Schumacher 21.09.1949 Bundestagsrede Antwort auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Adenauer - im Wortlaut Meine Damen und Herren! Die Erklärung der Bundesregierung sollte nicht als etwas Isoliertes betrachtet werden. Sie gehört zusammen mit der Politik der Parteien, die heute die Bundesregierung bilden, mit den Parolen des Wahlkampfs, mit den Deklarationen nach dem Wahlergebnis, mit den Methoden der Kabinettsbildung und mit der Zusammensetzung des Kabinetts. Wollte man den Kardinalsatz der Regierungserklärung, daß die Bundesregierung die soziale Gerechtigkeit zum obersten Prinzip ihrer Handlungsweise nehmen wolle, als das Programm der Regierung voll akzeptieren, dann müßte man sagen: mit diesem Programm hätte der Herr Bundeskanzler am 14. August einen rauschenden Wahlsieg über die Politik seines Wirtschaftsministers und seines Vizekanzlers davongetragen. Aber, meine Damen und Herren, Sozialpolitik kostet etwas, und der deutsche Besitz, der ja in seiner überwiegenden Mehrzahl hinter der neuen Bundesregierung steht, hat diese Regierung bestimmt nicht etabliert, um besonders große Aufwendungen für das Volk zu machen. Die Bundesregierung ist jetzt mit einer Erklärung hervorgetreten, die eine Reihe sozialpolitischer, allerdings nicht genau akzentuierter Versprechungen enthält. Am deutlichsten ist sie eigentlich bei dem Versprechen der Steuersenkung geworden. Nun ist auch unsere Meinung, daß die Struktur des deutschen Steuerwesens stark umgebaut werden sollte, daß sie nach Ertrag und Rationalität nicht das ist, was unser Staatswesen nötig hat. Wenn wir aber die Steuersenkung als Hauptpunkt, als Grundlage der wirtschaftlichen Erholung betrachten wollten, dann käme die Steuersenkung in eine Konkurrenz mit den sozialen Leistungen auf der einen und den Besatzungskosten auf der andern Seite. Die sozialen Leistungen und die Steuersenkung zusammen dürften sich kaum verwirklichen lassen. In Erkenntnis dieser Tatsache hat der Herr Bundeskanzler die sozialen Leistungen bereits von einer Reihe von Bedingungen abhängig gemacht, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie schon in nächster Zeit realisiert werden, nämlich von einer Wirtschaftsblüte, von entsprechenden Steuererträgnissen und ähnlichem mehr. So kommen wir wohl zu dem Schluß, daß die Steuersenkung als nahe Wahrscheinlichkeit vor uns steht, die sozialen Leistungen aber auf den Weg der Vertröstung gleiten werden. - Wieso? Haben Sie so viel Zeit? Eine gewisse Überraschung hat vielleicht der idyllische Ton der gestrigen Regierungserklärung hervorgerufen. Auf den Ton abgestimmt "es ist alles nicht so schlimm", können wir nur antworten: es sieht so aus, als ob alles sehr viel schlimmer wäre, als die Regierungserklärung angedeutet hat. Schließlich ist doch der tatsächliche Kern, der Punkt, bei dem ein eindeutiges Bekenntnis der Bundesregierung vorliegt, die Erklärung, daß man am bisherigen Kurs der Frankfurter Wirtschaftspolitik festhalten wolle. In Verbindung damit sind einige andere sehr reale Dinge angedeutet worden, als da sind: die Aufhebung der Zwangswirtschaft auch für die Güter, bei denen heute noch fixierte Preise vorliegen, und ähnliche Bemerkungen sind bei der Betrachtung über Wohnungswirtschaft und Mietpreisgestaltung gemacht worden. Die Erklärung der Bundesregierung ist nicht nur interessant durch das, was in ihr enthalten ist, sondern fast noch interessanter durch das, was sie nicht genannt hat. Wir können uns ein demokratisches Staatswesen nicht vorstellen, bei dem die Arbeiter eine so geringe Rolle spielen, daß die Regierungserklärung das Wort "Arbeiter" nicht einmal erwähnt hat. Und wir können uns einen funktionierenden sozialen Organismus auch nicht recht vorstellen, bei dem die Gewerkschaften unerwähnt bleiben. Es scheint mir eine schwere Undankbarkeit gegenüber den Gewerkschaften und der Rolle dieser Organisationen zu sein, wenn man nicht anerkennt, daß ohne diese Gewerkschaften die Situation des deutschen Volkes nach innen und außen eine sehr viel schlechtere sein würde. Und wir haben auch vermißt - bei aller Anerkennung der liebenswürdigen Ausflüge in das Gebiet der Nöte der unverheirateten Frauen - ein grundsätzliches Anerkenntnis der Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz, wie das Bonner Grundgesetz es gebracht hat. Aus dieser These nämlich resultiert für die Regierung eine große Menge von Aufgaben, und wir hätten gerne gewußt, wie die Verwirklichung dieser Aufgaben sich in den Augen der Regierung darstellt. Nun, wir sind die Opposition, und was Opposition ist, darüber hat sich eine unglaublich naive Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit erhoben. Die Wertung der Opposition und der Regierung, die vorbehaltlose Überbewertung der Regierungsfunktion und die ebenso vorbehaltlose Unterbewertung der Oppositionsfunktion stammt aus dem Obrigkeitsstaat, und die Begriffe des Obrigkeitsstaates scheinen noch in vielen Köpfen auch in diesem Hause sehr lebendig zu sein. Eine Opposition ist in ihren Qualitäten nicht dann staatserhaltend, wenn sie eine wohlwollende Beurteilung durch die Bundesregierung oder durch ihre Parteien findet. Wir haben eine in Sachen der Besitzverteidigung sehr unsentimentale Regierung, und es wird die Aufgabe der Opposition sein, bei der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung ebenso unsentimental zu sein. Der Egoismus liebt es, an das Gemeinschaftsgefühl zu appellieren. Die Regierung und die Opposition werden ihre Qualität durch ihre Leistungen bestimmen. Aber, werte Abgeordnete, der Grundsatz gilt für die Opposition, daß die Bundesregierung sich die Mehrheiten für ihre Gesetze aus den Reihen der Regierungsparteien zu schaffen hat. - Verzeihung, Sie haben die Bemerkung gemacht: "Grundsätzlich gegen alles". Ich glaube, darauf antworten zu müssen. Ich bin nicht in der Lage, in drei Sätzen alles zu sagen, was ich zu sagen habe. - Nun, der Kanzler hat 82 Minuten gesprochen, das ist etwas länger. Man kann also als Opposition nicht die Ersatzpartei für die Regierung sein und die Verantwortung für etwas übernehmen, wofür die Verantwortung zu übernehmen sich manche Regierungsparteien gegebenenfalls scheuen werden. Die Opposition ist ein Bestandteil des Staatslebens und nicht eine zweitrangige Hilfestellung für die Regierung. Die Opposition ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer Totalherrschaft. Ihre Eindeutigkeit zwingt alle Parteien, die der Opposition, wie die der Regierung, ihr innerstes Wesen an ihren Taten zu offenbaren. Es wäre nämlich ein Fehler, weiter den Zustand der Wesensunechtheit in der Propaganda der politischen Parteien zu belassen. Tatsachen müssen sprechen. Aber ebenso richtig ist, daß die Opposition sich nicht in der bloßen Verneinung der Regierungsvorschläge erschöpfen kann. Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen. Aus dem Wesen und der Zusammensetzung dieser Regierung heraus besteht die große Gefahr, daß dieser neue Staat ein autoritärer Besitzverteidigungsstaat werden kann. Man hat doch in der Zusammensetzung der Regierung und den Gestern vorgetragenen Tendenzen gesehen, daß die erste Periode von Weimar - wenn Vergleiche erlaubt sind - glatt übersprungen worden ist und wir bereits in einer zweiten Periode der absoluten Restauration mit stark vorweimarischen Zügen sind. Das bringt die Gefahr der Entfremdung der arbeitenden Menschen vom Staat. Das ist eine Gefahr, die wir als Opposition bekämpfen wollen. Wir können den heutigen politischen Machtzustand sich nicht stabilisieren lassen. Es ist die Aufgabe der Opposition, die Dinge im Fluß im Sinne einer Entwicklungsmöglichkeit zum Demokratischen und Sozialen zu halten. Manches, was gestern gesprochen worden ist, war eine Schau nach rückwärts. Ich möchte eindeutig sagen, daß auch der wohlwollendste Ton der Ermahnung und die allmählich etwas abgestandene Bemerkung, daß die Jugend die Zukunft bedeute, der Jugend sehr wenig sagt. Die Jugend wünscht realen Boden, wünscht positive Lebensaussichten durch eine soziale Politik, und die Jugend wünscht, gleichberechtigt behandelt zu werden. Auf alles kann die Jugend verzichten, sogar auf Moralpredigten und Ermahnungen. Nicht verzichten kann sie auf das Gefühl, als gleichwertiger Faktor im Staats- und Volksleben geachtet zu werden. Die Regierungsbildung ist eine notwendige Abrundung der Regierungserklärung; sie steht unter dem Zeichen des 14. August. Allerdings hat sie länger gedauert, als man damals annahm. Ihre Methoden waren nicht so eindeutig wie nach den Versicherungen der Regierungsparteien das Wahlergebnis des 14. August sein soll. Die Regierung steht eben unter dem Eindruck der Tatsache, daß der Rechtsruck im deutschen Volk bedeutsamer ist, als die Mandatszahlen des 14. August ausdrücken. Dieser Druck von rechts kann bis tief in die Mitte hinein lähmende und ändernde Wirkungen haben. Darum ist es schon verständlich, wenn man den Gefahren von allen Seiten dadurch entgegentreten will, daß man sich sehr stark in sozialen Versicherungen gefällt. Unverständlich bleibt dann, warum man in der Frankfurter Wirtschaftspolitik alles das verhindert hat, was man jetzt als Zukunftsversprechungen an die arbeitenden Massen in Deutschland gibt. Die Dauer, die Methoden der Regierungsbildung und die Art, mit der die Macht im Staat auf allen Gebieten verteilt worden ist, haben keinen sehr berückenden und beglückenden Eindruck auf das deutsche Volk gemacht. - Verzeihen Sie, Sie sind wohl mit Verspätung als Kreuzfahrer aus Bayern hier in Bonn eingetroffen! Die Sache war zu geschäftig und geschäftlich betrieben und hat zuviel politische Wahlarithmetik enthalten, als daß sie einen überzeugenden eindeutigen Eindruck auf die Bevölkerung machen könnte. Ich meine: wenn man all die Herren, denen man einen Ministerposten versprochen hat und die ihn dann nicht bekommen haben, heute hier zu einer Fraktion zusammenfassen würde, dann wäre das nicht die kleinste Fraktion des Bundestags. Wir haben bei der Organisation der Regierung eindeutig zu erklären, daß wir mehr Ministerien erhalten haben, als vorher - gerade nach den Erklärungen maßgebender Männer der Regierung - notwendig zu sein schien. Wir haben drei Ministerien zuviel! Wir haben außerdem Sorgen um die innere Organisation der Ministerien. Der Herr Bundeskanzler hat sich gestern zum Prinzip des Berufsbeamtentums bekannt. Dieses Prinzip des Berufsbeamtentums aber, das im Sinne der Leistung und im Sinne der Überwindung des Kastenwesens änderungs- und entwicklungsbedürftig ist, hat dann einen großen politischen Sinn, wenn die Beamtung ein vertrauenswürdiges Instrument für jede demokratische verfassungsmäßige Regierung ist. Wir betonen an dieser Stelle bei der Neuorganisation der Behörden die Gleichberechtigung, aller verfassungstreuen politischen Richtungen in der Besetzung der Beamtenpositionen. - Die Herren, die mir widersprechen, scheinen die Tatsache ihrer Regierungsbeteiligung mit der anderen Tatsache zu verwechseln, daß es große Stellenvermittlungs-Organisationen gibt. Wir haben bei der Organisation der Regierung ohne Zweifel der Position des Bundesfinanzministers ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Wir betonen, daß ein Bundesfinanzminister mit gleicher Gerechtigkeit gegenüber allen Ländern Deutschlands die gleichen Prinzipien und den gleichen Willen zu zeigen hat. Wir dürfen nicht erleben, daß ein Bundesfinanzminister etwa der Verlockung einer praktisch betätigten überstarken Heimatliebe unterliegt. - Was wissen Sie denn vom Sozialismus; buchstabieren Sie einmal das Wort! Ohne eine gleichmäßige gerechte Anwendung der Finanzhoheit ist keine Hilfe für die schwachen Länder, aber auch keine Möglichkeit der Bewältigung der entscheidenden großen sozialen Fragen, keine Hilfe in der kardinalen Frage der Flüchtlinge gegeben. Die Wahlen in den steuerschwachen Ländern haben ja gezeigt, daß dort, wo die Armee der Flüchtlinge massiert und deshalb die Arbeitslosigkeit überstark ist, die Chance für den Radikalismus - das ist in der heutigen Situation der Rechtsradikalismus - vorhanden ist. - Nun hören Sie mal! Sie werden doch von einem demokratischen Deutschen keine Sympathie für den Rechtsradikalismus verlangen. Was wir dem Rechtsradikalismus und dem Hypernationalismus in erster Linie vorwerfen, das ist der Umstand, daß er in seinen Auswirkungen schlecht für Deutschland ist. Gerade darum muß die Hilfe den steuerschwachen Ländern zuteil werden, weil da die sozialen Probleme sich am stärksten auswirken. Interessant und etwas schmerzlich war uns, daß in der gestrigen Regierungserklärung kein Wort von dem Finanzausgleich zu hören war und auch nichts von den Gemeinden, ihrer Selbstverwaltung, ihren großen Aufgaben, ihrer sozialen Belastung und dem ganzen Komplex, der doch praktisch jeden Tag an jeden deutschen Staatsbürger herantritt. Wir kündigen stärkste Gegnerschaft an für den Fall, daß das Bonner Grundgesetz nach Sinn und Buchstaben zugunsten betont überföderalistischer Regelungen seiner einheitstrebenden Tendenzen entkleidet wird. Wir wollen keine Revision des Bonner Grundgesetzes durch Verwaltungsorganisationen, durch Personenauswahl, durch Schaffung von Vorgängen! Gefreut haben wir uns im ersten Augenblick, als wir das Wort von der Rechtsgleichheit in den elf deutschen Ländern hörten, bis dann der Gedanke kam, daß die Rechtsgleichheit ja nach verschiedenen Prinzipien geschaffen werden kann: nach dem Prinzip des am meisten fortgeschrittenen Landes und nach dem Prinzip des am meisten zurückgebliebenen Landes. Wir dürfen da wohl die Hoffnung aussprechen, daß wir von Regierungsseite zu diesem Punkt noch einige Erklärungen bekommen werden. Wenn wir die Organisation der Ministerien und Behörden betrachten, so müssen wir sie als das Ergebnis opportunistischer Tagespolitik empfinden, als das Resultat von Bemühungen, die eine Regierung zusammenbringen sollten und es nicht anders konnten als mit diesen Methoden. Dadurch kann die Entwicklung auf diesem Gebiete in falsche Bahnen gelenkt werden, zum Wildwuchs und Mißwuchs der Behörden und der Ministerien. Ich sagte: Wir haben drei Ministerien zuviel. - Wir brauchen keinen besonderen ERP-Minister! Warum denn? Entweder hat er nichts zu tun, oder er hat deswegen zuviel zu tun, weil er der Überminister der Ökonomie ist, von dem alle anderen ökonomischen, finanziellen und sozialen Sparten abhängen. Nach der bisher nicht erfreulichen Verwendung der Marshallplangelder auf allen Gebieten fordern wir die Vorlage eines Planes und eines detaillierten, vom Parlament kontrollierten Nachweises ihrer Verwendung. Aber wir wollen keinen besonderen Minister. Wir wünschen am allerwenigsten, die etwas fadenscheinige