Molotow 10.07.1946 Erklärung des sowjetischen Außenministers auf der Außenministerkonferenz zur Deutschlandfrage Paris - im Wortlaut Nun ist die Zeit gekommen, wo wir die Frage des Schicksals Deutschlands und des Friedensvertrags mit Deutschland erörtern müssen. Die Sowjetregierung war stets der Meinung, daß der Wunsch nach Rache kein guter Ratgeber in solchen Dingen ist. Es wäre auch falsch, Hitlerdeutschland mit dem deutschen Volk gleichzusetzen, obwohl das deutsche Volk die Verantwortung für die Aggression Deutschlands und für deren außerordentlich schwere Folgen nicht von sich weisen kann. Das Sowjetvolk hat die durch die Invasion der deutschen Armeen in die Sowjetunion verursachten unerhört schweren Leiden der Okkupation durchgemacht. Unsere Verluste sind groß und nicht abschätzbar. Auch die anderen Völker Europas, und nicht allein Europas, werden noch lange die schweren Verluste und Entbehrungen zu spüren haben, die der von Deutschland uns aufgezwungene Krieg hervorrief. Deshalb ist es verständlich, daß die Frage des Schicksals Deutschlands heute nicht nur das deutsche Volk beunruhigt, was durchaus natürlich ist, sondern auch die anderen Völker, die bestrebt sind, sich für die Zukunft zu sichern und keine neue Aggression von seiten Deutschlands zuzulassen. Dabei muß man stets eingedenk sein, daß Deutschland dank der von ihm erreichten industriellen Macht ein wichtiges Kettenglied im Gesamtsystem der Weltwirtschaft darstellt, andrerseits darf man aber auch nicht vergessen, daß diese industrielle Macht schon mehrmals zur Rüstungsbasis des aggressiven Deutschlands wurde. Aus diesen Prämissen sind die Schlußfolgerungen abzuleiten. Ich gehe davon aus, daß es vom Standpunkt der Interessen der Weltwirtschaft und der Ruhe in Europa falsch wäre, auf die Vernichtung Deutschlands als Staat oder auf seine Umwandlung in ein Agrarland mit Vernichtung seiner wichtigsten Industriezentren Kurs zu nehmen. Eine solche Zielsetzung würde zur Untergrabung der Wirtschaft Europas, zur Zerrüttung der Weltwirtschaft und zu einer chronischen politischen Krise in Deutschland führen, deren Folgen eine Gefahr für den Frieden und die Ruhe heraufbeschwören würden. Ich glaube, selbst wenn wir einen solchen Standpunkt einnehmen, würde uns die historische Entwicklung späterhin vor die Notwendigkeit stellen, diese Zielsetzung als irreal und unhaltbar aufzugeben. Deshalb bin ich der Meinung, daß die Aufgabe nicht darin besteht, Deutschland zu vernichten, sondern darin, es zu einem demokratischen und friedliebenden Staat umzugestalten, der neben der Landwirtschaft seine Industrie und seinen Außenhandel besitzt, dem jedoch die wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten genommen sind, sich neuerdings als aggressive Kraft zu erheben. Bereits in den Kriegsjahren erklärten die Verbündeten, sie hätten nicht die Absicht, das deutsche Volk zu vernichten. Selbst damals, als Hitler in seinem Größenwahn offen verkündete, er wolle Rußland vernichten, machte sich J. W. Stalin, das Haupt der Sowjetregierung, über diese dumme Prahlerei lustig und sagte: "... es ist unmöglich, Deutschland zu vernichten, so wie es unmöglich ist, Rußland zu vernichten. Aber den Hitlerstaat vernichten - das kann man und muß man." Deutschland hat schon seit langem einen wichtigen Platz im System der Weltwirtschaft eingenommen. Bleibt Deutschland ein einheitlicher Staat, so wird es auch weiterhin ein wichtiger Faktor des Welthandels sein, was auch den Interessen der anderen Völker entspricht. Nähme man andrerseits Kurs auf die Vernichtung Deutschlands als Staat oder auf seine Umwandlung in ein Agrarland und auf die Vernichtung seiner wichtigsten Industriezentren, so würde das dahin führen, daß Deutschland zu einer Brutstätte gefährlicher Revanchestimmungen wird, würde das der deutschen Reaktion in die Hand arbeiten und Europa der Ruhe und des stabilen Friedens berauben. Man soll nicht zurück-, sondern vorwärts blicken und sich darum sorgen, was zu tun ist, damit Deutschland ein demokratischer und friedliebender Staat mit entwickelter Landwirtschaft, Industrie und Außenhandel werde, dem jedoch die Möglichkeit entzogen