile, die durch die Behandlung dieses hoffnungsvollen Planes in einigen unserer nationalen Parlamente entstanden sind, auszugleichen. Einige meiner britischen Kollegen haben einen konstruktiven Beitrag, der noch der Erörterung der Versammlung bedarf, hierzu geleistet, und ich hoffe, daß ihren Ansichten sorgfältige und freundschaftliche Aufmerksamkeit nicht nur von anderen Regierungen und Parlamenten, sondern auch von ihrer eigenen Regierung und ihrem Parlament geschenkt wird. Es wird eine denkwürdige Tat sein, wenn diese Versammlung sich fähig zeigt, unentschlossenen Regierungen und rivalisierenden Parteien eines Planes praktisch die Richtung zu weisen, eines Planes, der versucht, auf den Ruinen der französisch-deutschen Kriege und Streitigkeiten das Gebäude eines produktiveren und stabileren industriellen Lebens für die vielen Angehörigen unserer Völker aufzurichten, die davon betroffen sind. Wir sprechen M. Schuman für seine kühne Initiative und für seine Gefälligkeit, uns hier darüber zu berichten, unseren Dank aus. Die Botschaft aber, die uns vom Ausschuß zugegangen ist, lenkt mit ihren Schlußabschnitten unsere Aufmerksamkeit auf die ernstesten Fragen, die heute über der Weltpolitik schweben. Man fordert uns auf, das Vorgehen der Vereinten Nationen in Korea zu billigen und unsere "völlige Solidarität" mit dem Widerstand gegen die Aggression zu erklären, dessen Last gegenwärtig von den Vereinigten Staaten getragen wird, der uns aber alle betrifft. Niemand kann über unsere Antwort im Zweifel sein oder darüber, daß die Europäische Versammlung ihr Äußerstes tun wird, um die Sache der Freiheit und die Herrschaft des Rechts zu stützen, welche heute auf das schwerwiegendste gefährdet sind. Wie aber stellt sich unsere Lage hier dar, hier in dieser lachenden Landschaft und ihren vom Kriege gezeichneten Städten und ihrer Bevölkerung, die so reich an Tradition, Tugend und Ruhm ist und die danach strebt, sich von den Folgen einer tragischen Vergangenheit wieder zu erheben? Der Ministerausschuß hat uns durch seine Botschaft praktisch aufgefordert, die militärische Seite unserer Lage in ihrer weiteren Bedeutung zu prüfen. Sicherlich wäre es nutzlos und absurd, wollte man versuchen, die Zukunft Europas und ihre Beziehung zur Weltpolitik und den Vereinten Nationen zu erörtern, wenn man diese beherrschende Seite der Frage willkürlich ausschließen würde. Nahezu alle Redner, die zu uns gesprochen haben, einschließlich der beiden britischen Sozialisten, haben dieses bislang verbotene Gebiet betreten. Und die wirksame Besitzergreifung dieses Gebietes ist nunmehr ein "fait accompli". Ich freue mich, daß die Deutschen trotz ihrer eigenen Probleme hierhergekommen sind, um die Gefahren mit uns zu teilen und unsere Stärke zu erhöhen. Bereits vor einem Jahr hätten sie hier sein sollen. Ein Jahr wurde vergeudet, doch ist es noch nicht zu spät. Es gibt keine Wiedergeburt Europas, keine Sicherheit und keine Freiheit für irgendeinen von uns, es sei denn, wir stehen zusammen, einig und unverzagt. Ich bitte die Versammlung, unseren deutschen Freunden zu versichern, daß wir ihre Sicherheit und Freiheit ebenso heilig wie unsere eigene halten werden. Ich habe sagen hören, daß es ein Vorwand für einen Präventivkrieg von seiten Rußlands sein könnte, wenn alle Deutschen mit Ausnahme der Kommunisten bewaffnet würden. Glauben Sie mir, die auf lange Sicht berechneten Absichten der Sowjetregierung werden durch Ereignisse dieser Art weder zeitlich beeinflußt noch abgelenkt werden. Es steht außer Zweifel, daß wir uns alle in großer Gefahr befinden. Die Freiheit der Zivilisation Westeuropas liegt im Schatten einer russisch-kommunistischen Aggression, hinter der enorme Rüstungen stehen. Die sowjetischen Streitkräfte in Europa sind denen der Westlichen Union, gemessen an stehenden Divisionen, Flugzeugen und Panzerfahrzeugen mindestens sechs- oder siebenfach überlegen. Dies sind furchtbare Tatsachen. Und es ist ein Wunder, daß wir hier in unserem neuen Europahaus sitzen und in aller Ruhe unsere Pläne für das künftige Wohlergehen und die künftige Einigkeit unserer Völker sowie ihre moralischen und kulturellen Ideale