Begründung diplomatischer Natur von der Notwendigkeit der Vertretung deutscher Interessen in Paris durch Männer in Kabinettsrang zu hören. Das ist etwas antiquiert. Wir brauchen auch keinen besonderen Minister für den Verkehr mit dem Bundesrat. Was soll denn ein Sonderminister mit dem Bundesrat verkehren? Die Linie der Politik wird vom Bundeskanzler bestimmt, er hat zu ihrer Durchführung seine Beamten. Das ist doch eine Konstruktion zur Anbindung einer Partei als Regierungspartei. Und, meine Damen und Herren: wir brauchen kein besonderes Ostministerium. Wir brauchten auch nicht ein Staatssekretariat beim Bundeskanzler. Wir brauchen eine Abteilung beim Innenministerium, die die konkreten Fragen im Verkehr zwischen der Bundesrepublik und zur Ostzone und außerdem eine Menge von sozialen und verwaltungsmäßigen Problemen auf diesem Gebiet zu behandeln hat. Wir sollten durch eine Abteilung beim Innenministerium manifestieren, daß das Verhältnis der deutschen Bundesrepublik zur sowjetischen Besatzungszone unter deutschem Blickwinkel ein innerdeutsches Problem ist. Es entstehen bestimmt nichtgewollte Gefahren dadurch, daß die Möglichkeit gegeben wird, durch die Errichtung eines besonderen Ministeriums diese Dinge auf der völkerrechtlichen Ebene zu diskutieren. Die Sozialdemokratie hat schon 1945 ihre Stimme für die deutsche Einheit erhoben. Sie war auch die erste deutsche Partei, die - am 31. Mai 1947 - den Versuch bejahte, auf der Grundlage der ökonomischen und administrativen Festigung der Westzonen eine anziehende Kraft auf die Ostzone auszuüben. Aber die Grundlinien dieser Politik können nicht in einem Ostministerium bestimmt werden, sie sind eine gesamtdeutsche Angelegenheit, unter voller Verantwortung des Chefs der Regierung und unter verantwortlicher Mitarbeit aller Parteien dieses Hauses. Um Mißverständnissen, gewollten Mißverständnissen entgegenzutreten, möchte ich sagen: die deutsche Einheit ist nur möglich auf der Grundlage der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit und der gleichen Wertung und Würdigung der Menschenrechte in allen Besatzungszonen. Aber die deutsche Einheit ist nicht möglich in der Form einer russischen Provinz oder eines sowjetischen Satellitenstaates. Wir haben im Verkehr der Parteien miteinander hier schwere Hypotheken in allen Lagern, am stärksten aus der Tatsache heraus, daß die Oberschicht der heute formal noch bestehenden Christlich-Demokratischen Union und der Liberaldemokraten in der Ostzone Regierungspartei ist. Als Regierungsparteien sind sie voll verantwortlich für alles, was in der Ostzone geschieht. Weil wir diese Verzerrung und Verquickung nicht wollen, - - Nun, wir haben Grotewohl hinausgeschmissen, aber ihr seid noch immer dieselben Nuschkoten! Wir müssen bei dieser Politik auch abrücken von einem Rückfall in die missionarische Illusion der Brückentheorie. Das sind Illusionen, die 1933 aus der Hoffnung entstanden, mit einem totalitären Gegner, der das Ganze will, zu einem Kompromiß zu kommen, das einem die eigene politische Existenz und Selbständigkeit läßt. Wir dürfen nicht in eine Anerkennung der Blockpolitik hineinrutschen, die in Wirklichkeit die Herrschaft der stärksten Regierungspartei und der hinter ihr stehenden Besatzungsmacht ist. Wir sollten bei aller Anerkennung der Tatsache, daß man sich nicht immer distanzieren kann von allem und jedem in Dingen des täglichen Lebens, derartige Dinge wie die beiden Godesberger Gespräche unterlassen. Ich verstehe, daß in den eisigen Stürmen des kalten Krieges sich manche Leute in Deutschland den Charakter erkältet haben. Einige dieser Herren sind heute Mitglieder der Bundesregierung. Da sie aber bei der zweiten Godesberger Tagung nicht dabeigewesen sind, dürfen wir die frohe Erwartung aussprechen, daß sie mit einem leichten politischen Schnupfen davongekommen sind. Die neue Linie der Kommunisten aber, für die jeder Anreger solcher Tagungen nur ein Instrument der sowjetischen Staatspolitik ist, ist nicht deswegen interessant, weil sie von den deutschen Kommunisten kommt, sondern deswegen, weil sie nur möglich ist als die Auftragserfüllung sowjetrussischer Auftraggeber. Nun, werte Abgeordnete, haben wir einer solchen Versuchung nicht mit primitiven Anti-Deklamationen entgegenzutreten, sondern mit einer positiven Zeichnung des deutschen Staats- und Soziallebens. Nach der Ansicht der ganzen Sozialdemokratischen Partei ist der Boden, auf dem ein erfolgreiches Bestehen dieser Angriffe am ehesten möglich ist, der Boden des demokratischen Sozialismus. Die Kommunisten versuchen es mit allen möglichen Mitteln. Wir haben dieses Liebeswerben schon mehr als ein Dutzendmal seit Bestehen der ersten deutschen Republik gehört. Auch jetzt macht es wenig Eindruck auf uns, die Pferde der trojanischen Kavallerie galoppieren zu hören. Aber, meine Damen und Herren, seien Sie sich darüber im klaren, daß der Versuch, eine nationale Front zu errichten, auf der Grundlage der geistigen und politischen Verwüstung von fast eineinhalb Jahrzehnten eine gefährlichere Bedrohung ist. Nicht die sozialrevolutionäre, sondern die nationalrevolutionäre Parole des Ostens kann heute eine Gefahr für die deutsche Einheit und für die werdende Bundesrepublik bilden. Wir sind in einer Situation, in der das deutsche Volk bereits wieder soweit ist, auch große soziale Versager als Heizstoff für einen neuen Nationalismus und für einen Neofaschismus zu verwerten. Dieser Gefahr muß entgegengetreten werden. Wenn übrigens die Herren von der Kommunistischen Partei die Freundlichkeit hatten, kürzlich bei der Wahl des Bundespräsidenten ihre Stimme für mich abzugeben, so möchte ich sie auf einen peinlichen Gegensatz aufmerksam machen. Im Osten wird noch strikte die Parole befolgt, und ihre Nichtbefolgung füllt auch heute noch die Konzentrationslager: "Die Schumacherlinge müssen nicht nur moralisch, sondern auch physisch vernichtet werden!" Ich würde die Herren von der Kommunistischen Partei bitten, den arbeitenden Massen in Deutschland einmal diesen Zwiespalt der kommunistischen Natur zu erklären. - Herr Reimann, die politische Erfahrung lehrt: es gibt nicht nur Wölfe im Schafspelz, es gibt auch Schafe im Wolfspelz! Ich würde, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis Herrn Reimann die Entscheidung darüber überlassen. Wenn wir die Frage der deutschen Einheit diskutieren, dann können wir an der Frage Berlin nicht vorübergehen. Berlin wünscht keine Wohltaten und keine Wohltäter-Allüren. Die besondere Finanzhilfe für Berlin ist nicht eine Angelegenheit freiwilliger Zuwendungen, sondern muß zu einem festen Bestandteil im Etat der deutschen Bundesrepublik gemacht werden. Man sollte auch nicht nur dieser Zuwendung von Mitteln der Allgemeinheit zustimmen. Man muß in der Wirtschaftspolitik Berlin durch Vergebung von Krediten und von Aufträgen mehr Hilfe leisten als bisher. Auf diesem Gebiet, wo egoistische Interessen westlicher Produzenten mit Berliner Produktionsinteressen konkurrieren können, haben wir als deutscher Westen für Berlin noch lange nicht das geleistet, was zu leisten unsere Aufgabe ist. Man darf doch nicht vergessen, daß man den Kampf der Berliner nicht für die deutsche Bundesrepublik zu Buche schreiben und dann, wenn eigene kleinere Interessen auf dem Spiel stehen, Berlins Lebensnotwendigkeiten irgend etwas verweigern