ist, wieder als aggressive Kraft aufzuerstehen. Der Sieg über Deutschland gibt uns mächtige Mittel zur Erreichung dieses Zieles in die Hand. Unsere Pflicht ist es, von diesen Mitteln in vollem Umfang Gebrauch zu machen. In der letzten Zeit ist es Mode geworden, von einer Zerstückelung Deutschlands in einzelne "autonome" Staaten zu sprechen, von einer Föderalisierung Deutschlands, von der Lostrennung des Ruhrgebiets von Deutschland. Alle derartigen Vorschläge entspringen der gleichen Zielsetzung, Deutschland zu vernichten und es in ein Agrarland zu verwandeln, denn es leuchtet unschwer ein, daß Deutschland ohne das Ruhrgebiet nicht als selbständiger und lebensfähiger Staat existieren kann. Ich habe aber schon gesagt, daß die Vernichtung Deutschlands nicht unsere Aufgabe sein darf, wenn uns die Interessen des Friedens und der Ruhe teuer sind. Sollte sich allerdings das deutsche Volk im Ergebnis eines Volksentscheids in ganz Deutschland für die Umgestaltung Deutschlands in einen Föderativstaat oder im Ergebnis eines Volksentscheids in einzelnen ehemaligen deutschen Staaten für die Lostrennung von Deutschland aussprechen, so könnten unsrerseits selbstverständlich keinerlei Einwände erhoben werden. Augenblicklich wird seitens der in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands befindlichen Behörden der Verbündeten nicht selten der Gedanke eines föderativen Aufbaus Deutschlands unterstützt. Doch die Position der verbündeten Behörden ist eins, der wirkliche Wunsch des deutschen Volkes oder zumindest der Wunsch der Bevölkerung des einen oder anderen Teils des deutschen Territoriums dagegen etwas anderes. Wir Sowjetmenschen halten es für falsch, dem deutschen Volk die eine oder andere Lösung dieser Frage aufzuzwingen. Ein solches Aufzwingen würde sowieso zu nichts Gutem führen, allein schon deswegen, weil es nicht dauerhaft sein wird. Dürfen wir den berechtigten Bestrebungen des deutschen Volkes nach der Wiedergeburt seines Staates auf den Grundlagen der Demokratie nicht im Wege stehen, so haben wir andrerseits die Pflicht, die Wiederherstellung Deutschlands als aggressive Kraft zu unterbinden. Es wäre ein Verbrechen, wollten wir diese heilige Pflicht den Völkern der ganzen Welt gegenüber vergessen. Um die Welt vor einer eventuellen Aggression seitens Deutschlands zu sichern, ist es unerläßlich, seine vollständige militärische und wirtschaftliche Entwaffnung zu verwirklichen, wobei in bezug auf das Ruhrgebiet eine interalliierte Vierstaatenkontrolle errichtet werden muß, deren Aufgabe es ist, die Entstehung einer Rüstungsindustrie in Deutschland zu verhindern. Das Programm der vollständigen militärischen und wirtschaftlichen Entwaffnung Deutschlands ist nichts Neues. In den Beschlüssen der Berliner Konferenz wird eingehend davon gesprochen. Dabei ist es natürlich, daß sich das Ruhrgebiet als Hauptbasis der deutschen Rüstungsindustrie unter der wachsamen Kontrolle der verbündeten Hauptmächte befinden muß. Der Aufgabe der vollständigen militärischen und wirtschaftlichen Entwaffnung Deutschlands hat auch der Reparationsplan zu dienen. Die Tatsache, daß bisher kein Reparationsplan aufgestellt wurde, ungeachtet der wiederholten Forderungen der Sowjetregierung, den einschlägigen Beschluß der Berliner Konferenz auszuführen, sowie der Umstand, daß bis auf den heutigen Tag das Ruhrgebiet keiner interalliierten Kontrolle unterstellt wurde, worauf die Sowjetregierung bereits vor einem Jahr bestand, sind bedrohliche Anzeichen vom Standpunkt der Gewährleistung der Interessen des künftigen Friedens und der Sicherheit der Völker. Wir sind der Ansicht, daß die Erfüllung dieser Aufgaben nicht länger aufgeschoben werden darf, wenn wir nicht riskieren wollen, daß der Beschluß über die Durchführung der vollständigen militärischen und wirtschaftlichen Entwaffnung Deutschlands zunichte gemacht wird. Das ist die Meinung der Sowjetregierung über die Rüstungsindustrie und das Kriegspotential Deutschlands. Diese Erwägungen können die Entwicklung der Friedensindustrie Deutschlands nicht behindern. Damit die Entwicklung der Friedensindustrie in Deutschland auch anderen Völkern zugute