erörtern. Es ist ein Wunder. Aber zumindest ist dies besser, als in eine Panik zu geraten. Die Gefahr ist selbstverständlich nicht neu. Sie lag in der Tatsache begründet, daß die freien Demokratien des Westens nach dem Kriege ihre Streitkräfte entwaffneten und auflösten, während die Diktatur im Kreml riesige Armeen aufrechterhielt und sich auf jede Weise anstrengte, diese neu auszurüsten. Vor zwei Jahren wurde der Westunion-Pakt unterzeichnet und eine Reihe von Ausschüssen errichtet, die, wie M. Reynaud und andere sich ausdrücken, seither ununterbrochen geredet haben. Eindrucksvolle Konferenzen sind von hohen Militärs und Fachleuten abgehalten worden. Und eine prätentiöse Fassade ist von den Regierungen, die für unsere Sicherheit verantwortlich sind, aufgebaut worden. In Wirklichkeit jedoch ist, abgesehen von der Errichtung eines amerikanischen Bomberstützpunktes in England, nichts getan worden, um unsere Völker wirksam davor zu schützen, von den russischen kommunistischen Armeen mit ihren Massen von Panzern und Flugzeugen unterjocht oder zerstört zu werden. Ich selbst und andere haben jede nur mögliche Warnung ausgesprochen. Aber, wie in der Vergangenheit, sind sie auf taube Ohren gefallen oder wurden dazu benutzt, die falsche Anschuldigung der Kriegshetzerei zu stützen. Nunmehr haben jedoch plötzlich der Blitzschlag in Korea und der auf ihn folgende um sich greifende Brand die gesamte freie Welt zu einer durchdringenden und aufrüttelnden Erkenntnis der Gefahr gebracht, in welcher sie schwebt. Viele Maßnahmen werden jetzt vorgeschlagen, die, wenn sie vor zwei Jahren getroffen worden wären, bis heute mindestens einige Früchte getragen haben würden. Was heute vorgeschlagen wird und vor zwei Jahren hätte getan werden sollen, könnte gut halbwegs unseren Bedürfnissen entsprechen. Ich zweifle nicht daran, daß die tiefere Erkenntnis der tödlichen Gefahr, in der wir uns befinden, in uns jenen Trieb der Selbsterhaltung wachrufen wird, der die Grundlage menschlichen Daseins ist. Dies geschieht jetzt. Mr. Edelman hat uns an die ungeheure Ueberlegenheit auf dem Gebiet des Stahls, des Öls, des Aluminiums und anderer Materialien, worauf das Verteidigungspotential der freien Nationen beruht, erinnert. Vieles davon aber könnte zur Beute des Angreifers werden, wenn wir zuerst niedergeworfen würden. M. Andri Philip erklärte am Dienstag, daß "Frankreich nicht den Wunsch hätte, noch einmal befreit zu werden". Nach einer Zeit russisch-kommunistischer Besetzung würde es, wie M. Reynaud betont hat, nicht viel zu befreien geben. Die systematische Liquidierung aller kommunistenfeindlichen Elemente würde wenig übriglassen, was von den Rettern oder Ueberlebenden wiedererkannt werden könnte. Wir in dieser Versammlung besitzen keine Verantwortung und keine Exekutivgewalt. Aber wir sind verpflichtet, zu warnen und zu raten. In der kürzestmöglichen Zeit muß eine echte Verteidigungsfront in Europa geschaffen werden. Großbritannien und die Vereinigten Staaten müssen starke Verbände nach dem Kontinent entsenden. Frankreich muß seine berühmte Armee wiedererstehen lassen, unsere italienischen Kameraden willkommen heißen. Alle - Griechenland, die Türkei, Holland, Belgien und Skandinavien - müssen ihren Anteil tragen. Mut und Einigkeit müssen uns beschwingen und die mächtigen Energien, die unseren Regierungen zur Verfügung stehen, auf solide und angemessene Verteidigungsmaßnahmen richten. Wer höchsten Zielen dient, bedenkt nicht, was sein Lohn sein wird, sondern was er geben kann. Laßt Geben unser Vorrecht sein! Laßt uns darin wetteifern in den Jahren, die vor uns liegen! Die uns herausfordernde Frage ist: "Werden wir die Zeit dazu haben?" Niemand kann diese Frage mit Sicherheit beantworten. Anzunehmen, daß wir zu spät kämen, wäre reinster Wahnsinn der Verzweiflung. Wir stehen noch unter dem Schutzschild der Atombombe, die allein die Vereinigten Staaten in achtunggebietender Menge besitzen. Der Einsatz dieser Waffe würde die Grundlagen des Sowjetregimes im gesamten riesigen Raum Rußlands erschüttern. Und der Zusammenbruch der Verkehrsverbindungen und der zentralen Kontrolle könnte sehr wohl die tapferen russischen Völker in die Lage versetzen, sich von einer Tyrannei zu befreien, die weit schlimmer ist als die der Zaren. Es ist sehr wahrscheinlich, daß eine derartige Möglichkeit ein wirksames Abschreckungsmittel gegen eine sowjetische Aggression darstellt, wenigstens so lange, bis die Sowjets durch einen langwierigen Prozeß einen ausreichenden Vorrat von eigenen Atombomben geschaffen haben. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb der allgemeine bewaffnete Ansturm des Kommunismus auf die westlichen Demokratien sich verzögern mag. Der sowjetische Diktator hat keinen Anlaß, mit der Art und Weise unzufrieden zu sein, wie sich die Dinge entwickelt haben. Seit Ende des Weltkrieges im Jahre 1945 haben sie die Kontrolle über halb Europa und ganz China gewonnen, ohne einen einzigen russischen Soldaten zu verlieren. Sie haben auf diese Weise ihrer eigenen ungeheuren Bevölkerung nahezu 500 Millionen Menschen hinzugefügt. Sie haben überreichlich Gelegenheit, Unruhe zu stiften und uns zu veranlassen, durch das Vorgehen ihrer Satelliten unsere Kräfte unnötig zu verzetteln. Es hat den Anschein, als ob Tibet das nächste Opfer sein soll. Im Zuge dieser Ablenkungsmanöver sind sie fähig, Frieden zu predigen, während sie einen aggressiven Krieg planen und ihren Atombombenvorrat vergrößern. Aber meiner Überzeugung nach ist uns eine Atempause vergönnt. Wenn wir diese klug und geschickt benutzen, und sie nicht nutzlos vergeuden - wie wir bereits so vieles vergeudet haben -, dann dürften wir die Abschreckungsmittel gegen eine größere kommunistische Aggression noch stark vermehren können. Durch ein Schließen der Lücke in der Verteidigung der Westmächte in Europa werden wir die sichersten Mittel dafür finden, nicht nur unser Leben und unsere Freiheiten zu retten, sondern auch einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Wenn wir in der Lage sind, im Verlauf von ungefähr zwei Jahren ein verläßliches Verteidigungssystem gegen eine kommunistische Invasion zu schaffen, so werden wir zumindest die greifbarste Versuchung für jene beseitigt haben, die danach trachten, den freien Demokratien ihren Willen mit Gewalt aufzuzwingen. Ein derartiges Verteidigungssystem im Westen wird allein die beste Möglichkeit für eine endgültige Regelung auf dem Wege der Verhandlung mit den Sowjets bieten, und zwar auf der Grundlage unserer Stärke und nicht unserer Schwäche. Aber kein Tag darf verloren werden, kein Bruchteil verfügbarer Stärke außer acht gelassen werden. Wie ich bereits erwähnt habe, besitzt diese Versammlung keine Macht zu handeln. Auch suchen wir nicht, die verantwortlichen machtausübenden Regierungen ihrer Pflichten zu entbinden. Wir sollten jedoch unsere gemeinsamen Überzeugungen bekanntgeben. Wir sollten heute eine Botschaft des Vertrauens und des Mutes vom Europahaus an die gesamte Welt senden. Wir sollten nicht lediglich, so wie wir ersucht worden sind, unsere Treue den Vereinten Nationen gegenüber erneut versichern, sondern eine richtungweisende Geste praktischer und konstruktiver Natur machen, indem wir uns für die sofortige Schaffung einer europäischen Armee unter einem einheitlichen Kommando aussprechen, an der wir alle einen würdigen und ehrenhaften Anteil haben. Aus diesem Grunde schlage ich Ihnen folgende Resolution vor: "Die Beratende Versammlung wünscht die Erhaltung des Friedens, und ist entschlossen, das Vorgehen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Verteidigung friedlicher Völker gegen Aggression zu unterstützen. Sie fordert die sofortige Schaffung einer vereinten europäischen Armee, die einer geeigneten europäischen demokratischen Kontrolle unterworfen ist und aufs engste mit den Vereinigten Staaten und Kanada zusammenarbeitet." Ich glaube, daß diese Resolution ein offenes und formales Votum sein wird, das die überwältigende, wenn nicht in der Tat sogar die einstimmige Unterstützung der Versammlung erhalten wird. Dies wäre der größte in unserer Kraft stehende Beitrag, den wir für die Sicherheit und den Frieden der Welt leisten können. Lassen Sie uns daher zusammen vorwärtsschreiten in der Überzeugung, daß wir zumindest unsere Pflicht getan haben.