kann. Berlin hat den Willen, Produktionsstätte und Steuerzahler zu werden. Aber um diesen Willen zu realisieren, brauchen wir eine andere Linie der Wirtschaftspolitik, zum Teil auch die Einlösung von Versprechungen, die in diesem Frühsommer von einem Herrn der Bundesregierung in Berlin gemacht worden sind. Mögen nun viele Leute diesen Zustand der Spaltung Deutschlands für relativ und vorübergehend zufriedenstellend erachten, wir Sozialdemokraten können das nicht. Die Frage der deutschen Einheit kommt hinein in jede andere politische Frage, die Deutschland berührt. Diese Frage kommt nicht mehr von der Tagesordnung. Wir können niemanden als einen Freund des deutschen Volkes empfinden, dessen praktische Politik die deutsche Einheit auf der demokratischen Grundlage verweigert und behindert. Wir können uns auch nicht damit einverstanden erklären, daß die deutsche Einheit zum Agitationsobjekt oder zum Agitationsinstrument einer politischen Richtung gemacht wird. Wir wünschen, daß bei aller Verschiedenheit der Auffassungen sozialer, politischer und kultureller Natur die Angelegenheit der deutschen Einheit überall in Deutschland die Angelegenheit der gleichen Herzenswärme und der gleichen politischen Entschiedenheit wird. Wenn der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht der dankenswerten Arbeit ausländischer und inländischer Organisationen seine Achtung zollte, dann begrüßen wir das. Wir hätten aber gewünscht, daß der Herr Bundeskanzler bei diesem Dank nicht nur so in den Vorstellungen seiner eigenen Welt steckengeblieben wäre. Ich habe dabei an die Arbeiterwohlfahrt und ihre Leistungen denken müssen, ich habe an das grandiose Hilfswerk ausländischer Arbeiterorganisationen denken müssen, und ich habe auch an die Quäker, die Mennoniten und Juden und ihre Hilfsorganisationen denken müssen. Es mag dem Wesen der Politik entsprechen, gegnerische Leistungen relativ gering einzuschätzen, und man kann es nicht übelnehmen, wenn sich die Gegner nicht zu gegenseitigen Propagandisten ihrer Leistungen machen; aber daß man beispielsweise über den Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die deutschen Kriegsgefangenen so einfach hinweggegangen ist, das ist auch nationalpolitisch von uns als nicht erfreulich empfunden worden. Wir Sozialdemokraten danken von ganzem Herzen für die ungeheure Leistung des amerikanischen Volkes und des im amerikanischen Staatswesen organisierten amerikanischen Steuerzahlers an das deutsche Volk. Aber sogar für amerikanische Ohren wäre gestern der Dank eindringlicher gewesen, wenn nicht die Tatsache einfach ignoriert worden wäre, daß auch der britische Steuerzahler und das englische Volk ohne Unterschied der Parteien und unter eigenen Opfern und Entbehrungen Großes für das hilfsbedürftige deutsche Volk geleistet hat. Ich bin zu meinem Bedauern gezwungen festzustellen, daß sehr viele Menschen im Ausland sehr viel mehr Verständnis für die sozialen Nöte der Deutschen gezeigt haben als mancher Deutsche. Es ist schmerzlich, aber es muß gesagt werden, daß die deutsche Sozialdemokratie nun einmal nicht in der Lage ist, einen Dank an die deutschen Hortungsgewinnler auszusprechen. Begrüßenswert war ohne Zweifel das Denken an die Kriegsbeschädigten, aber etwas mehr Konkretisierung wäre wohl nötig gewesen. 1945 ist das als soziale Leistung beachtliche Reichsversorgungsgesetz durch einen Federstrich der Alliierten, die damit wohl praktischen Antimilitarismus zu betreiben vermeinten, außer Kraft gesetzt worden. Es wäre eine gute Sache, wenn die Bundesregierung sich entschließen könnte, ein neues, den geänderten Verhältnissen angepaßtes Reichsversorgungsgesetz für die Schwerbeschädigten des Krieges und für die Kriegerhinterbliebenen anzukündigen. Denn das Problem bei diesen so schmerzlich Geschlagenen ist doch, diese jungen Menschen heranzuholen an das Leben und heranzuholen an den Staat. Dazu gehört freilich eine Gesinnung warmer Kameradschaft, die über die finanz- und gesetzestechnischen Manipulationen hinausgehen muß. Dagegen kann eine Unterlassung nicht unwidersprochen bleiben: die deutschen Kräfte des Widerstandes und die deutschen Opfer des Faschismus gehören doch zu den wenigen außenpolitischen Aktiven des deutschen Volkes und der deutschen Außenpolitik. Von diesen Menschen ist gestern gar kein Wort gesagt worden. Man kann nicht gegen den Nazismus sein, ohne der Opfer des Nazismus zu gedenken. Man kann sich nicht für die Hilfeleistung für einzelne Kategorien erwärmen - sie mögen noch so nötig sein -, wenn man die Opfer des Nazismus in einer selbstgewählten Rangordnung hinter die Rechte anderer zurückstellt. Zu matt und zu schwach ist gewesen, was gestern die Regierungserklärung über die Juden und über die furchtbare Tragödie der Juden im Dritten Reich gesagt hat. Resignierte Feststellungen und der Ton des Bedauerns helfen hier nichts. Es ist nicht nur die Pflicht der internationalen Sozialisten, sondern es ist die Pflicht jedes deutschen Patrioten, das Geschick der deutschen und der europäischen Juden in den Vordergrund zu stellen und die Hilfe zu bieten, die dort notwendig ist. Die Hitlerbarbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen jüdischer Menschen entehrt. An den Folgen dieser Entehrung werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben. Von 600000 deutschen Juden leben heute im Gebiet aller vier Zonen nur 30000, meist ältere und kranke Personen. Auch sie erleben immer wieder beschämende und entwürdigende Vorfälle. In Deutschland sollte keine politische Richtung vergessen, daß jeder Nationalismus antisemitisch wirkt und jeder Antisemitismus nationalistisch wirkt. Das bedeutet nämlich die freiwillige Selbstisolierung Deutschlands in der Welt. Antisemitismus ist das Nichtwissen von den Großbeiträgen der deutschen Juden zur deutschen Wirtschaft, zum deutschen Geistesleben und zur deutschen Kultur und bei der Erkämpfung der deutschen Freiheit und der deutschen Demokratie. Das deutsche Volk stände heute besser da, wenn es diese Kräfte des jüdischen Geistes und der jüdischen Wirtschaftspotenz bei dem Aufbau eines neuen Deutschlands in seinen Reihen haben würde. Nun ist durch den Vorgang der internationalen Abwertung eine neue Erschwerung eingetreten. Man hat den Eindruck, als ob man in Deutschland und vielleicht auch sonst mancherorts nicht ganz begreift, daß sich hier, ein Schicksal zu vollenden beginnt, das seit Jahrzehnten vorbereitet ist, hervorgerufen durch eine andere Verteilung der industriellen Produktion, durch die Tatsache, daß die anderen Kontinente, die früher Rohstoffe und Lebensmittel lieferten, heute selbst industrialisiert sind und damit das Ganze in Europa in eine besondere, geschwächte handelspolitische Situation gebracht haben. Diese überholte politische und ökonomische Struktur Europas ist der Grund der Wehrlosigkeit, bei der die endgültige Heilung auch durch große Dollartransfusionen nicht gebracht werden kann, so notwendig sie sind, um das Leben für die nächste Zeit zu erhalten. Wir sind, nachdem wir jetzt mehrere Jahre im toten Winkel lagen, auch in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft hineingezogen worden, und der erste Ausdruck war das Hineingezogen werden. - Nein, Sie haben meine drei letzten Sätze nicht verstanden. Lernen Sie sie bitte bis morgen auswendig. Dieses Hineingezogenwerden hat sich