komme, die deutsche Kohle, Metall und Fertigwaren benötigen, muß man Deutschland das Aus- und Einfuhrrecht zugestehen, und im Fall der Realisierung dieses Außenhandelsrechts dürfen wir der gesteigerten Erzeugung von Stahl, Kohle und Waren der Friedensindustrie in Deutschland keine Hindernisse in den Weg legen, natürlich bis zu einer gewissen Grenze und bei unbedingter Errichtung einer interalliierten Kontrolle über die deutsche und insbesondere über die Ruhrindustrie. Bekanntlich hat der Kontrollrat in Deutschland unlängst festgelegt, welches Entwicklungsniveau die deutsche Industrie in den nächsten Jahren erreichen soll. Vorläufig hat Deutschland dieses Niveau bei weitem nicht erreicht. Nichtsdestoweniger muß man schon heute zugeben, daß der deutschen Friedensindustrie die Möglichkeit einer breiteren Entwicklung geboten werden muß, wenn diese industrielle Entwicklung tatsächlich der Deckung des Friedensbedarfs des deutschen Volkes und den Bedürfnissen der Entwicklung des Handels mit anderen Ländern dient. All das erfordert, daß eine wirksame interalliierte Kontrolle über die deutsche Industrie und insbesondere über die Ruhrindustrie errichtet wird, für die nicht irgendein einzelnes der verbündeten Länder die Verantwortung tragen kann. Die Annahme eines entsprechenden Programms für die Entwicklung der deutschen Friedensindustrie, das auch die Entwicklung des deutschen Außenhandels vorsieht, sowie die Errichtung einer interalliierten Kontrolle über die gesamte deutsche Industrie werden der Notwendigkeit gerecht, die Beschlüsse der Berliner Konferenz, denen zufolge Deutschland als ein einheitliches wirtschaftliches Ganzes zu behandeln ist, in die Tat umzusetzen. Ich habe nur noch auf die Frage des Friedensvertrags mit Deutschland einzugehen. Wir sind natürlich im Prinzip für den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland, bevor aber ein solcher Vertrag abgeschlossen wird, muß eine einheitliche deutsche Regierung geschaffen werden, die demokratisch genug ist, um alle Überreste des Faschismus in Deutschland auszurotten, und verantwortlich genug ist, um allen ihren Verpflichtungen den Verbündeten gegenüber nachzukommen, darunter besonders auch den Reparationslieferungen an die Verbündeten. Es versteht sich von selbst, daß wir gegen die Bildung einer deutschen Zentralverwaltung als Übergangsmaßnahme zur Bildung einer künftigen deutschen Regierung nichts einzuwenden haben. Aus dem Gesagten geht hervor, daß es notwendig ist, bevor man vom Friedensvertrag mit Deutschland spricht, die Frage der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zu lösen. Indessen ist bisher noch keinerlei deutsche Zentralverwaltung geschaffen worden, obwohl die Sowjetregierung diese Frage schon vor einem Jahr auf der Berliner Konferenz angeschnitten hat. Wurde diese Frage damals auch zurückgestellt, so gewinnt sie jetzt als erster Schritt zur Bildung einer künftigen Regierung Deutschlands besondere Aktualität. Doch selbst dann, wenn eine deutsche Regierung gebildet wird, dürfte eine Reihe von Jahren erforderlich sein, um zu prüfen, was die neue Regierung Deutschlands vorstellt und ob sie vertrauenswürdig ist. Die künftige deutsche Regierung muß eine demokratische Regierung sein, die imstande ist, die Überreste des Faschismus in Deutschland auszurotten, und gleichzeitig imstande ist, den Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den Verbündeten nachzukommen, wobei sie in erster Linie die Reparationslieferungen an die Verbündeten sicherzustellen hat. Erst wenn man sich vergewissert hat, daß die neue deutsche Regierung fähig ist, diese Aufgaben zu bewältigen und sie in der Tat ehrlich erfüllt, erst dann wird man ernsthaft vom Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland sprechen können. Ohne dem kann Deutschland keinen Friedensvertrag beanspruchen, noch können die verbündeten Mächte sagen, sie hätten ihre Verpflichtungen gegenüber den Völkern erfüllt, die fordern, daß ein dauerhafter Frieden und Sicherheit gewährleistet werden. Das ist der Standpunkt der Sowjetunion in den grundlegenden Fragen Deutschlands und in der Frage des Friedensvertrags mit Deutschland.