jetzt zum erstenmal bei der Abwertung geltend gemacht. Nun werden wohl Parallelen notwendig sein, Parallelen über Gebiete, die eben auch der Zwischenruf angedeutet hat und wo Sachkenntnis durchaus heilend wirken könnte. Man braucht bloß die besondere Situation Großbritanniens und seine Möglichkeit, den inneren lohnpolitischen und preispolitischen Konsequenzen der Abwertung zu begegnen, mit der besonderen Situation Deutschlands zu vergleichen. Über den Rahmen der Anteilnahme am Verlust des Krieges hinaus sind breite Massen des deutschen Volkes heute gegenüber diesem Ereignis wehrloser als die arbeitenden Menschen irgendeines anderen europäischen Volkes. Und weswegen sind sie wehrloser? Weil ihre soziale Polsterung durch die Geringfügigkeit der Reallöhne und durch die Einseitigkeit bei der Währungsreform und den hintertriebenen Lastenausgleich sehr viel schlechter ist als bei irgendeinem Volk in Europa. Wenn der Bundeskanzler erklärt, nur eine blühende Wirtschaft könne die Belastung aus dem Lastenausgleich tragen, dann werden wir daraus folgern müssen, daß man in den entsprechenden Kreisen der Regierung den radikalen endgültigen Lastenausgleich nicht gerade mit heißem Herzen will. Das bedeutet die Verschiebung des Lastenausgleichs. Der Lastenausgleich, der notwendig ist, ist doch ein Lastenausgleich, der weitgehend zu einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse und vor allem zu einer Veränderung der Einkommensverhältnisse beiträgt. Ich glaube nicht, daß man mit der heutigen sozialen Graduierung der Bevölkerung einen neuen lebensfähigen demokratischen Staat aufbauen kann. Wir haben jetzt gesehen, daß wir heute schon Reallöhne haben, die unter den anderen Reallöhnen Europas liegen, was man bei den, Realgewinnen der meisten Sachwertbesitzer nicht sagen kann. Wir haben eine weitere Bedrohung der Reallöhne im kommenden Winter durch die Ankündigung der Aufhebung der restlichen Bewirtschaftung, die sich vor allem bei der Bildung der Lebensmittelpreise und der Mieten geltend machen würde. In diese Situation der geschwächten sozialen Position der arbeitenden Menschen in Deutschland tritt nun die Abwertung. Wir sollten soviel Respekt vor den Tatsachen und der Ehrlichkeit haben, um zu sagen, daß eine Reihe von Trostpillen der letzten Tage nicht aus guten Chemikalien gemacht worden ist. Die radikale Trennung des äußeren valutarischen Wertes der D-Mark von dem inneren Kaufkraftwert ist nicht vollständig, sondern nur recht beschränkt möglich; und selbst das auch nur dann, wenn besondere Regierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Das gilt vor allen Dingen für die Preispolitik. Man kann nicht das Volk auffordern zu sparen bei steigenden Preisen. Spartätigkeit ist nur bei festen oder möglichst sogar rückläufigen Preisen möglich. Man kann nicht diese Wirtschaftspolitik betreiben und dann mit der anerkennenswert offenen, aber noch nicht die ganze Schwere aufzeigenden Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers weitergehen, die von "geringfügigen Veränderungen im Lohn- und Preisgebäude" spricht. Geringfügig werden die Veränderungen nicht sein, wenn nicht staatliche Hilfe kommt. Aber die Möglichkeiten der staatlichen Hilfe, besonders in der Form einer positiven Preispolitik, sind ja durch die letzten 15 Monate deutscher Wirtschaftspolitik zerschlagen worden. - Die bessere Position Großbritanniens besteht jetzt eben darin, daß es ein funktionierendes System der Planwirtschaft mit Investitionslenkung hat. Meine Herren, Sie haben anscheinend von Planwirtschaft und Investitionslenkung nur in den Formen wahlpropagandistischer Formulierungen gelesen. - Verzeihung, Sie waren doch zum großen Teil Nazis, und nicht Großbritannien, wenn ich mich recht erinnere. - Ein großer Teil, habe ich gesagt. Ich akzeptiere selbstverständlich die Richtlinien des Herrn Präsidenten. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß in diesem nicht sehr sinnvollen Zusammenhang die Einführung des Begriffs Nazis durch Zwischenrufe von jener Seite des Hauses (nach rechts) geschehen ist. Vielleicht können wir uns besser einigen, wenn sich die Herren einmal dahin konzentrieren würden zu erkennen: erstens, daß wir vor Ihnen keine Angst haben, und zweitens, daß zu einer demokratischen Auseinandersetzung auch eine gewisse Selbstzucht der Zuhörer gehört. - Dann möchte ich feststellen, daß der Verlauf - - Ich möchte feststellen, daß der Verlauf der Sitzung ein reichlich unregulierter gewesen ist und daß es die Herren von der anderen Seite des Hauses für angemessen gehalten haben, permanent durch Randalieren und ungezügelte Zwischenrufe einen geordneten Ablauf der Debatte zu verhindern. Nun kommen wir aber wieder zur Sache! Ich möchte den Herren nicht die Gelegenheit nehmen, auch etwas zu lernen. Gerade der geringe Reallohn hat die deutsche Wirtschaft und die arbeitenden Menschen in Deutschland gegen eine neuerliche Bedrohung besonders empfindlich gemacht. Es wäre gut, wenn sich alle Kreise des Volkes dazu verstehen könnten, die Quote der Abwertung geringer zu nehmen, als etwa vom Gesichtspunkt interessierter Kreise von Importeuren und Exporteuren wünschenswert erscheint. Großbritannien hat jetzt die Chance, die Lohn-Preis-Spirale weitgehend zu vermeiden. Die deutsche Chance ist gerade auf Grund der Frankfurter Wirtschaftspolitik eine sehr viel geringere. Wir haben weiter in der Regierungserklärung die Feststellung vermißt, daß in Deutschland nicht nur binnenwirtschaftlich bestimmte Preise vorhanden sind, sondern auch Preise, welche von Lebensmitteln und Textilrohstoffen herrühren, die von außen eingeführt werden und darum in jedem Fall auf die Lebenshaltung der Konsumenten einwirken. Wir hätten gern gehört, was zur Abwehr der schlimmen Konsequenzen dieser einfuhrabhängigen Preise getan wird. Wir hätten gern vernommen, wie die Dinge bei der Versorgung der minderbemittelten Schichten mit Brot und den sonstigen wichtigsten Lebensmitteln aussehen sollen. Wir hätten gern etwas über ein Subventionsprogramm gerade auf diesen Gebieten gehört. Denn Sie können doch nicht glauben, daß das Schicksal der armen Leute immer tiefer herabgedrückt werden kann und nicht nur der Reallohn, sondern auch die Realrente im Uferlosen verschwindet. Nun, werte Abgeordnete, haben wir ja gewisse Reserven: wir haben gewisse Möglichkeiten, hier einzugreifen. Das ist die aktive Preispolitik. Das ist der Kampf um die Minderung der Besatzungskosten. Das ist ein mehr wirtschaftlicher Einkauf von ausländischen Lebensmitteln. Dann gibt es die Chance einer zusätzlichen Auslandshilfe auf dem Gebiet der Hilfe für die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, nämlich die Wiederaufnahme der eigenen Handelsschiffahrt. Sie dient zur Gewinnung von Devisen und zur Entlastung der Zahlungsbilanz. Wir haben heute 25% der Marshallplangelder für Seetransporte der deutschen Importe aufzuwenden. Ich möchte die Aufmerksamkeit der Bundesregierung darauf lenken, daß jetzt die Gelegenheit ist, die Serien von Fischerei- und Frachtschiffen frei zubekommen, deren Größenklassen in London beschlossen worden sind. Nun, werte Abgeordnete, wir haben heute einen Staat, den wir Sozialdemokraten als einen Staat der überwiegenden sozialen Restauration ansehen. Wir haben einen Staat, von dem wir befürchten, daß seine Führung, unter Ausnutzung gewisser Vorschriften des Grundgesetzes, gar zu leicht in Versuchung kommt, die Volksmassen als Objekte zu behandeln. Demgegenüber haben wir unseren positiven sozialdemokratischen Gestaltungswillen auf allen Gebieten der Politik zu setzen. Zu dem gehören der Lastenausgleich und die Sozialisierung, die auch durch das Wahlergebnis nicht von der Tagesordnung verschwunden ist. Wir hätten gern gewußt, wie dieser einsame, in der Regierungserklärung so fremd dastehende Satz von der Änderung der Besitzverhältnisse in den Schwerindustrien zu verstehen ist. Deutlicher wäre es schon gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler von Eigentumsverhältnissen gesprochen hätte, und am aller deutlichsten, wenn er sich erklärt hätte, wie er das nun eigentlich mit der Änderung der Besitzverhältnisse meint. Vielleicht eine Restauration der Besitzverhältnisse der alten Eigentümer? Oder eine irgendwie abgeblaßte Form einer Ersatzsozialisierung? Oder bestimmte Formen der fremden Kapitalbeteiligung? Ich habe hier eine katholische Tageszeitung der Schweiz, die "Neuen Zürcher Nachrichten". Da spricht der Herr Bundeskanzler über die Ruhrindustrie und über die Notwendigkeit, sie mit Kredithilfe zu modernisieren. Er meint dazu: "Hier eröffnet sich die Möglichkeit einer ausländischen und damit französischen Kapitalbeteiligung," "die nicht nur wirtschaftlichen Nutzen, sondern wichtige Voraussetzungen für erhöhte Sicherheit mit sich bringen wird." Darüber hätten wir gern Genaueres vernommen. Wir hätten auch gern gehört, wie das mit der großen Politik der Wirtschaft ist, nämlich mit der Arbeitsbeschaffung. Die Politik der Vollbeschäftigung ist unlöslich mit jeder positiven Politik für Flüchtlinge und für den Wohnungsbau verbunden. Es ist nicht möglich, diese Dinge aus dem großen ökonomischen Komplex herauszunehmen. Eins ist vom anderen abhängig. Und auch die wichtigsten Probleme sind nur Teiläußerungen des kardinalen Problems der Vollbeschäftigung. Auch da vergleichen Sie bitte einmal Großbritannien und das Deutschland der Frankfurter Wirtschaftspolitik. Man kann nicht bauen und man kann den Flüchtlingen und den Armen nicht helfen ohne Planung und Kontrolle. Wir hätten gern gehört, wie der Ausnützung einer rein privatwirtschaftlich aufgefaßten Konjunktur entgegengetreten werden soll. Nach Kriegs-, Inflations-, Hortungs- und Demontagegewinnlern droht uns jetzt die Gefahr der Wiederaufbaugewinnler. Vielleicht können wir im Verlauf der Aussprache erfahren, welche Maßnahmen die Bundesregierung dagegen anzuwenden bereit ist. Die Sozialisierung ist ja nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein politisches Problem. Geld kann in einer funktionierenden Demokratie, und gerade nach den Erfahrungen Deutschlands, auf dem Boden unseres Landes nicht die entscheidende politische Macht sein. Unser Volk erträgt das nicht, und die Idee und die Praxis europäischer Friedenspolitik ertragen das auch nicht. Man wird also auch mit den geheiligten Prinzipien des Eigentums in Auseinandersetzungen kommen, in einem Ausmaß, das bisher nicht gekannt worden ist. Das wirtschaftspolitische Bild gerade des letzten Dreivierteljahres war durch eine Fülle von falschen Prognosen und Prophezeiungen beherrscht. Man kommt aber in keinem Falle, man möge von einer Auffassung ausgehen wie immer, an der Tatsache vorbei, daß es die Einkommensentwicklung ist, die den Markt bestimmt, und zwar die Einkommensentwicklung der breiten Massen. Bei schrumpfendem Sozialprodukt und zurückgehendem Reallohn bei steigender Arbeitslosigkeit ist die notwendige Konjunkturwende nicht möglich. Wir haben in den letzten Monaten eine große Diskussion über zusätzliche Kredit- und Geldschöpfung gehört. Ich möchte bei dieser Gelegenheit sagen, daß die orthodoxe Geldpolitik der Bank deutscher Länder uns ein Hemmnis für unsere wirtschaftliche Entwicklung zu sein scheint. Nicht nur die personelle Besetzung in der Leitung, sondern auch die Organisation der Bank deutscher Länder erscheint uns nicht geeignet, die deutsche Volkswirtschaft zu fördern. Man sollte sich auch hüten, in Berechnungen für die Zukunft große Beträge freiwilliger Auslandshilfen einzusetzen. Wir haben, glaube ich, gewisse Gründe zu der Befürchtung, daß die ausländischen Beiträge kaum größer sein werden als das eigene deutsche Aufkommen. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist die Erhöhung des Produktionsvolumens, grob geschätzt um zusätzlich ein Drittel der vorhandenen Produktion in Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. Aber man kann ein solches Produktionsvolumen erfolgreich nur erhöhen, wenn die Senkung der Preise parallel geht. Das ist nur durch Konzentration der wirtschaftlichen Kräfte und der Rationalisierungspotenzen auf Massengüter möglich. Wenn nicht die Preise gleichzeitig zurückgehen, würde die Erhöhung des Produktionsvolumens nur zu einer übergroßen Lagerbildung mangels Kaufkraft führen. Zur Landwirtschaft gewandt möchte ich sagen: auch hier fehlt manches. Ich bin nicht ungerecht genug, um die Fülle der Probleme in einer einzigen, knapp anderthalbstündigen Regierungsdeklaration wiedergegeben zusehen. Aber gewisse Linien sollten aufgezeigt werden - und nicht nur die negativen Linien der Aufhebung der Bewirtschaftung auch bei den Gütern, bei denen jetzt bei der Abwertung der Preise festgehalten werden müssen, wenn nicht das ganze Lohngebäude zusammenstürzen soll. Die Landwirtschaft hat noch andere Probleme. Wir haben immer noch nicht eine einheitliche Bodenreform. Die Flurbereinigung ist noch nicht verwirklicht. Wir haben wenig vom Ansiedeln ostvertriebener Bauern auf ausgelaufenen Höfen gesehen. Wir haben auch noch das Problem der Importkasse positiv zu gestalten. Das Problem der Erholung unserer Volkswirtschaft ist die Hebung der Massenkaufkraft durch Preisverbilligung, Lohnerhöhung und völlige Abkehr von der Produktion von Luxusgütern. Aber dazu ist Planung in der Reihenfolge der Wichtigkeit der Güter nötig. Davon soll die Reihenfolge der Kredite abhängen, die zur Verfügung gestellt werden. Die Sicherung der Kreditverwendung erfordert jedoch ihrerseits wieder eine Kontrolle; sonst kommen wir nach den Erfahrungen der letzten 15 Monate nur zur Schaffung zusätzlicher Anlagekapazitäten, die keinen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen. Ich kann wegen der vorgeschrittenen Zeit ein solches Kreditprogramm und eine solche Skala der Reihenfolge im einzelnen nicht entwickeln. Zur Preispolitik muß gesagt werden, daß schlimmer als jedes Preisdiktat irgendeiner noch so verabscheuungswürdig geschilderten Bürokratie sich die Preisdiktatur auf der Grundlage der Verabredung der großen Warenbesitzer und Produzenten ausgewirkt hat. Die heutige Wirtschaftspolitik - so fürchte ich - zielt aber nach unseren Erfahrungen auf Erhaltung der monopolwirtschaftlichen Elemente ab, und ich sehe die Gefahr der Entstehung neuer Monopole und Kartelle. - Das muß ja dann meine Sache sein! Die Belebung des Baumarktes darf auch nicht in erster Linie auf eine Politik des Anreizes des privaten Kapitals umgedrängt werden, wenn die Ergebnisse der Bautätigkeit für die Mietererträglich sein sollen. Der Wohnungsbau, der in erster Linie zu fördern ist, ist der soziale Wohnungsbau. Auch der Bau gewerblicher Einrichtungen hat in den meisten Fällen hinter diesen sozialen Wohnungsbau zurückzutreten. Der gewerbliche Wohnungsbau ist durch die bisherige Steuerpolitik und durch die Möglichkeit der Kompensation in der inflatorischen Periode unserer jüngsten Vergangenheit schon genügend gefördert worden. Nun haben wir die Ankündigung einer solchen Wohnungsbaupolitik, wie sie der Herr Bundeskanzler gestern ausgesprochen hat. Aber er hat, bevor er Regierungschef wurde, noch ein anderes Wort ausgesprochen; er hat nämlich gesagt, daß die Bundesregierung jedem Deutschen ein Heim schaffen werde. Nun, die Frankfurter Wirtschaftspolitik hat ja auch auf diesem Gebiet einen andern Weg eingeschlagen; aber an dieses Wort des jetzigen Herrn Bundeskanzlers soll die Regierung erinnert werden von der Wiege bis zum Grabe. Die Sozialdemokratische Partei hat der deutschen Öffentlichkeit ihren Plan A: Bau von einer Million Wohnungen in vier Jahren, vorgelegt. Und ich möchte bei dieser Gelegenheit noch auf eine Reihe anderer Projekte insbesondere kommunaler Vereinigungen, die durchaus beachtenswert sind, hinweisen. Man kann die Wohnungsfrage nicht von der Frage der Vertriebenen trennen. Das Schicksal der Vertriebenen ist von der Existenz einer Bundesfinanzhoheit abhängig. Die Länder werden dieses Problem nicht lösen können. Ich warne vor einer Politik, bei der von den Gemeinden her die Länder Probleme aufnehmen, sie an den Bund weiterschieben und der Bund sie dann der internationalen Hilfe empfiehlt. Internationale Hilfe ist not; aber es gibt auch eine deutsche Gesamthaftung gegenüber den Vertriebenen. Kein Mensch wird uns einreden können, daß für die Vertriebenen das getan worden ist, was hätte getan werden können. Ich warne auch davor, dieser großen Aufgabe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einsiedlung der Vertriebenen in unser Volksleben mit dem Hinweis auf die Oder-Neiße-Linie auszuweichen. Man kann gegen die Oder-Neiße-Linie nur angehen, wenn man vorher in unserem Land seine soziale und menschliche Pflicht gegenüber den Vertriebenen getan hat. Ein kritisches Wort ist zur Kreditversorgung der Flüchtlingsbetriebe zu sagen. Dem Ausland ist zu sagen, daß die jetzige Behandlung der Demontagefrage die Lösung des Flüchtlingsproblems außerordentlich erschwert. Die Vertriebenen selbst werden freilich nicht als isolierter Faktor ihre Wünsche durchsetzen können. Sie werden Bestandteile der deutschen Parteien und des deutschen politischen Lebens sein müssen. Eine Hinwendung der Vertriebenen zum Rechtsradikalismus würde eine Abwendung von der sozialen Realität zur nationalistischen Illusion bedeuten. Freizügigkeit, Finanzausgleich zwischen den Ländern in der Flüchtlingsfrage und Konzentration aller Kräfte auf ein Problem, das wirklich ein deutsches Nationalproblem ist, das tut in dieser Frage not. Sicher haben Sie von der sozialdemokratischen Entschließung in Dürkheim gehört. Sie haben die 16 Punkte kritisch würdigen können. Sie mögen ihnen im einzelnen zustimmen oder sie ablehnen - sie sind ein immanenter Bestandteil der Tätigkeit der Sozialdemokratie als einer Oppositionspartei im neuen deutschen Staatswesen. Aber nicht geringer ist die wirtschaftspolitische und soziale Bedeutung des gewerkschaftlichen Programms. Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter erschöpft sich für uns nicht in der Mitbestimmung im Betrieb, sondern involviert die Mitbestimmung im deutschen Wirtschaftsleben. Ich glaube, wenn wir einen Beitrag für die deutsche Einheit leisten wollen, dann sollten wir in der Linie der sozialen Geltung und der ökonomischen Mitbestimmung der arbeitenden Massen operieren. Ich kann hier im einzelnen nicht das große sozialpolitische Programm der Gewerkschaften aufzählen, das wohl in allen Punkten von der Sozialdemokratie vertreten wird; aber ich muß Ihnen sagen: wenn Sie für die deutsche Einheit sind, dann machen Sie den deutschen Westen auch sozial und hinsichtlich der Geltung des arbeitenden Menschen zum Magneten! Die soziale Gestaltungskraft schafft die nationale Einheit und das deutsche Staatsvolk, das Vertrauen zu sich und seiner Zukunft in der Zusammenarbeit mit der Welt hat. Der Herr Bundeskanzler hat einen Teil seiner gestrigen Ausführungen dem Verhältnis Deutschlands zu den anderen Mächten gewidmet. Er hat allerdings keine Planung und keine Konzeption einer vorwärtsschreitenden deutschen Außenpolitik entwickelt. Ich möchte gegenüber dem Besatzungsstatut sagen, daß mir sein größter Vorteil der zu sein scheint, daß seine baldige Revision in Aussicht steht. Ich würdige, daß der Ton dieses Dokumentes freundlicher ist als frühere. Ich erkenne durchaus an, daß man mit diesem Besatzungsstatut operieren kann. Schmerzlich empfinden wir aber den Mangel an konkreten Rechtsvorschriften in Rechten und Pflichten sowie die Arbeit mit noch sehr allgemeinen Generalformeln. Wir haben gestern auch nichts über die Ruhrbehörde gehört. Die Sozialdemokratische Partei hat vom ersten Tag an erklärt, daß sie auf eine Umwandlung der Ruhrbehörde tendiert, auf eine Umwandlung, die keine Hindernisse in Sachen der Sozialisierung schafft, und die einen entscheidenden Fehler aus der Welt schafft, nämlich den, daß in diesem Ruhrstatut alle möglichen materiellen Dinge geregelt sind, aber von den Menschen, die die Werte schaffen, nicht die Rede ist. Wir empfinden es als einen schmerzlichen Mangel, daß im Ruhrstatut nicht die Geltung und das Aktionsrecht der Gewerkschaften - sowohl der deutschen wie der internationalen Gewerkschaften - eingebaut ist. Meine Damen und Herren, wir haben auch wenig und nur abschließend ein oder zwei Sätze über die Entwicklung der Kulturpolitik gehört. Wir haben mehr eine Generalformel vernommen. Nichts haben wir von dem erfahren, was nach den Kämpfen in Bonn und nach diesen Formen des Wahlkampfes zu vernehmen wohl durchaus notwendig ist. Es ist nicht möglich, sehr reale und veränderliche Machtansprüche auf der Ebene zeitloser, ewig gültiger Sitten- und Glaubensgesetze durchzufechten. Wir müssen wissen, daß hier reale Wünsche im Geiste gegenseitigen Entgegenkommens ausdiskutiert werden sollen. Aber uns macht besorgt, daß man in letzter Zeit Formulierungen vernimmt, daß die christliche Sozialpolitik nur zur christlichen Kulturpolitik gehöre, also ihr nachsteht. Nein, das soziale Element ist nicht irgendeinem anderen Element des menschlichen Zusammenlebens untergeordnet. Das soziale Element ist das ethische und das humane Element. Auch im Naturrecht ist das Recht auf das nackte Dasein das erste aller Rechte und steht weit vor dem gestern sorgfältig verschwiegenen Elternrecht. Ich glaube, ich kann eine Persönlichkeit zitieren, deren sittliche und religiöse Bedeutung auch vom Streit verschiedener Anschauungen nicht ergriffen werden kann. Ich meine Mahatma Gandhi, der sagte: "Den Armen erscheint Gott in der Gestalt von Brot." Wir akzeptieren keine Regelung, die die Konjunktur der Spaltung des deutschen Staatswesens ausnützt. Wir nehmen nur Regelungen an, die so getroffen sind, als ob sie für das ganze Deutschland getroffen sind, und die die kulturellen und sozialen Wünsche und Überzeugungen des gesamten deutschen Volkes in allen vier Zonen ausdrücken. Wir haben bei der Prüfung des Verhältnisses zu anderen Ländern auch einiges über die Grenzen gehört. Es ist an der Zeit, festzustellen, daß die Sozialdemokratische Partei 1945 längere Zeit die einzige gewesen ist, die sich in Deutschland und vor der Weltöffentlichkeit gegen die Oder-Neiße-Linie gewandt hat. Aber, werte Versammlung, man kann nicht die Grenzprobleme einer Seite einseitig diskutieren. Sogar die scheinbar kleineren Dinge der Grenzkorrekturen im Westen haben ihren bedeutsamen Wert über das Materielle hinaus, auch noch psychologisch-politisch. Ich meine, daß in keinem einzigen Fall durch solche Korrekturen ein so großer Nutzen für einen anderen erzeugt werden kann, daß er den Schaden aufwiegen könnte, der dem deutschen Volke in seinem Vertrauen gegenüber der internationalen Solidarität der Demokratie entsteht. Wir haben das Gefühl: es ist in der Beziehung der europäischen Völker untereinander zuviel von einem alten Anti-Europageist und zu wenig von dem Geist des wirklichen Neubaues "Europa", der allein uns die großen kontinentalökonomischen und politischen Probleme bewältigen lassen kann. Im Vordergrund der Aussprache steht jetzt das Saargebiet. Trotz der Verfassung von 1947, über die zu diskutieren wohl deutsches Interesse ist, über die wir aber jetzt nicht diskutieren wollen, weil wir den Weg zur Verständigung nicht versperren möchten, ist in dieser Saarfrage doch klar: Der Wille des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit geht auf den politischen Verbleib des Saargebiets in Deutschland. - Haben Sie dabei die Auseinandersetzung in München mit anderen Mächten im Auge? - Verzeihen Sie, diese SPS ist eine selbständige Partei, die nicht zur deutschen Sozialdemokratie gehört. Sie haben ganz vergessen, daß die Saarregierung in erster Linie von einer Partei gebildet wird, die Ihnen näher steht als mir. Nun, werte Abgeordnete, ich halte es nicht für angebracht, mit dieser Methodik und auf dieser Ebene eine nationale Frage zu erörtern, bei der ich zwar nicht genau weiß, ob wir uns in vollem Umfang einig werden, aber bei der doch eine Einigung im Bereich des Möglichen und Erstrebbaren liegt. Die Schaffung eines selbständigen Saarstaates und seine Vertretung im Europarat scheint mir ein bedrohliches Hemmnis für die Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit zu sein. Wenn wir nämlich ein selbständiges Saargebiet im Europarat tolerieren und - wie ich dies aus den Worten des Herrn Bundeskanzlers herauszuhören vermeine - erst in Straßburg den Ausgleich dieser Frage diskutieren, haben wir ja bereits eine vollendete Tatsache akzeptiert, die sehr schwer aus der Welt zu schaffen ist. Grundsätzlich sollte die deutsche Außenpolitik in allen diesen Fragen von der These ausgehen, daß man wegen der Eiligkeit eines Termins niemals materielle Dinge preisgeben sollte. Diese Eiligkeit ist ja wahrscheinlich auch eine fiktive. Die Sozialdemokratie ist wegen ihrer Internationalität seit mehr als 80 Jahren angegriffen und meist sehr zu Unrecht, angegriffen worden. Die Sozialdemokratie hat in einer Zeit, als keine andere Partei in Deutschland das tat, nämlich in ihrem Heidelberger Programm von 1925, die Vereinigten Staaten von Europa zu einem entscheidenden Bestandteil ihrer Außenpolitik gemacht. Sie werden wohl von uns annehmen, daß wir Europa wollen. Sie werden auch gerade aus meinem Ökonomischen Exposé dasselbe entnommen haben. Aber, werte Abgeordnete, eine deutsch-französische Verständigung, die so lebensnotwendig ist, kann doch nicht durch pathetische Schwüre geschaffen werden, sondern nur durch sachlichen demokratischen Austrag in der Diskussion der Probleme. Blankowechsel sollten wir auch hier nicht geben. Das würde nur hegemoniale Tendenzen in Europa fördern und den guten Willen der breiten Massen des deutschen Volkes zu internationaler Kooperation schwächen. Europa heißt Gleichberechtigung, meine Damen und Herren! Man sollte nichts akzeptieren, was die Vorwegnahme von Bestimmungen des Friedensvertrags bedeutet. Wir schwächen damit nicht nur unverantwortlich unsere Position im Westen; wir schwächen auch unsere Position im Osten. Jemand, der hier auf dem Gebiet der Kompromisse in die Loslösung des Saargebietes aus dem politischen Gebiet Deutschlands hereinrutscht, verliert den festen Boden des politischen Kampfes gegen die Oder-Neiße-Linie. Dabei sollten wir auch die Diskussion über die Demontage wohl entschieden führen, sollten aber eine gewisse Bereinigung der Argumente auf allen Seiten vornehmen. Man sagt uns, die Welt sei nach den Erfahrungen vieler Jahrzehnte deutscher Geschichte um ihre Sicherheit besorgt. Das mag sein. Damit ist aber noch nicht der ganze Komplex illustriert. Wenn man um die Sicherheit besorgt ist, dann soll man auch offen sagen: um die Sicherheit vor wem! Wir wollen im deutschen Volk politisch und psychologisch Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der nächsten Anrainer erwecken. Umgekehrt müßte man aber einsehen, daß gewisse Methoden der Auseinandersetzung mit uns auch nicht die richtigen sind. Wenn wir einen entscheidend wichtigen Teil unserer wirtschaftlichen Substanz mehr als vier Jahre nach Einstellung der Kriegshandlungen verteidigen, dann sind wir deswegen doch nicht Nationalisten. Man sollte es auch nicht auf die Ebene zu schieben versuchen, als ob die Deutschen bei dieser Verteidigung den Versuch einer Kraftprobe mit den Alliierten machen würden. Das ist eine Vergiftung der Situation. Man sollte realistisch betrachten, um welche Kapazitäten die Deutschen kämpfen. Es sind doch nicht die Kapazitäten Hitler-Deutschlands, um die gerungen wird. Genau die 141/2 Millionen Produktionskapazität in der Stahlindustrie, um die wir uns heute wehren, hatte Westdeutschland - also die drei westlichen Zonen - in der Periode des sozialdemokratischen Kabinetts Hermann Müller. Diese Diskussionsgrundlagen sollte man anerkennen. Man sollte auch akzeptieren, daß wir zu der damaligen Bevölkerung 71/2 Millionen Flüchtlinge zusätzlich haben. Man sollte einsehen, daß die Größe des Wiederaufbaus, vor allem im Wohnungsbau, auch einen außerordentlich starken Stahlbedarf bedeutet. Schließlich sollte man uns im europäischen Rahmen die Möglichkeit des Exports von Stahl und Stahlwaren geben; denn wir müssen schon aus der Bedrängnis unserer Lebensmittellage heraus exportieren. Mit der Politik, wie sie hier Teile des Auslands uns gegenüber einschlagen, kombiniert mit der Frankfurter Wirtschaftspolitik, werden wir bei Ablauf des Jahres 1952 ohne amerikanische Hilfe nicht in der Lage sein, die deutsche Wirtschaft erfolgreich zu gestalten. Wir haben schon 1945 offen über diese unsere Haltung gesprochen. Wir haben dieselbe Offenheit jetzt gezeigt, und die Welt konnte darum nicht überrascht werden. Wir hoffen auf die Erreichung eines möglichen Kompromisses in allen diesen Fragen, der allen Beteiligten Genüge tut. Wir müssen aber offen sagen: wir können und wir wollen aus ökonomischen und politischen Gründen nicht auf Unverzichtbares verzichten. Nun, verehrte Abgeordnete: Das ist in kurzen Zügen gegenüber dem Programm der Regierung das Programm der Opposition. Nicht überall ist die glatte Antithetik gegeben, sehr oft haben wir Forderungen, die scheinbar im bisherigen Programm der Regierung noch keine Rolle spielen. Wir sind nicht die bloße Negationserscheinung dieser Regierung. Wir sind etwas Selbständiges. So wollen wir unsere Opposition führen, mit dem Ziel, für die Politik der sozialistischen Demokratie einmal in diesem Hause die parlamentarische Mehrheit zu finden.